100 Jahre Friedensvertrag von Versailles - Warum misslang er?

Vor 100 Jahren unterzeichnete Deutschland den Versailler Vertrag. Die Radikalisierung der Weimarer Republik und Hitlers Aufstieg wären ohne dessen Wirkungsmacht und die permanente Apostrophierung des „Schandfriedens” nicht denkbar. Tatsächlich ist auch 2019 keine dauerhaft stabile Ordnung in Sicht

Massendemonstration gegen die Friedensbedingungen des Versailler Vertrages im August 1919 in Berlin / picture alliance
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Autoreninfo

Ulrich Schlie ist Historiker und Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn.

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Liebe Leserinnen und Leser,

in Zusammenhang mit diesem Text veranstalten wir ein kleines Gewinnspiel zu folgender Veranstaltung: Am Sonntag, den 7. Juli 2019 um 11 Uhr präsentiert Cicero in der Astor Film Lounge Berlin den Film „They Shall Not Grow Old”. Zum 100jährigen Jubiläum der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages nach Beendigung des Ersten Weltkriegs veröffentlicht Peter Jackson im Auftrag der BBC und des Imperial War Museum diesen Film, der aus restaurierten und modernisierten Aufnahmen aus der Zeit montiert wurde, um so die Realität des Krieges fassbar zu machen – radikal nah, zutiefst menschlich und gleichzeitig von hochgradig dokumentarischem Wert. Im Anschluss an diesen Film wird Cicero-Chefredakteur Alexander Marguier gemeinsam mit dem Historiker und Bestsellerautor Robert Gerwarth diskutieren.

Wir verlosen 3 x 2 Karten für die Veranstaltung. Die Gewinner geben wir kommenden Montag bekannt. Wer teilnehmen möchte, schreibt bitte eine Email mit dem Betreff „Kino-Verlosung” an onlineredaktion@cicero.de

 

Wenn wir heute mit dem Abstand von 100 Jahren auf den Friedensschluss von Versailles blicken, so dominieren zwiespältige Gefühle. Datum und Ort der Unterzeichnung des Vertrages zwischen dem unterlegenen Deutschen Reich und den Siegermächten des Großen Krieges am 28. Juni 1919 in Versailles waren mit Bedacht gewählt worden. Genau fünf Jahre zuvor war mit dem Mord am österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo eine Art Initialzündung erfolgt, die einen guten Monat später den Ersten Weltkrieg auslösen sollte.

Der Krieg, der sich spätestens mit dem Eintritt der Vereinigten Staaten im Jahr 1917 zum echten Welt-Krieg entwickelt hatte, wurde als Krieg geführt, der auf immer „alle Kriege beenden sollte”, so der amerikanische Präsident Wilson, und der Friede, der an seine Stelle trat, war folgerichtig als großer Wurf gedacht: Er sollte, so ebenfalls Wilson, die Welt „sicher für die Demokratie” machen.

Eine immense Belastung

Für Deutschland hatte Versailles eine enorme symbolische Bedeutung. Dort, in Ludwigs XIV. Spiegelsaal, war am 18. Januar 1871 das Deutsche Reich begründet worden, und Wilhelm I., der König von Preußen, hatte hier aus der Hand der deutschen Fürsten die Kaiserkrone entgegen genommen. Die Unterzeichnung des Friedensvertrages war für die damit befassten deutschen Politiker zunächst eine immense Belastung.

Die als hart und ungerecht empfundenen Bedingungen – signifikante territoriale Abtretungen, Verlust der Kolonien, Anschlussverbot mit Deutschösterreich, Obergrenzenvorgaben für die Reichswehr, Demilitarisierung des Rheinlandes, Verurteilung zu im einzelnen noch zu bestimmenden Reparationsleistungen, Festlegung der Alleinkriegsschuld in Artikel 231 – führten zur Demission des damaligen Aussenministers Brockdorff-Rantzau und zum Rücktritt der Regierung Scheidemann. Mit der Kabinettsentscheidung, der Vertrag sei unannehmbar, hatte die damalige Regierung selbst den Schlußstrich gezogen. In Versailles war 1919 nicht von gleich zu gleich verhandelt worden. Die Besiegten hatten ihre Einwände gegen die auferlegten Bedingungen lediglich schriftlich begründen und hinterlegen können.

Gewinner sollte auf Triumphgeschrei verzichten

Versailles wurde für die damals gerade begründete Republik von Weimar psychologische Last und faktische Hypothek zugleich: ein übermächtiger Schatten, der häufig genug auch politisch instrumentalisiert wurde und am Ende die tatsächlichen Errungenschaften und die wirkliche Lage verdunkelte. Die politische Radikalisierung der Weimarer Republik, wo sich Links- und Rechtsradikale gegenseitig hochschaukelten, und der Aufstieg Hitlers wären ohne die Wirkungsmacht von Versailles und die permanente Apostrophierung des „Schandfriedens” nicht denkbar.

Eine der bis heute nachwirkenden Lehren bleibt die Erkenntnis, dass Gewinner im Moment des Sieges auf Triumphgeschrei und unnötige Demütigungen des Unterlegenen verzichten und niemand in der internationalen Politik die Macht der Psychologie unterschätzen sollte. Diese Nachwirkung der negativen Lebendigkeit verbindet zudem Versailles mit den Friedensschlüssen der Alliierten mit den anderen Kriegsverlierern in Saint Germain, Neuilly, Trianon und Sèvres, die ebenfalls als viel gescholtene Vertragswerke in die Geschichte eingegangen sind und oftmals für die Erklärung von Fehlentwicklungen, für Anklagen und zur Rechtfertigung von einseitigen Aktionen herhalten mussten.

Wie kann man einen künftigen Krieg vermeiden?

Der Kompromisscharakter des Friedenswerks ließ zudem genügend Raum für Interpretationen, die sich als schädlicher erweisen sollten als die tatsächlichen materiellen Gegebenheiten. Hier kündigte sich das Massenzeitalter mit seiner Instrumentalisierung der öffentlichen Meinung an: Desinformation, Emotionalisierung und Initiierung von sogenannten Volksbewegungen. Wer die Staatenwelt von heute verstehen will, kommt an einer vertieften Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Außenpolitik und öffentlicher Meinung nicht vorbei.

Wie kann man einen künftigen Krieg vermeiden? In Versailles war der – wie wir im Nachhinein wissen – untaugliche Versuch unternommen worden, auf eines der beiden zentralen Ordnungsprobleme von damals – die deutsche Frage (die andere war die russische Frage) eine Antwort zu finden. Warum aber misslang in Versailles, was hundert 100 Jahre zuvor in Wien noch gelungen war?

Der damalige Wandel der Staatengemeinschaft

Die Probleme, für die in Paris Lösungen gesucht wurden, entstammten zuvörderst der europäischen Staatenwelt des 19. Jahrhunderts. Die durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten Veränderungen indes betrafen nicht zuletzt die Wandlungen des Staates in  politischen, wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Bezügen. Sie manifestierten sich am sichtbarsten in neu aufkommenden politischen Bewegungen.

Das für die Globalisierung so kennzeichnende Phänomen der Vernetzung der Bereiche ist damit keine grundsätzlich neue Erscheinung der letzten beiden Jahrzehnte. Der damalige Wandel der Staatengemeinschaft war zunächst Ausdruck der Krise Europas, aber er griff auch eine Tendenz auf, die bereits für das 19. Jahrhundert charakteristisch gewesen ist. Im 19. Jahrhundert hatte der Staat als Rechts-, Verfassungs-, Macht- und Nationalstaat seine größte Zeit. Nun wurde er mehr und mehr in eine organisierte Gesellschaft verwandelt.

Nirgendwo eine dauerhaft stabile Ordnung in Sicht

Versailles scheiterte nicht zuletzt auch an der Halbherzigkeit und Untauglichkeit seiner Ordnungsvorgaben, am Kompromisscharakter von Bestimmungen, die auch Formelkompromisse der Sieger waren, und der Inkonsequenz, eine dauerhafte Ordnung für eine bessere und gerechtere Welt auf den Weg zu bringen. Auch 2019 ist nirgendwo am Horizont eine dauerhaft stabile Ordnung in Sicht. Der Blick, der auf den Frieden von Versailles zurückstreift, sollte vor diesem Hintergrund insbesondere die Ordnungsprinzipien, auf denen das System der Pariser Teilfriedensschlüsse gründete, auf ihre Tauglichkeit für die Gestaltung  der Gegenwart hinterfragen.

Wie muss eine Völkerrechtsordnung für die sich ins Globale ausweitende Staatenwelt verfasst sein? Wie kann das Verhältnis der Staaten untereinander auf eine dauerhaft tragende Ordnung gestellt werden? Welche Mechanismen des Konfliktmanagements und der Krisenbewältigung brauchen wir heute? Wie können völkerrechtliche Standards eingehalten werden? Wie können die internationale Schiedsgerichtsbarkeit und die internationale Strafgerichtsbarkeit so gestärkt werden, dass sie nicht als wirkungslos beiseite gefegt werden?

In dieser Perspektive bleibt die Beschäftigung mit Versailles auch Ansporn, Europa als Politische Union weiter konsequent nach vorne zu bringen und zugleich sensibler für die Risse im Gebälk und die Sorgen einzelner Partner in Europa zu werden.

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