Virtualität und Realität - Blumenkohl mit brauner Butter

Kolumne: En Passant. Sophie Dannenberg schreibt jeden Monat für Cicero über beiläufige Entdeckungen. Diesen Monat: Essen – das einzige, was die Virtualität uns nicht bieten kann, uns aber dennoch ständig vorhält

Erschienen in Ausgabe
Die Tatort-Kommissare Dietmar Bär und Klaus J. Behrendt hauen in jeder Folge richtig rein / picture alliance
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Autoreninfo

Sophie Dannenberg, geboren 1971, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr Debütroman „Das bleiche Herz der Revolution“ setzt sich kritisch mit den 68ern auseinander. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“

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Im Netz kann man ja fast alles – einkaufen, reich werden oder auch arm, sogar Sex haben, irgendwie. Nur essen kann man nicht. Trotzdem stellen die Leute andauernd Fotos von ihren vollen Tellern online. Das ist schon eigenartig. Diese Leute bieten eine Leckerei an und entziehen sie einem zugleich. Der amerikanische Soziologe Gregory Bateson hat in den sechziger Jahren derlei widersprüchliche Beziehungsangebote als Doublebind bezeichnet und als eine wesentliche Ursache für die Entstehung von Schizophrenie identifiziert. Die These konnte sich in der Schizophrenieforschung nicht halten, aber bis heute ist klar, dass einen ambivalente Botschaften verwirren können.

Wenn ich die kulinarischen Verlockungen im Netz sehe, denke ich immer an jene alte Dame, die mir erzählte, dass sie als junges Mädchen den ganzen Krieg über an Blumenkohl mit brauner Butter denken musste. Das Bild schwirrte unentwegt durch ihren Kopf, so wie heute die Essfotos durch Facebook oder Instagram, von denen man keinen einzigen Bissen abbekommt. Selbst wenn man die Rezepte nachkocht, schmecken sie nie so gut, wie sie auf den Posts aussehen. Die Essfotos im Netz zielen nicht auf die Realität des Essens, sie entwerfen eine Utopie, wie sie eigentlich nur ein Hungernder kennt. Wer weiß, vielleicht klingt im virtuellen Essen auch der Kriegshunger nach.

Die letzten Helden der Wirklichkeit

Und vielleicht wird deshalb im deutschen Fernsehspiel so viel gefressen. Immer, wenn ich mal den „Tatort“ sehe, kommt irgendwann eine Szene, in der die Kommissare richtig reinhauen. Sie reden mit vollem Mund, schlucken und spülen nach, so soll dem Fernsehzuschauer weisgemacht werden: Die Schauspieler futtern wirklich, und dann auch noch ungesund und ohne Manieren. Wie richtige Deutsche eben. Anders im amerikanischen TV. Da stochern die Schauspieler fortwährend in ihren kalten Mahlzeiten rum und machen dazu irgendwelche Kaubewegungen. Manchmal führen sie auch einen Bissen zum Mund, aber spätestens dann kommt der Schnitt. Er macht dem Zuschauer klar, dass das alles nicht ernst gemeint ist.

Manchmal frage ich mich, ob das viele Essen nach dem Dreh im Mülleimer landet. Die „Tatort“-Kommissare jedenfalls essen um ihr, um unser aller Leben, als wollten sie die virtuelle Welt mit bloßen Zähnen zerreißen. Auch wenn alles andere nur gespielt ist, vor dem Teller sind sie die letzten Helden der Wirklichkeit.

Dies ist ein Text aus der Februarausgabe des Cicero. Erhältlich am Kiosk und in unserem Onlineshop.









 

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