Migrationswelle - Brüssel gegen den Kolchosenvorsteher

Alexander Lukaschenko schleust zu Tausenden Migranten über die belarussisch-polnische Grenze: Er will so gegenüber der EU Verhandlungsmasse aufbauen, um sich aus der politischen Isolation zu befreien. Die EU darf aber nicht erpressbar sein.

Alexander Lukaschenko, seit fast drei Jahrzehnten Diktator von Belarus, bei einer Kabinettssitzung im Oktober / dpa
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Man muss sich keiner Illusion mehr hingeben: Alexander Lukaschenko, einst Kolchosenchef, nun 67 Jahre alt und seit bald drei Jahrzehnten Diktator von Belarus, hat den Zustand eines wandelnden Pulverfasses erreicht. Lange Jahre hielt er sich innenpolitisch mit einer Mischung aus Repression und wirtschaftlicher Stabilität und außenpolitisch mit geschicktem Lavieren zwischen Moskau und Brüssel an der Macht.

Seit sein eigenes Volk ihm im Sommer 2020 abgeschworen hat und er die Proteste von Hunderttausenden nur noch mit blanker Gewalt niederschlagen konnte, steht er mit dem Rücken zur Wand. Die EU-Länder verweigern ihm kollektiv die Anerkennung als Präsident. Das Lavieren hat ein Ende: Wirtschaftlich und politisch ist er nun abhängig von Moskau wie nie.

Staatlich orchestrierte Schleusungen

Seit Monaten strömen nun über Minsk Abertausende Menschen aus der Türkei, dem Irak, aus Syrien und Afghanistan an die Grenze von Belarus mit Lettland, Litauen und Polen. „Strömen“ ist dabei der falsche Ausdruck: Vor allem junge Männer bezahlen Tausende Dollar, kommen mit Charter-Flügen aus Damaskus, Dubai und Istanbul nach Minsk, übernachten auf den Gängen des Flughafens und werden dann von Vertretern des Regimes ins Grenzgebiet gefahren.

Es ist ein zynisches, menschenverachtendes Spiel des Diktators: Lukaschenko will der Europäischen Union eine neue Flüchtlingskrise aufzwingen, weil er weiß, dass es kein Thema gibt, das die Gesellschaften der EU-Länder und die EU-Länder untereinander mehr spaltet als dieses. In Interviews gibt er sich als Menschenfreund und behauptet, die EU lasse nun sogar Leopard-Panzer gegen die Flüchtlinge auffahren. Was für ein Zynismus: Ein Diktator, der seine eigenen Staatsbürger kidnappt und sie in Gefängnissen verprügeln lässt, beklagt die mangelnde Menschlichkeit der Europäer.

Moralisches Dilemma

Man kann sich diese aktuelle ARD-Reportage anschauen oder die Berichte des oppositionellen belarussischen Kanals NEXTA verfolgen, um sich einen Eindruck davon zu verschaffen, wie brutal die Bedingungen an der Grenze sind: Die belarussischen Grenzer treiben die Menschen in Richtung Polen oder Litauen, in unwegsames, von Wäldern und Sümpfen geprägtes Gelände, in dem die Temperaturen ab dieser Woche in Richtung Gefrierpunkt gehen. In vielen Fällen schicken die Grenzer die Menschen zurück, bevor diese ein Asylgesuch stellen können: Am Mittwoch vergangener Woche verhinderten polnische und litauische Grenzer 537 beziehungsweise 113 illegale Grenzübertritte. Über die vergangenen Monate starben im Grenzgebiet sieben Menschen.

Es ist ein moralisches Dilemma: Die EU kann diesen Menschen nicht beim Sterben in den Sümpfen und Wäldern zuschauen, und mit jedem Tag, jedem Minusgrad, werden die Bedingungen dort schlechter. Gleichzeitig kann sie sich nicht von Lukaschenko vorführen lassen. Ein anhaltender, quasi staatlich orchestrierter Flüchtlingsstrom würde die EU destabilisieren – und es wäre eine Aufforderung an andere um die EU gelegene Autokratien, es Lukaschenko gleichzutun. Der baut hier gleich einem Schutzgelderpresser eine Bedrohungskulisse auf und bietet der EU hinter vorgehaltener Hand an: Ich schütze Dich vor illegaler Einwanderung, wenn …

Lukaschenko baut Verhandlungsmasse auf

Ja, wenn was? Offenbar geht es Lukaschenko darum, sich aus der völligen politischen Isolation zu befreien, in die er sich selbst hineinmanövriert hat. Durch den Missbrauch der Migranten baut er das auf, was er seit vergangenem Jahr nicht mehr zu bieten hatte: Verhandlungsmasse.

Es gibt positive Entwicklungen: Auf Druck von Deutschland scheinen der Irak und Jordanien die Charter-Flüge in Richtung Minsk tatsächlich unterbunden zu haben. Das ist aber nicht ausreichend: Wer den Flugverkehr am Flughafen Minsk verfolgt, findet noch immer täglich mehrere Flüge aus Istanbul, Damaskus und Dubai, offenbar bislang die Hauptrouten der Migranten.

Zäune und „Pushbacks“

Litauen hat mit dem Bau eines vier Meter hohen Zauns an seiner Grenze begonnen, auch Lettland und Polen bauen einen Zaun. Das kann allerdings dauern, und ob dieser Zaun wirklich an jeder Stelle realisierbar ist, sei dahingestellt. Polen hat nun Vorschriften erlassen, die de facto „Pushbacks“ legalisieren: Menschen können sofort wieder abgeschoben werden, ohne die Möglichkeit zu haben, ein Asylgesuch zu stellen.

Die EU muss diesem Schauspiel, das mit Menschenleben spielt, ein Ende bereiten. Ansonsten dürfen sich die EU-Bürger zu Recht die Frage stellen: Wozu gibt es dieses Bündnis aus 27 Staaten, wenn es sich nicht einmal eines außer Rand und Band geratenen ehemaligen Kolchosenvorstehers erwehren kann?

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