„Die Zeit“ und die Seenotrettung - Hamburger Moralistenstadl

„Die Zeit“ hat ein Pro und Contra zur Seenotrettung veröffentlicht. Es folgten ein Sturm der Entrüstung und gleich in der folgenden Ausgabe ein Kotau der Chefredaktion. So werden Kerntugenden des Journalismus auf dem Altar der Selbstgerechten geopfert. Von Alexander Grau

„Die Zeit“: Kotau vor dem Moralinmob / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Ein guter Mensch zu sein, wer wüsste das nicht, ist nicht immer ganz einfach. Das liegt schon daran, dass nicht immer ganz klar ist, was gut ist, und was nicht. Manchmal kommt es auch vor, dass das Gute nicht einfach nur gut ist, sondern auch negative Folgen hat. Dann gilt es abzuwägen. Und mitunter kollidiert das Gute (oder was man dafür hält) mit ganz grundlegend Regeln des menschlichen Anstandes. Dann zeigt das Gute sein hässliches Gesicht. So geschehen dieser Tage in der Wochenzeitschrift Die Zeit, dem Zentralorgan aller Gutmeinenden und Gewissensprofis.

Journalismus lebt vom Widerstreit

Was war geschehen? Alles begann vor über einer Woche. Da veröffentlichte Die Zeit auf ihrer Seite 3 ein Pro und Contra über die Machenschaften privater Seenotretter im Mittelmeer. Titel des Ganzen: „Oder soll man es lassen?“. Untertitel: „Private Helfer retten Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer aus Seenot. Ist das legitim? Ein Pro und Contra.“

Da staunte der neutrale Beobachter und wunderte sich. Hatte Die Zeit doch tatsächlich ein notwendiges, wichtiges und kontroverses Thema aufgegriffen. So viel Mut zur Unbequemlichkeit hatte man der alten Dame gar nicht zugetraut. Umso angenehmer die Überraschung. Denn Journalismus lebt von Diskussion und Widerstreit. Den Pro-Text übernahm Caterina Lobenstein, den Contra-Part Miriam Lau. So weit, so gut, so ausgewogen.

Medien reagieren mit Schnappatmung

Doch wir leben in hysterischen Zeiten. Und so geschah das, was eigentlich nicht geschehen musste. Teile der sozialen und auch der traditionellen Medien verfielen umgehend in Schnappatmung. Den Tenor gab der Gewissensbeauftragte der SPD Ralf Stegner vor: 

So funktioniert Totschlagrhetorik: Empören, Fragen für unzulässig erklären, die einzig mögliche Haltung vorgeben, alles andere als Barbarisch brandmarken. Und viele, zu viele stimmten in den Chor der Entrüsteten ein: Das Neue Deutschland sah einen Rechtsruck am Werk, ARD-Reporte Gabor Halasz schlug in dieselbe Kerbe.

In der Süddeutschen Zeitung nahm Heribert Prantl Contra-Verfasserin Miriam Lau ins Visier und konstatierte in einer sinnentleerten Wortpirouette, Lau habe sich „an den Ertrinkenden vorbeigeschrieben“. Und die taz bewies, wie schief ein Fakten-Check geraten kann, wenn man Dinge überprüft, die nie jemand behauptet hat.

Moralischer Infantilismus

In all dem Getöse wurde übersehen – aber das war wohl auch der Sinn des Getöses –, dass Miriam Lau überhaupt nicht dazu aufgerufen hatte, Menschen in Seenot kaltherzig ertrinken zu lassen. Nur gegen die organisierte Seenotrettung durch privaten Hilfsorganisatoren hatte sie sich mit guten Argumenten ausgesprochen.

Aber auf solche Details kam es schon gar nicht mehr an. Denn allein die Wortkombination „Seenot“, „Menschen“ und „retten“ führt offensichtlich dazu, dass sich bei vielen Zeitgenossen das Großhirn reflexartig ausschaltet. Wozu nachdenken, wenn man sich in die Brust werfen kann? Sollte es so etwas wie moralischen Infantilismus geben, hier konnte man ihn bewundern.

Der Kotau der Chefredaktion

Aufgabe der Chefredaktion wäre es nun eigentlich gewesen, die Sache nüchtern richtigzustellen und sowohl die Texter der Headline als auch die Autorin vor unsachlichen Angriffen in Schutz zu nehmen. Aber dafür fehlte am Speersort die dort so gerne beschworene Zivilcourage. Stattdessen entschied man sich für einem Kotau vor dem Moralinmob.

Das Ergebnis ist eine beispiellose Selbstanklage auf der Seite Eins der folgenden Ausgabe, vorgetragen in triefigsten Betroffenheitsdeutsch. Viele Leser seien empört gewesen: „Das trifft uns, aber wir sind auch froh über diese Kritik, zeigt sie doch, wie hellwach die ZEIT-Leserschaft ist“. Niemand in der Redaktion sei der Auffassung, dass man Menschen zur Abschreckung ertrinken lassen soll. Das ein anderer Eindruck entstehen konnte, „tut uns von Herzen leid“. Vor allem aber käme im Text von Miriam Lau nicht genug zum Ausdruck, welche tiefen Respekt man vor jenen habe, die „ihre Freizeit und ihr Geld einsetzen, um auf dem Mittelmeer Menschen in Not zu retten“. „Unabhängig davon, aus welcher Motivation und mit welchem Weltbild die Retter handeln, sind sie erst einmal zu bewundern.“

Debatte im Ansatz abgewürgt

Was ein Armutszeugnis: Dankbarkeit für unsachliche Kritik, eine Entschuldigung für etwas, was nie jemand behauptet oder gefordert hat und schließlich auch noch ein gesinnungsethisches Bekenntnis, das in seiner unpolitischen Einfalt allenfalls in einer Schülerzeitung verzeihlich wäre.

So opfert man Sachlichkeit und Ausgewogenheit, die Kerntugenden des guten Journalismus, auf dem Altar der Selbstgerechten. Politische Debatten, die ihren Namen verdienen, werden damit im Ansatz abgewürgt. Für eine freiheitliche Demokratie ist das verhängnisvoll. Vor allem aber: Was hätte Helmut Schmidt, der große Verantwortungsethiker, zu dieser Ballung von Kitsch und fehlender Haltung gesagt?

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