Die Volkszählung 1933 - Die statistische Grundlage für den Holocaust

Die Volkszählung im Juni 1933 schuf die statistische Grundlage für die spätere Vertreibung und Ermordung der Juden. Die fünfte Folge einer Serie

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Blom, Philipp

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Er sieht direkt in die Kamera. Etwas töricht sieht er aus und selbstzufrieden, fast, als wäre er überzeugt, dass keine Frau ihm widerstehen kann. Das Foto ist ein offizielles Porträt des Leiters der „Dienststelle des Sachverständigen für Rasseforschung beim Reichsinnenministerium“, Achim Gercke. Er ist blond. Obwohl das Foto schwarz-weiß ist, darf man annehmen, dass er blaue Augen hat.

Für Gercke war die Volkszählung vom Juni 1933 ein karrierefördernder Meilenstein, obwohl sie nicht die Idee der Nationalsozialisten gewesen war. Sie hätte schon drei Jahre früher stattfinden sollen, aber die Weimarer Republik hatte dafür nicht genügend Geld gehabt. Nun aber lagen genaue Daten über Deutschlands Bevölkerung vor, auch und besonders über den jüdischen Teil.

Laut diesen neuesten Zahlen waren 502 799 Menschen im Deutschen Reich Juden, davon 144 000 in Berlin, 3,8 Prozent der dortigen Einwohner. Der größte Teil der deutschen Juden lebte in Städten, nur 15,5 Prozent in Orten von weniger als 10 000 Einwohnern. Etwa 65 Millionen Menschen insgesamt lebten im Deutschen Reich, der jüdische Anteil an der Bevölkerung betrug also gerade 0,77 Prozent.

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Deutsche Juden waren mit überwältigender Mehrheit urban und bildungsorientiert. Ein Drittel von ihnen arbeitete in Handel und Gewerbe, nur knapp 2 Prozent in der Landwirtschaft. In Preußen waren 11 674 Anwälte zugelassen, 3370 von ihnen waren Juden. Unter den Ärzten in Deutschland betrug der jüdische Anteil etwa 16 Prozent.

 

Der Reichssachverständige Gercke hatte darauf bestanden, im Rahmen der Volkszählung neben der Religionszugehörigkeit auch Geburtsorte außerhalb des Reiches nachzufragen, um sich ein besseres Bild über mögliche jüdische Wurzeln der Befragten zu machen. Ein Geburtsort in einem Gebiet mit überdurchschnittlich hoher jüdischer Bevölkerung, besonders in Osteuropa, galt sofort als verdächtig.

Gercke war durchdrungen vom Rassendenken des frühen 20. Jahrhunderts. Sein Vater war Professor für Altphilologie und hatte gemeinsam mit einem jüdischen Kollegen an einem Standardwerk über die Antike gearbeitet. Sohn Achim kam aus einem humanistischen und toleranten Haus. Er selbst aber hatte seinem Leben von Anfang an eine ganz andere Orientierung gegeben. Schon als Student der Naturwissenschaften in Breslau, Göttingen und Freiburg hatte der gebürtige Greifswalder begonnen, Daten über jüdische Akademiker zu sammeln. 1926 gründete er das „Archiv für berufsständische Rassenstatistik“ und arbeitete ab 1931 direkt für die NSDAP. Seine Kartei umfasste damals 70 000 Namen.

 

Ein Bewunderer beschrieb 1937 Gerckes Arbeitsweise: „Der wichtigste Teil war die Hauptdatei, die den Bestand an jüdischen Versippungen enthielt und aus circa 50 000 Karten bestand. Bemerken möchte ich, dass auf mancher Karteikarte die Namen von drei bis fünf Familienangehörigen verzeichnet waren. Dieser Bestand bildet auch heute noch die Grundlage der Gesamtkartei, ohne die ein weiteres Arbeiten unmöglich wäre. Anfänglich musste mit größter Mühe jede einzelne Karte neu erstellt werden. Für jede Karte waren eingehende Untersuchungen und Nachforschungen bei den Pfarr- und Standesämtern notwendig, ein Verfahren, das große Mittel und viel Zeit in Anspruch nahm … Daneben wurde aber all die Jahre hindurch noch eine Reihe von jüdischen Zeitungen gehalten, zum Beispiel die Frankfurter Zeitung, die Vossische Zeitung und das Berliner Tageblatt. Die Familiennachrichten dieser Zeitungen wurden ausgeschnitten, aufgeklebt und karteimäßig eingeordnet.“

 
Die Kartei wurde Gerckes Machtbasis, die er mit den Ergebnissen der Volkszählung weiter ausbauen konnte. Mit der Machtergreifung verlief der Aufstieg des rassischen Reinheitswächters steil. Er machte keinen Hehl aus seinen Überzeugungen und Absichten. Das im April 1933 erlassene „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, das von allen Beamten einen Abstammungsnachweis verlangte und die fristlose Entlassung von jüdischen und ideologisch missliebigen öffentlichen Angestellten ermöglichte, machte Gerckes Position strategisch noch wichtiger. Seine Dienststelle war letzte Instanz in „Rassenfragen“.
 
Im Mai 1933 schrieb Dienststellenleiter Gercke in den Nationalsozialistischen Monatsheften unter dem Titel „Lösung der Judenfrage“: „Durch den Sieg der nationalsozialistischen Revolution ist die Judenfrage als Problem … erkennbar geworden.“ Er sprach von einem „Gegenschlag gegen die Kriegserklärung Judas“: „Die Juden, wenn sie auf ewig bei ihren Wirtsvölkern schmarotzen können, bleiben ein ständiger Brandherd, an dem das offene, zerstörende Feuer des Bolschewismus leicht immer wieder angezündet werden kann … Staatlich geregelt werden kann und darf nur der planmäßige Ausmarsch …“. Seine Bücher trugen Titel wie „Das Gesetz der Sippe“ und „Rasse und Schrifttum“. 
 
Die Ergebnisse der Volkszählung 1933 wurden direkt für die Vorbereitung der großen Volkszählung 1939 verwendet, bei der auch gezielt nach „Mischlingen“ und „jüdisch Versippten“ im gesamten Reichsgebiet, also einschließlich des „heimgekommenen“ Österreichs, gefragt wurde – eine Datei, die zur Todesliste werden sollte. 
Gerckes kometenhafter Aufstieg setzte sich fort. Er wurde zum Verantwortlichen für Abstammungsfragen an Universitäten und Hochschulen und in der ­NSDAP und untersuchte prominente Fälle wie den SS-Obergruppenführer und Schlächter Reinhard Heydrich. Sein Wort konnte Karrieren beenden oder beflügeln. Im November 1933 wurde Gercke Reichstagsabgeordneter und arbeitete an einem „Sippenamtsgesetz“. 
 
Vielleicht war Gerckes Karriere zu steil für die Parteigenossen. 1935 wurde er wegen Verstößen gegen Paragraf 175, den berüchtigten Homosexuellenparagrafen, verhaftet und aller Ämter enthoben. Es ist möglich, dass er Opfer einer Intrige wurde. Er kam in ein Strafbataillon an der Ostfront und kehrte 1945 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück. Danach arbeitete er im Landeskirchlichen Archiv der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover und als Standesbeamter. Augenscheinlich betrachteten die bundesrepublikanischen Vorgesetzten ihn als geeignet für solche Aufgaben, viele jüdische Paare gab es ja damals nicht zu trauen. Bis zu seinem Tod 1997 veröffentlichte Gercke weiterhin Bücher zur Heimatkunde und zur fachkundigen Führung rassisch reiner Völker: zur Imkerei.

In der Serie „1933 – Unterwegs in die Diktatur“ sind bisher erschienen:

Die Machtergreifung: Religion der Brutalität

Der Reichstagsbrand: Republik unter Feuer

Das Ermächtigungsgesetz: Als Deutschland die Demokratie verlor

Die Bücherverbrennung: Das Ende des Landes der Dichter und Denker

Die Volkszählung 1933: Die statistische Grundlage für den Holocaust

Das Reichskonkordat: Fauler Handel mit der Kirche

Der Volksempfänger: Das Propagandawerkzeug der Nazis

DIe Reichskulturkammer: Die Gunst war wichtiger als die Kunst

Der Völkerbund: Deutschlands Austritt ebnete den Weg in den Krieg

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