Vulnerabilität - Ich bin verletzlich, also bin ich

Lange wurde „Vulnerabilität“ von Umweltschützern, Rassismusforschern und Identitätspolitikern vereinnahmt. Jetzt hilft die Coronakrise, der fragwürdigen Konjunktur des Begriffs Einhalt zu gebieten und zu lernen, sich wieder auf die zu konzentrieren, die wirklich unsere Solidarität benötigen.

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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Es hätte das Wort des Jahres 2020 werden können: die „Vulnerabilität“. Es wurde dann die „Corona-Pandemie“. Da wusste jeder, worum es sich handelt und leichter auszusprechen ist sie auch. Doch jede Wette: Die Idee der Vulnerabilität und die sie aufgreifenden und instrumentalisierenden Diskurse werden uns noch beschäftigen, wenn Corona – und die Zeit wird kommen – längst ein Thema für Medizinhistoriker geworden ist.

Nun ist die Bedeutung von „Vulnerabilität“ nicht wirklich neu: Menschen sind verletzlich, also vulnerabel, und unterscheiden sich in ihrer Verletzlichkeit. Schon das Gründungsepos des Abendlandes, die Ilias, erzählt von dem Zorn des Achill, von seinen inneren Verletzungen und seiner Achillesferse, die ihm schließlich zum Verhängnis wird.

Wie das Wort einen politischen Mehrwert bekam 

In diesem Sinne war die Vulnerabilität zunächst ein ganz unmetaphorischer medizinischer Begriff, der sich auf die Wunde (lat. „vulnus“) bezog. Irgendwann in den 80er Jahren tauchte er dann im Kontext der Debatten über Entwicklungshilfe und Entwicklungspolitik auf und wurde damit politisiert. Plötzlich waren ganze Länder, Regionen oder Gesellschaften vulnerabel.

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Das meinte zumeist nichts anderes als arm und unterentwickelt – hatte aber einen subtilen sprachpolitischen Mehrwert. Denn vulnerable Gesellschaften, so die unterschwellige Botschaft, sind mehr als arm, sie sind anfällig für Katastrophen und Verwerfungen aller Art und bedürfen daher besonderer Fürsorge. Das Konzept der Vulnerabilität legitimierte, ja forderte geradezu die langfristige entwicklungspolitische Intervention. Armut kann man beseitigen. Vulnerabilität hingegen nicht. Sie besteht in der permanenten Möglichkeit – zumal, wenn man die Maßstäbe entsprechend verändert.

Ich bin verletzlich, also bin ich 

Aufgrund dieses Modus der Potentialität und seiner Dringlichkeit suggerierenden Undifferenziertheit eignet sich der Begriff der Vulnerabilität mehr als jede andere sozialwissenschaftliche Kategorie zur Legitimation staatlicher Dauerintervention. Entsprechend wanderte das Konzept der Vulnerabilität in den 80er Jahren von den Entwicklungshilfediskursen in die Sozialwissenschaften und von dort in die Ökologie, die Umweltschutzdebatten und die Klimadiskussion. Und schließlich entdeckten ab den 90er Jahren auch die prosperierenden Modewissenschaften und identitätspolitischen Diskurse rund um Gendertheorie, Sexismus und Rassismusforschung den Begriff der Vulnerabilität für sich.

Eine Schlüsselposition nimmt dabei auch hier die einflussreiche amerikanische Philosophin Judith Butler ein. Ähnlich wie das Geschlecht bei ihr kein Produkt der Biologie ist, sondern gesellschaftlicher Diskurse, so dreht sie auch hier das Verhältnis von biologischer Tatsache und kultureller Konstruktion um: Nicht der Körper ist verletzlich, sondern die Vulnerabilität des Subjekts erzeugt seinen Körper. Verletzlich zu sein, ist keine Eigenschaft eines Körpers, sondern dessen Voraussetzung: Ich bin verletzlich, also bin ich.

Von der Gesellschaft zum Safe Space 

Diese butlerische Verkehrung der Tatsachen ist die ideologische Legitimationsbasis der ethnischen, geschlechtlichen und sexuellen Identitätspolitik der letzten Jahre und ihres Dominanzstrebens im Namen von Political Correctness und Wokeness.

Wo Vulnerabilität zum Ausgangspunkt des Menschseins gemacht wird, wird die Verwandlung der Gesellschaft in einen gigantischen „Safe Space“ zu logischen politischen Konsequenz. Menschen sind nun keine erwachsenen Persönlichkeiten mehr, die sich mit den Wechselfällen des Lebens auseinanderzusetzen haben, sondern Verletzbarkeiten, offene Wunden, die es zu schützen gilt. Und Maßstab für die allumfassende Vulnerabilität wird die eigene Befindlichkeit.

Wer braucht unsere Solidarität wirklich?  

So gesehen, ist Corona eine echte Chance. Denn die Pandemie macht deutlich, dass Verletzlichkeit durchaus eine halbwegs objektivierbare Eigenschaft von Individuen ist, die sich im Laufe eines Lebens verändern kann und nicht Basis der eigenen Identität. Es gibt verletzliche Menschen, die es zu schützen gilt und weniger verletzliche Menschen, denen man zumuten kann, auf sich selbst aufzupassen.

Das gilt nicht nur in Pandemiezeiten, sondern generell. Corona kann helfen, der fragwürdige Konjunktur der Vulnerabilität Einhalt zu gebieten und wieder zu lernen, uns auf die zu konzentrieren, die wirklich verletzlich sind und unsere Solidarität benötigen: die Alten und Kranken und Schwachen.

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