US-Botschafter Richard Grenell - Von guten Mächten

Richard Grenell gilt als Raubein in Trumps Auftrag. Nichts aber hat den amerikanischen Botschafter so sehr geprägt wie Dietrich Bonhoeffer. Passt das zusammen?

Erschienen in Ausgabe
„Bonhoeffers Idee, dass das Leben keine bequeme Veranstaltung ist, ist ein bemerkenswertes Konzept“, sagt Grenell / Maurice Weiss
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Die Reisegruppe besteht aus einem guten Dutzend Menschen. In zwei Kleinbussen sind sie gekommen an diesem bitterkalten und sonnigen Dezembernachmittag, um die Zionskirche zu besichtigen. Männer in Jeans, Pullover, Jacken, Frauen in Jeans, Pullover, Jacken. Ein Kinderwagen ist auch dabei. Die Gäste stammen aus den Vereinigten Staaten. Ihr Weg führt sie in die Berliner Zionskirche, weil hier vor 87 Jahren der frisch ordinierte Pfarrer Dietrich Bonhoeffer seine erste Stelle angetreten hatte. Er betreute eine Konfirmandengruppe und hielt ihr am 13. März 1932 eine abschließende Predigt: „Keiner soll euch je den Glauben nehmen, dass Gott (…) uns das gelobte Land sehen lassen will, in dem Gerechtigkeit und Friede und Liebe herrscht, weil Christus herrscht, hier nur von fern, einst aber in Ewigkeit.“

Reisegruppenleiter Richard Grenell, zugleich seit Mai 2018 Botschafter der USA in Berlin, lud am selben Dezembertag abends in seine Residenz nach Dahlem zur Weihnachtsfeier. Geschäftsleute waren gekommen, Journalisten, Freunde, Familie, einige Politiker. Feine Häppchen wurden gereicht und Sekt und Wein, man plauderte. Der Hausherr hielt jedoch keine Rede. Er schaute nicht auf das Jahr zurück, beschwor nicht die transatlantische Partnerschaft, lobte auch nicht seinen Präsidenten. Stattdessen stellte er sich neben den schwarzen Flügel und sang mit seinen Gästen Weihnachtslieder, leise und etwas verlegen. Klassische Lieder aus den Staaten waren es, „O little Town of Bethlehem“, „Hark! The herald angels sing“ und gleich zweimal „Joy to the world“. Freude der Welt, der Herr ist da.

Wie passt das zusammen?

Wer Richard Grenell sah in stiller Einkehr in der Zionskirche mitsamt Cousins und Cousinen und Anverwandten, die zur Vorweihnachtszeit alle nach Berlin gekommen waren, oder als schüchternen Sänger christlichen Liedguts, der konnte kaum glauben, wen er da vor sich hatte. War das wirklich derselbe Topdiplomat, der durch einigermaßen undiplomatisches Gebaren für Aufruhr, Verwunderung und Irritation sorgt in Berlin und darüber hinaus?

Der in einem Brief an Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier mit dem Ende der geheimdienstlichen Zusammenarbeit droht, sollten die Deutschen den chinesischen Mobilfunkkonzern Huawei am Ausbau des 5G-Netzes beteiligen? Der gegen die Versuche der EU protestiert, durch einen finanziellen Schutzschirm die amerikanischen Iransanktionen zu umgehen? Und der zuvor deutsche Unternehmen gewarnt hatte, sich der mehrheitlich russischen Ostseepipeline Nord Stream 2 anzuschließen?

Gerechtigkeit, Gnade und Trost

Dietrich Bonhoeffer stellte sich im Gefängnis, in das ihn die Nationalsozialisten 1943 gebracht hatten, die Frage: „Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? / Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?“ Bonhoeffer ist Grenells Lebensheld. Der Protestant zählt bis heute zu den weltweit bekanntesten Theologen deutscher Sprache. In den USA, die er 1930/1931 und 1939 besuchte, wodurch er New York und insbesondere Harlem und die Abyssinian Baptist Church schätzen lernte, ist Bonhoeffers Wirkung enorm. Die populäre Lebensbeschreibung durch Eric Metaxas von 2010 dient als Indikator und Schwungrad zugleich. Richard Grenell hat sie gelesen. Eine neue Biografie legt gerade Wolfgang Huber vor, der ehemalige Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Huber schreibt in „Dietrich Bonhoeffer – Auf dem Weg zur Freiheit“, Bonhoeffer habe „die Einheit von Glauben, Lehre und Leben“ verwirklicht. Metaxas nennt ihn im Titel seines Buches „Pastor, Märtyrer, Prophet und Spion“.

Spricht man mit Richard Grenell über seine Faszination für Bonhoeffer, fallen immer wieder drei Worte: Gerechtigkeit, Gnade und Trost. Die Schriften Bonhoeffers hätten ihn getröstet in schwerer Zeit. „All the time“, sagt er sehr leise, „all the time“ habe er sie gelesen während seiner Krebserkrankung im Jahr 2013, als er sechs Chemotherapien über sich ergehen lassen musste. „Bonhoeffers Idee, dass das Leben keine bequeme Veranstaltung ist, ist ein bemerkenswertes Konzept.“ Seine Predigten, Briefe, Notizen seien so machtvoll, seine Gefühle so echt, sein Kampf sei so wirklich gewesen. Er bringe die Dinge auf den Punkt. Dem Glauben und der Glaubenskrise Bonhoeffers fühle er, Grenell, sich täglich nah.

Theologie-affine Familie

Freilich bedurfte es keiner schlimmen Diagnose, damit ein Grenell auf Bonhoeffer stößt. Der spätere Botschafter wuchs mit einem Bruder und zwei Schwestern in einer evangelikalen Familie auf, in der Bonhoeffer gewissermaßen mit am Tisch saß, mit zur Nacht ging, mit in den Rucksack wanderte bei den sommerlichen Churchcamps, die Richard ebenso besuchte, wie es vor ihm seine Mutter getan hatte. Geboren 1966 in Muskegon, Michigan (nicht in Jenison, Michigan, wie es Wikipedia behauptet), hatte Nesthäkchen Richard einen Vater, der als Missionar in Afrika wirkte, und eine Mutter, deren Vorfahren 1906 am Azusa Street Revival in Los Angeles teilgenommen hatten, der Geburtsstunde der modernen amerikanischen Pfingstbewegung. Die Mutter lebt noch, der Vater starb bereits 1990 an Krebs.

Man las in der Familie unter anderem Smith Wigglesworth und C. S. Lewis und die Bibel. Kein Wunder, dass der ältere Bruder Pfarrer wurde. Jeff Grenell, Dozent an der christlichen North Central University in Minneapolis und Gründer von Ythology, einer Glaubensinitiative für Jugendliche, war ebenfalls zu Gast in der Berliner Zionskirche – ein schlaksiger Endfünfziger in Jeans, Pullover, Jacke und mit Klabautermanngesicht. Auf Mission in Afrika und also auf Vaters Spuren weilte Jeff Grenell auch schon.

Dienst in der Welt und an der Heimat

Bei Smith Wigglesworth, in dessen Buch „Immer wachsender Glaube“, steht die Überzeugung: „Sein Wort kann jede Krankheit aus deinem Körper treiben.“ Wigglesworth, auf dessen Lektüre Grenell beim Gespräch in der Botschaft ausdrücklich hinweist, lebte von 1859 bis 1947 und war ursprünglich ein englischer Klempner. Der große evangelikale Missionar Billy Graham ließ sich von Wigglesworth inspirieren; auch diesen Zusammenhang erwähnt Grenell. Vorläufer Wigglesworth zog von Ort zu Ort, heilte und predigte: „Jeder Mensch kann durch Glauben verändert werden, egal, welche Fesseln er trägt.“ Ein Christ solle ein „wandelnder Brief Seines Wortes“ sein; „der Teufel wird dir an jeder Straßenecke begegnen, aber der Geist Gottes wird immer ein Banner gegen ihn aufrichten“.

Ob Grenell diese Worte auf sich bezieht, auf seinen Dienst in der Welt und an der Heimat, den er sehr robust ausübt? Ehe er von Donald Trump nach Berlin entsandt wurde, war Richard Grenell Kommentator gewesen, etwa für Fox News, das Wall Street Journal und die Washington Post, und sieben Jahre lang Sprecher des US-Botschafters bei den Vereinten Nationen. Keiner hatte diesen Posten länger inne.

Clive Staples Lewis wiederum, den irischen Schöpfer nicht nur der weltbekannten „Chroniken von Narnia“, studierte Grenell an der High School in Jenison neben den Schriften von Bonhoeffer, zu denen er dann am Evangel College in Springfield, der heutigen Evangel University, eine echte „Liebe“ entwickelt habe. Zuvor aber „änderte Lewis mein Leben in vielerlei Hinsicht“. Deutlicher wird Grenell an dieser Stelle nicht. Lewis war das Eintrittsbillett in eine – anders als bei Wigglesworth – intellektuelle Weise, den Glauben zu rechtfertigen, zu kräftigen.

Bonhoeffer, der Existenzielle

Lewis befreite den Boden für eine vertiefte Aufnahme von Bonhoeffer, und Lewis war Apologet: „Es sind eigentlich nicht unsere Taten, die Gott wichtig sind. Wichtig ist ihm, dass wir Geschöpfe von einer bestimmten Art oder Qualität sind – solche Geschöpfe, wie er sie sich von Anfang an gedacht hat.“ Für den Lewis der Rundfunkvorträge von „Mere Christianity“ (auf Deutsch: „Pardon, ich bin Christ“), gehalten zwischen 1942 und 1944, war die irdische Welt „vom Feind besetztes Land“ und der sündige Mensch ein „Rebell, der seine Waffen niederlegen muss“. Lewis und Wigglesworth rufen, auf unterschiedliche Weise, jeden Christen zur persönlichen täglichen Entscheidung. Für Richard Grenell war auch die Taufe – „ich war 12 oder 13 Jahre alt und wurde komplett in Wasser getaucht“ – ein solcher Akt bewusster Entscheidung.

Dietrich Bonhoeffer ist von den drei geistlichen Autoren, auf die Grenell sich in unserem Gespräch beruft – stets im Schatten der Quadriga auf dem Brandenburger Tor, die in das Zimmer des Botschafters geradewegs hineinzurollen scheint –, der sperrigste, der existenziellste. Ein Deutscher aus besseren Kreisen, ein gebürtiger Schlesier, ebenso liberal wie glaubensstark, ein mutiger Widerständler, dessen Bedeutung Wolfgang Huber so bilanziert: „Die große Fortwirkung über den Tod hinaus liegt in dem Martyrium eines Menschen begründet, der das als einen Neubeginn verstand, worin andere das Ende sahen: nämlich die Bereitschaft, für die eigenen Überzeugungen Freiheit und Leben zu riskieren.“ Da muss es doch mehr geben als eine behütete Kindheit in einer evangelikalen Familie, die den Letztgeborenen aus Muskegon, Michigan, lebenslang Dietrich Bonhoeffer und dessen aufrechten Gang in schlimmer Zeit betrachten lässt. Aber was?

Die Kraft zum Widerstand

Auf diese Frage antwortet Richard Grenell mit einem geseufzten Lächeln, einem gelächelten Seufzen. Er wolle, sagt er nach einer kurzen Pause, diesen Punkt nun wirklich nicht überbetonen, nein, das wolle er ganz und gar nicht, aber „ein schwuler Christ zu sein, trägt sein eigenes Kreuz mit sich“. Als Grenell im Mai 2018 von Vizepräsident Mike Pence zum Botschafter vereidigt wurde, hielt sein langjähriger Lebenspartner Matt Lashey die Bibel. Das Bild machte Furore. Es war das erste seiner Art. Gleich anschließend kommt Grenell auf das Verhältnis von Gerechtigkeit und Gnade zurück. Mehrere Male spricht er das Begriffspaar an und setzt es zu Bonhoeffer in Bezug. Es ist die leitende Frage in unserem Gespräch und vermutlich in Grenells bisherigem Leben.

Jeder Mensch habe mit dem „Gleichgewicht von Gerechtigkeit und Gnade“ zu kämpfen, müsse seinen persönlichen Standpunkt finden „auf einem Kontinuum aus Gerechtigkeit und Gnade“. Davon ist Grenell überzeugt. Als Beispiele führt er an: den Arzt, der den Tod eines Patienten erlebe; den Angestellten, dessen Karriere sich anders als geplant entwickle; die Familie, in der es Alkoholismus gebe, Krisen oder Sterbefälle.

Was Grenell meint, wird deutlich, wenn er dieses fragile Gleichgewicht, dieses ewige Kontinuum aus Bonhoeffers Leben herleitet: „Es ist unglaublich, dass er die Kraft zum Widerstand fand. Die Hauptlektion aber besteht für mich in der Entscheidung, wann man handelt und wann man in die Gnade zurückfällt. Bonhoeffer sah Religion als Ruf nach absoluter Gerechtigkeit. Er rang mit der Frage, was die Religion ihm aufträgt zu tun. Und er wusste, dass Gerechtigkeit der Gnade bedarf.“ Damit sind wir beim Kern gelandet von Bonhoeffers und wohl auch von Richard Grenells Denken. Die Spielräume des Lebens sind gewaltig, aber nicht unbegrenzt. Es gibt Räume des Tuns und Orte des Betrachtens, Momente der Aktion, damit Gerechtigkeit werde, und Phasen des Hinnehmens, da der Mensch auf Gnade angewiesen ist.

Die Seele in Zeiten der Einsamkeit

Manchmal muss der Mensch handeln, als gäbe es kein Morgen, und manchmal abwarten und hoffen, als wäre die Ewigkeit schon da. Lebenskunst besteht darin, das eine vom anderen unterscheiden zu können. Insofern klingt es wie ein Echo der Bonhoeffer-Lektüre, wenn Grenell, angesprochen auf seinen Ruf als ruppiger Hardliner und die oftmals harsche Kritik deutscher Medien und deutscher Politiker, erklärt: „Ich bin niemand, der den Beifall der Menge braucht. Ich denke sogar, der Beifall der Menge ist gefährlich.“

Dietrich Bonhoeffer verfasste im Sommer 1944 – rund zehn Monate vor seiner Ermordung auf Hitlers persönliches Geheiß im Alter von nur 39 Jahren, erhängt im Konzentrationslager Flossenbürg bei Weiden in der Oberpfalz – ein Gedicht über Freiheit: „Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen, / nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen, / nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.“ Seiner Verlobten schrieb er im Dezember 1944 aus dem Gefängnis: „Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt.“

Auch Mike Pence verehrt Bonhoeffer

Bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar dieses Jahres wurde zum ersten Mal der John-McCain-Dissertationspreis für herausragende akademische Leistungen vergeben. Aus diesem Anlass würdigte die Präsidentin des Bayerischen Landtags, Ilse Aigner, John McCain als eine herausragende, große Figur. Ministerpräsident Markus Söder pries mit einem schelmischen Lachen die starken Bande zwischen dem Freistaat Bayern und dem „Land der Freien“, den Vereinigten Staaten. John McCains Witwe saß in der ersten Reihe.

Dann betrat Richard Grenell die Bühne im Bayerischen Hof, sportlich, schwungvoll. Er leitete knapp über zum nachfolgenden Redner, dem zweiten Mann im Weißen Haus, und verkündete lächelnd, eines der besten Dinge an Mike Pence sei, dass sie beide, „er und ich“, einen Helden teilten. Er beugte sich vor und präzisierte, weiterhin lächelnd: „einen deutschen Helden. Wir reden viel über Dietrich Bonhoeffer und was er uns beiden bedeutet. Und Millionen von Amerikanern. Und Millionen von Deutschen.“

Dies ist ein Artikel aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.












 

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