Chance für Merz? - Destruktives Misstrauensvotum gegen Scholz

Die Chancen von Friedrich Merz, Bundeskanzler Olaf Scholz per Misstrauensvotum oder Vertrauensfrage zu stürzen, stehen derzeit schlecht. Das liegt auch am Zustand der Union.

Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz im April auf Gut Kaltenbrunn am Tegernsee / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Manche Kommentatoren, die denselben Mann noch vor wenigen Wochen feierten als coolen Manager der Macht, sehen Olaf Scholz und damit Deutschland vor einer Regierungskrise. Sollte Oppositionsführer Friedrich Merz den Bundeskanzler tatsächlich mit einem Antrag zu Waffenlieferungen an die Ukraine zu einem Offenbarungseid treiben, weil Scholz dafür keine eigene Mehrheit zusammenbekommt, dann sei er, so die Überlegung, nach nicht einmal einem halben Jahr als Regierungschef am Ende und müsse sein Amt zur Verfügung stellen, mindestens aber die Vertrauensfrage stellen.

Denkbar ist eine solche – weitere – Niederlage durchaus; die Pleite des Kanzlers in Sachen Impfpflicht steckt ja allen Beteiligten noch in den Knochen. Nur genügt es nicht, einen Kanzler abzusägen, wenn keine Alternative bereit steht. Das ist die im Grundgesetz verankerte Lehre aus dem Scheitern der Weimarer Republik – und nicht zuletzt der Oppositionsführer tut gut daran, sie stets im Hinterkopf parat zu haben und zu beherzigen. Wenn er das tut, dann schrumpfen seine Optionen.

Union ist noch nicht bereit

Unterstellt also, Merz hätte tatsächlich vielleicht schon am Donnerstag oder Freitag der kommenden Woche die Gelegenheit, Scholz im Bundestag bloßzustellen: Was aber dann? Brächte die Union ihrerseits in geheimer Abstimmung eine absolute Mehrheit zustande, um Scholz im Wege eines konstruktiven Misstrauensvotums zu stürzen und Merz an seine Stelle zu setzen?

Das ist – Stand jetzt – nicht einmal mit viel Phantasie erkennbar. Es fehlen für eine solche Entwicklung jedenfalls derzeit gleich eine ganze Reihe von Voraussetzungen. Die Union ist mit ihrer Rekonvaleszenz nach ihrer erschütternd deutlichen Wahlniederlage noch nicht fertig und die Ampel-Koalition noch nicht fertig genug mit sich und der Welt.

Dazu sind bei Roten, Grünen und Liberalen das Gefühl und der Genuss der soeben erst verliehenen Macht noch viel zu süß und viel zu frisch, als dass sie diese aufs Spiel setzen würden, wofür gar nicht der Bundeskanzler, sondern der Bundesfinanzminister das anschaulichste Beispiel liefert. Wie gut oder wie schlecht ein Bundeskanzler regiert, ist dem Grundgesetz grundsätzlich egal.

Das Urteil darüber überlässt es den dafür gewählten Akteuren, in erster Linie den Mitgliedern des Deutschen Bundestages, und zwar ungeachtet aller vorherigen Äußerungen, mögen sie auch noch so kritisch ausgefallen sein, per Stimmkarte. Den Vätern und Müttern der Verfassung war wichtig, dass keine regierungslose Zeit entsteht.

Lehren aus Weimar

Wer auch immer glaubt, es besser zu können als der gewählte Kanzler und ihn deshalb stürzen zu dürfen, von dem verlangt nach Stellung eines entsprechenden Antrages Artikel 67 an Ort und Stelle – hic Rhodus, hic salta – den einzig gültigen, den ultimativen Beweis: Das Vorhandensein einer eigenen absoluten Mehrheit, und zwar in geheimer Abstimmung, um Gruppenzwang so gut wie möglich auszuschließen. Deshalb heißt es im Text: "Der Bundestag kann dem Bundeskanzler das Misstrauen nur dadurch aussprechen, daß er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen. Der Bundespräsident muss dem Ersuchen entsprechen und den Gewählten ernennen."

Negative Mehrheiten, wie sie noch die Weimarer Verfassung von 1919 ermöglichte, nach der der Reichstag fast nach Belieben – so ihr Artikel 54 – den Reichskanzler oder einzelne Reichsminister per Mißtrauensvotum abschiessen konnte, ohne zugleich eine Alternative anbieten zu müssen, will das Grundgesetz als eine Lehre aus Weimar unbedingt verhindern, was bisher auch im Großen und Ganzen funktioniert hat.

Anders als zwischen 1919 und 1933 sollen Kräfte, die zwar zahlenmässig die Mehrheit stellen, aber keinen gemeinsamen Regierungs- und Gestaltungswillen aufweisen können, was damals vor allem von extrem linken und extrem rechten Kräften genutzt wurde, in der Bundesrepublik nicht die Chance erhalten, ihre Ablehnung und Verachtung der parlamentarischen Demokratie auszuleben, zumal sich die Reaktion der Reichsregierung auf solche Obstruktion, Auflösung des Reichstages und Regieren mit Unterstützung des Reichspräsidenten per Notverordnung, noch viel weniger bewährt hat und schließlich 1933 in eine verheerende Diktatur führte mit den bekannten Folgen.

Kann es Merz?

Schon angesichts dieses geschichtlichen Hintergrunds wird sich jeder Oppositionsführer sehr genau überlegen, was er mit einer erneuten Dokumentation einer eklatanten Scholz-Schwäche – dieses Mal allerdings, anders als in der ohnehin einstweilen schon aus wissenschaftlichen Gründen irrelevanten Impf-Frage – bei einem existentiell wichtigen Thema, bewirken kann, liefe er doch Gefahr, dass darauf ebenfalls vor aller Augen die Dokumentation einer nicht weniger peinlichen Merz-Schwäche folgte, sogar selbst dann, wenn Phase I dieses Plans klappen würde, das Ergebnis also hieße: Scholz kann nicht eine Mehrheit des Bundestages hinter sich vereinigen.

Ergebnis von Phase II würde nach heutigem Stand lauten: Merz kann es aber auch nicht. Zwei Impotente, einer als SPD-Kanzler, der andere als CDU-Gegenspieler, braucht in dieser Lage aber kein Mensch. Hinzu kommt: Scholz würde im Falle einer Abstimmung eine einfache Mehrheit genügen, die noch dazu namentlich stattfände, also nicht geheim, sondern nachlesbar für jedes einzelne Votum, was Dissidenz deutlich schwieriger machte für jeden Abgeordneten, Merz aber bräuchte eine absolute in geheimer Abstimmung.

Gravierender noch aus Sicht der Union als dieses wahltechnische Problem sind die personellen und die inhaltlichen Hindernisse: Christian Lindner ist bisher weder als Finanzminister noch als FDP-Vorsitzender nennenswert auf Distanz zu Olaf Scholz gegangen. Eher ist das Gegenteil der Fall. Er verließ beim G20-Treffen nicht einmal den Raum, als der russische Vertreter das Wort ergriff. Die FDP-Abgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann wird sicherlich viele Sympathien in ihrer Fraktion genießen. Dass diese deswegen aber nach nicht einmal einem halben Jahr in ausreichender Zahl den Koalitionsbruch mittragen, gar mitinitiieren würde, ist nicht erkennbar.

Wenig Friktionen in der Ampel

Noch heftiger die Diskrepanz bei den Grünen: Auch ihre Fraktion ist zu einem guten Teil stolz auf die Performance und das unverhoffte Ansehen ihrer beiden Minister Annalena Baerbock und Robert Habeck. Inhaltlich aber bewegen sich beide auf dünnem Eis. Habeck braucht jedes Gramm seines Vertrauenskapitals, um in Fraktion und Partei seinen atemberaubenden U-Turn bei der Energieversorgung bis zum Winter über die Runden zu bringen, ohne einen Aufstand zu riskieren, und Baerbock darf Putin und damit indirekt auch Scholz nur deswegen den Marsch blasen, weil sie ihre Auftritte geschickt als feministische Aussenpolitik zu verkaufen versteht.

Anton Hofreiter muss derweil um jeden Tag froh sein, an dem sein Agieren von Fraktion und Partei toleriert wird, was er noch alleine der Tatsache zu verdanken hat, dass er zu den Linken gezählt wird. Jeden Realo hätten die Grünen längst für seine Forderungen nach Waffenlieferungen zurückgepfiffen und kaltgestellt.

Ein abrupter, ideologisch nicht vorbereiteter Frontenwechsel von FDP und Grünen weg von der SPD und hin zu CDU und CSU ist unter diesen Umständen illusorisch, auch wenn sich die Stunden zuletzt häuften, in denen beide Fraktionen in der Sache deutlich näher bei Merz waren als bei Scholz und seinem Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich.

Faktor Mützenich

Dabei kann man inzwischen getrost davon ausgehen, dass dem Kanzler die Querschläge Mützenichs vielleicht sogar ganz gelegen kommen. Erst recht gilt dies für die SPD-Ministerinnen Christine Lambrecht und Nancy Faeser. Mützenich liefert das ideologische Fundament für die Destruktionen, die sich in der praktischen Arbeit der Verteidigungs- und der Innenministerin manifestieren. Dass der Fraktionschef die Mehrheitshaltung seiner Abgeordneten repräsentiert, in ihrer Zusammensetzung jung und links bis linksradikal wie nie, gilt es ebenfalls in jeder Lagebeschreibung zu beachten.

Schließlich der menschliche Faktor: Friedrich Merz war es nie und ist es bis heute nicht, ein Politiker-Typus, dem die Sympathien ungeachtet zeitweiliger politischer Übereinstimmungen zufliegen. Anders als Angela Merkel wird er es nie zum Ehrenvorsitzenden der Herzen bis weit ins linksgrüne Lager hinein bringen. Das ist kein Vorwurf, schon gar nicht nach den Verheerungen, die diese Bundeskanzlerin dem ihr anvertrauten Land hinterlassen hat, aber Tatsache und Faktor.

Bevor Merz heimliche Stimmen aus gegnerischen Reihen abgrast, muss es noch dicker kommen, sprich, müssen sich Mitglieder des Bundestages durch ein Festhalten an Scholz und an dieser Koalition in ihrer eigenen politischen Existenz bedroht sehen. Der drohende Untergang der Ukraine, die unfassbaren Verbrechen des Kremlherrschers reichen dafür, so zynisch das klingen mag, bislang nicht aus.

Quantitativ notwendig für einen spektakulären Seitenwechsel von Grünen und Freidemokraten wäre ein Bewusstsein, dass man sich mit der Mitgliedschaft und Unterstützung einer von diesem Bundeskanzler geführten Regierung nirgendwo mehr auf der Welt blicken lassen kann. Dafür gibt es fraglos bereits Ansätze, in Großbritannien, im Baltikum, in Osteuropa sowieso, aber durchgreifend ist diese Entwicklung noch nicht. Die Ignoranz gegenüber den Einstellungen des Auslands hat ja eine längere Geschichte.

Scholz' Leisetreterei trifft Seelenlage der Deutschen

Weiter: Wenn Olaf Scholz für sich in Anspruch nimmt, durch sein vorsichtiges Agieren, sein Hinhalten, seinen Opportunismus, seine Leisetreterei gegenüber dem Kreml nichts weniger zu verhindern als einen dritten Weltkrieg, mag das weniger plausibel zu sein als jemals zuvor, doch trifft er damit die Seelenlage nicht nur der eigenen Partei, sondern auch erheblicher Teile der Wahlbevölkerung. Auch diesen Faktor sollte man nicht unterschätzen.

Angst ist eine politisch sehr mächtige Kraft, mehr noch sogar als in der zweijährigen Corona-Krise. Scholz nutzt das skrupellos aus, wobei er von seinem Gesundheitsminister gelernt hat, wie man es nicht macht, und es deshalb geschickter und damit wirkungsvoller anstellt. Was folgt für Oppositionsführer Friedrich Merz aus dieser Lageanalyse? Welche Optionen hat er in einer Situation, in der Deutschland ein weiteres Mal historisch zu versagen droht?

Die Zeit ist für einen Kanzlersturz, für einen Kanzlerwechsel aus machttechnischer Perspektive nicht reif. Mit einem Beweis, selbst wenn er gelänge, dass Olaf Scholz angesichts existentieller Herausforderungen ohne Mehrheit ist, wäre für Merz außer zwei, drei Tagen des Triumphes nicht viel gewonnen, denn eine Mehrheit hat er, wie dargelegt, auch nicht. Ein Projekt "Habeck ins Kanzleramt", wie es hier und da bereits von konservativer Seite angedacht wird, wäre noch idiotischer, denn diese Kombination wäre in sich noch viel widersprüchlicher und deshalb noch weniger haltbar als eine wackelige Ampel.

Projekt Vertrauensfrage

Bleibt die Vertrauensfrage. Unterstellt, Friedrich Merz wird seine Möglichkeiten nach Abwägung aller Argumente ähnlich einschätzen wie hier ausgeführt, dann wird es auf diese Forderung an die Adresse des Bundeskanzlers hinauslaufen: Ein Kanzler ohne Mehrheit habe gefälligst die Vertrauensfrage nach Artikel 68 zu stellen. Diesen Satz können Oppositionspolitiker und Journalisten schon einmal als Shortcut abspeichern; sie werden ihn demnächst häufiger brauchen. Nur: Niemand kann den Kanzler zu diesem Schritt zwingen.

Vorgängerin Merkel wurde immer wieder aus guten Gründen in den von ihr mindestens mitverschuldeten Krisen zu einem solchen aufgefordert und tat es nie, womit sie aus ihrer Sicht machttechnisch völlig richtig lag. Es war seine (zweite und dann absichtlich verlorene) Vertrauensfrage, mit der Gerhard Schröder 2005 seinen Abschied einleitete, was sich Merkel gut gemerkt hat und Scholz erst recht, denn er war ja direkt beteiligt. Eine inhaltliche Frage, ein Gesetz, das Scholz heute mit seiner Vertrauensfrage verbinden könnte und sollte und das er auf diesem Wege durchbringen wollte, ist nicht erkennbar. Solange ihm der Bundestag nicht dazwischenfunkt, hätte er hierzu keinen Anlass.

Erst ein erfolgreicher Waffenlieferungsantrag von CDU und CSU könnte das ändern, aber um diesen abzublocken oder unwirksam zu machen, könnte Mützenich einen weichgespülten, scheinbar ähnlichen, einen die Befindlichkeiten des Herrn Putin aber weiter sorgsam schonenden, also praktisch für die Ukraine nutzlosen als Gegenantrag einbringen und spätestens dann sogar auf die Unterstützung von AfD und Linken zählen, was Scholz in seiner Not, wenn es direkt um sein politisches Schicksal geht, vermutlich egal wäre. Irgendein krudes Argument zur Rechtfertigung fiele ihm allemal ein, wenn unterhalb von Atomkrieg nichts mehr zählt und unser Kanzler für sein Bemühen, die Welt zu retten, anstatt Lob und Friedensnobelpreis nur bösartige Unterstellungen und Attacken erntet.

Merz aber wäre an einer Gummiwand abgeprallt und stünde trotz überlegener Argumente nach namentlicher Abstimmung als Verlierer dar. Jeder könnte hinterher nachlesen, auf wen Merz – noch oder schon – im Bundestag bauen kann und auf wen nicht. Die Auflistung könnte ernüchternd wirken – und zwar Stand heute eher für Merz als für Scholz.

Doch selbst unterstellt, Merz gelänge es, Scholz so in die Ecke zu drängen, dass er die Vertrauensfrage stellt und in namentlicher Abstimmung verliert – was wäre die mutmaßliche Folge? Artikel 68 Grundgesetz besagt: (1) Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen. Das Recht zur Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt. (2) Zwischen dem Antrag und der Abstimmung müssen achtundvierzig Stunden liegen.

Wie agiert Steinmeier?

Daraus folgt: Olaf Scholz könnte, sofern der Bundespräsident mitspielt, Neuwahlen herbeiführen. Das wird er nur tun, wenn er sich davon einen Vorteil verspricht, also eine Stärkung seiner Position, wenigstens aber einen Zeitgewinn in der Hoffnung, eine aktuell für ihn miserable Lage innerhalb von zwei Monaten zum besseren zu wenden, wobei er davon ausgehen müsste, dass nicht nur die SPD gestärkt aus Neuwahlen hervorgeht, sondern er auch ihr Kanzlerkandidat bliebe. Alle drei Punkte müssen derzeit als unwahrscheinlich oder unsicher gelten.

Daraus folgt weiter: Es könnte nach einem durch den Kanzler herbeigeführten Mißtrauensvotum des Bundestages eine neue Dynamik entstehen, die im vorhandenen Bundestag, in seiner derzeitigen Zusammensetzung, Friedrich Merz jene aktuell nicht vorhandene Kanzlermehrheit beschert, etwa, weil FDP und Grüne sich nicht länger mit einer zynischen SPD blamieren wollen.

Diese Dynamik könnte dem hier gewiss aus bekannten Gründen ebenfalls nicht vertrauenswürdigen Bundespräsidenten das Heft aus der Hand nehmen, also die Möglichkeit, den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen in Gang zu setzen. An diesem Verlauf haben naturgemäss, abgesehen von den erwähnten inhaltlich-politischen Gründen, immerhin all jene Abgeordneten ein genuines Interesse, die bei Neuwahlen um ihr Mandat fürchten müssten. Das wiederum könnte in allen Fraktionen, sogar in der SPD, bestimmt aber in der Linken, unkonventionelle Gedankengänge auslösen.

In der Linken und in der SPD, weil selbst deren Leuten ein Verbleib im Bundestag, nach wie vor (Linke) beziehungsweise neuerdings (SPD, manche werden sagen: endlich) dann in der Opposition, immer noch lieber wäre als die Notwendigkeit beruflicher Neuorientierung nach gerade einmal einem halben Jahr. Was auf sich alleine in der Wahlkabine gestellt auf die interessante Alternative hinausliefe: Wähle ich heimlich diesen Friedrich Merz zum Kanzler, um wenigstens meinen Job zu behalten, vor allem, wenn ich nichts sonst gelernt habe, oder riskiere ich meinen Hinauswurf aus dem Bundestag?

Bei AfD, FDP und Grünen wäre die Lage durchwachsen und stark von persönlichen Einschätzungen abhängig, wie sie jeweils in einem kurzen Wahlkampf abschneiden könnten. Die Mandatsträger von CDU und CSU dürften weitgehend zur Überzeugung gelangen, dass nichts gegen einen Kanzler Merz sofort spräche, sie aber auch mit schnellen Neuwahlen nur gewinnen könnten, womit die Unionsfraktion am Ende stets besser dastünde, wenn Scholz die Vertrauensfrage stellt und verliert.

Keine Zeitenwende

Fazit: Olaf Scholz hat in den existentiellen Fragen, die in diesen Wochen anstehen, nach Lage der Dinge keine Mehrheiten. Maßgebliche Akteure in den Fraktionen und im eigenen Kabinett arbeiten gegen seine "Zeitenwende". Weil sie es wollen, weil sie es können und weil ihnen niemand in den Arm fällt, schon gar nicht der Kanzler selbst. Dass er alleine deswegen sein Amt verliert und durch einen anderen Kanzler ersetzt wird, ist allerdings alles andere als selbstverständlich und zwangsläufig.

Möglicherweise genügt es, die Nerven zu bewahren und die aus seiner Sicht zwar ärgerliche, aber keineswegs weltbewegende kleine Legitimitätsdelle auszusitzen. Wie es sein Vorbild Angela Merkel nach ihrem zutiefst anti-europäischen Alleingang in der Flüchtlings- und Zuwanderungskrise ab September 2015, der sie das Vertrauen der CSU kostete, auch geschafft hat.

Im übrigen steht nirgendwo, dass sich ein Bundeskanzler, der in einer logischen Sekunde, in der Sekunde der Abstimmung, ohne das Vertrauen des Bundestages dasteht, dem Plenum nicht ein paar Tage später gegen die direkte Konkurrenz des Oppositionsführers erneut zur Wahl stellen darf, etwa, sollte Putin, aus welchen Gründen und mit welcher Begründung auch immer, den Krieg beenden, und sei es, weil er Scholz gerne als Bundeskanzler behalten möchte.

Brutalstmögliche Einflussnahme gab es 1972 ja schon einmal, Einzelheiten schlage nach bei den Herren Mielke, Wienand, Steiner und Barzel; Thema schon damals: Ostpolitik, das Verhältnis der Bundesrepublik zur DDR und zur UdSSR. Schlagartig würde sich dann die Debatte auch in Deutschland ändern. Die Lage ist verrückt und volatil. Gewissheiten und Einstellungen fallen innerhalb kürzester Zeit. Im Moment ist alles möglich und auch das Gegenteil davon.

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