Political Correctness an den Universitäten - „Das hat den Charakter einer Reinigungsreligion“

Siebzig deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gründen am heutigen Mittwoch das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ und wenden sich damit gegen die Reglementierung der Forschung durch falsch verstandene Political Correctness. Philosophin Maria-Sibylla Lotter erklärt, was an den Hochschulen schiefläuft.

Blick in den Hörsaal einer deutschen Universität / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Maria-Sibylla Lotter hat einen Lehrstuhl für Ethik und Ästhetik an der Ruhr-Universität Bochum. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören seit langem die Themen Schuld und Verantwortung sowie Meinungsverschiedenheiten und Streitkultur. Lotter ist Gründungsmitglied der Initiative „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit".

Frau Lotter, zusammen mit gut 70 Kolleginnen und Kollegen, darunter der Historiker Andreas Rödder und die Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann, gründen Sie heute das sogenannte „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“. Mal naiv gefragt: Die Freiheit von Forschung und Wissenschaft ist in Deutschland im Artikel 5 des Grundgesetzes geregelt. Wozu braucht es da noch ein Netzwerk?

Die Erhaltung der Wissenschaftsfreiheit ist, wie alle grundgesetzlich gesicherten Werte, nicht automatisch dadurch gewährleistet, dass man sie in ein Gesetz aufgenommen hat. Diese Freiheit muss in der Praxis immer wieder neu erarbeitet werden. Natürlich steht hier die Bundesrepublik im internationalen Vergleich noch gut da. Aber es gibt auch hierzulande Probleme. Zu einem großen Teil haben die mit den Strukturen zu tun, unter denen in Deutschland geforscht wird, mit einer Zunahme der Lehre und mit der Drittmittelabhängigkeit der Forschung. Dreiviertel der Wissenschaftler klagen laut einer Umfrage darüber, dass sie kaum noch die Muße haben, neue Ideen zu entwickeln, um so nicht immer nur das zu reproduzieren, was in dem jeweiligen Fach angesagt ist.

Sie beklagen in Ihrem Netzwerk darüber hinaus noch etwas anderes: einen zunehmenden Druck aus den Hochschulen selbst.

Ja, es gibt eine Art selbstorganisierte Unfreiheit der Wissenschaften, eine Lähmung der Streitkultur. Das ist mittlerweile in manchen Fächern zu einem massiven Problem geworden. Sie ist paradoxerweise die Spätfolge einer moralisch-politischen Reformbewegung, die eigentlich sehr gute Ziele verfolgt, nämlich für die gleichberechtigte Partizipation von Frauen, Schwarzen und Minderheiten, die früher aus dem universitären Diskurs mehr oder weniger ausgeschlossen waren. Sie ging ursprünglich von den Emanzipationsbewegungen aus: von der Schwarzen-, der Frauen-, teilweise auch der Schwulenbewegung. In ihren frühen Stadien ging es um Toleranz und Gleichberechtigung. 

Was ist an Toleranz falsch?

Maria-Sibylla Lotter / privat

Nichts. Inzwischen geht es jedoch nicht mehr um Toleranz, sondern um eine Art moralisch-politische Umerziehung, damit diejenigen, die für weniger privilegiert gehalten werden, sich nicht gekränkt oder provoziert fühlen müssen. Die damit verbundene Intoleranz gegenüber allen Äußerungen oder Positionen, die Anstoß erregen könnten, ist weder mit der Debattenkultur verträglich, die in den Wissenschaften nötig ist, um ein Problem von allen Seiten zu beleuchten, noch tut es denen gut, die man wähnt, schützen zu müssen. Da es in manchen Fächern schon seit längerem kaum noch möglich ist, Vortragende zu wirklich kontroversen Themen einzuladen, die provozieren, schwindet auch das Bewusstsein für die Bedeutung der freien Debatte, die besonders in den Kultur- und Geisteswissenschaften wichtig ist. Auf ihr beruht aber das hohe Niveau universitärer Forschung. Mit der Kultur der freien und kontroversen Auseinandersetzung sehen wir in den letzten Jahren auch den Erkenntnisgewinn zunehmend bedroht. Die Gründer des „Netzwerks Wissenschaftsfreiheit“ haben das Gefühl, dass der Zeitpunkt gekommen ist, an dem wir etwas unternehmen und wieder das Problembewusstsein für die Bedeutung einer freien kontroversen Streitkultur stärken müssen. 

Sie sprachen gerade davon, dass bestimmte Vorträge nicht mehr ohne Probleme gehalten werden können. Haben Sie das selbst auch schon erlebt?

Ich persönlich leide nicht unter Cancel-Problemen. Die Philosophie ist generell eher weniger betroffen als etwa die Sozialwissenschaften oder die sprachlichen und historischen Fächer. Aber ich merke, dass die Diskussionen in der interdisziplinären Zusammenarbeit, etwa in interdisziplinären Forschungsinstitutionen, seit gut zehn Jahren zunehmend verkrampfen. Man verhakt sich immer öfter an Themen, die im weitesten Sinne mit Political Correctness zu tun haben. Die Lockerheit und Entspanntheit im freien gemeinsamen gedanklichen Experimentieren ist bei den wirklich wichtigen politischen Themen verloren gegangen. Das ist für mich auch der Grund gewesen, warum ich mich dem Netzwerk angeschlossen habe.

In den letzten Jahren scheint sich ohnehin das universitären Selbstverständnis gewandelt zu haben. Man hat zunehmend den Eindruck, aus dem Ort des freien Diskurses ist ein Schutzraum für Minoritäten und für im weitesten Sinne Traumatisierte geworden, die sich im Schoße der Alma Mater vor Triggern und anderen Meinungen schützen wollen. Wie konnte es soweit kommen?

Das ist sehr komplex. Die Universitäten waren ja noch nie einzig und ausschließlich Ort wissenschaftlicher Erkenntnis. Denken Sie nur an die 68er: Damals wurden die Universitäten auch schon dafür genutzt, um mit neuen sozialen und politischen Erkenntnissen zu experimentieren. Wo immer es neue soziale Bewegungen gibt, spiegelt sich das auch in den Hörsälen und auf dem Campus wider. Das hat ja auch sein Gutes. Allerdings können solche Bewegungen innerhalb der Universitäten noch einmal an Schärfe gewinnen, und emanzipative Ideen erstarren oft durch ihre Formulierung als sprachwissenschaftliche oder kulturwissenschaftliche These. Denn in den Universitäten finden sich nicht wenige Wissenschaftler, die einerseits einen politisch-moralischen Beitrag für die Gesellschaft leisten wollen, dies aber auch mit dem akademischen Ziel der Entwicklung einer eigenen wissenschaftlichen Autorität verbinden, etwa als Dissertationsthese. Das tut der Flexibilität und Realitätsnähe solcher Bewegungen nicht unbedingt gut.

Ist das dann der Punkt, an dem es dogmatisch wird?

Im Moment zumindest leiden wir daran, dass die Auseinandersetzungen nicht mehr mit Humor und Leichtigkeit geführt werden. Vieles hat einen autoritären und puritanischen Unterton bekommen und kommt tantenhaft daher. Das puritanisch-Tantenhafte entspringt auch einem schlechten Gewissen: Männer haben ein schlechtes Gewissen gegenüber Frauen, Weiße gegenüber People of Color, Heterosexuelle gegenüber Schwulen, Transgender, etc. Dieses schlechte Gewissen führt schnell zu einem Kompensationsbedürfnis, und ich denke, aus diesem unfreien Gemütszustand entspringt vieles, was wir jetzt beklagen. Mich erinnert das ein wenig an die repressiven Familienatmosphären in der Generation meiner Großeltern.

Dabei scheint dieser Wille zur Moral doch eher aus den USA zu kommen.

Ja, und nur so konnten diese Bewegungen vermutlich auch den Charakter von Reinigungsreligionen und religiösen Erweckungsbewegungen bekommen. In den angelsächsischen Ländern hat es in den letzten Jahren eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit, aber auch mit den Spätfolgen der Sklaverei und Segregationszeit gegeben, die immer noch nicht überwunden sind. Die Art aber, wie etwa Diskurse über strukturelle Ungerechtigkeit und Rassismus geführt wurden, hat oft etwas Religiöses: Man spricht nicht darüber, wie die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse geändert werden könnten, sondern wie der weiße Geist von der quasi angeborenen Ursünde des Rassismus zu reinigen ist. So haben sich neue Studiengänge – Critical Whiteness Studies oder Decolonisation Studies – immer öfter auch als moralische Reinigungs- und Umerziehungsprogramme verstanden. Das liegt daran, dass der Einfluss der puritanischen Sekten in diesen Ländern weit größer ist. Uns in Mitteleuropa ist das eigentlich fremd.  

Mittlerweile scheint die Idee der Reinhaltung auch an hiesigen Universitäten angekommen zu sein. Der Frankfurter Soziologe Matthias Revers etwa will festgestellt haben, dass gut ein Drittel bis die Hälfte der Studierenden nicht mehr mit anderen Meinungen konfrontiert werden will. Was läuft da schief? 

Revers Untersuchungen beruhen auf Umfragen. Da wäre ich vorsichtig. Das, was Menschen in Umfragen sagen, hängt sehr stark davon ab, wie die Frage gestellt worden ist. Bei meinen Studierenden an der Ruhr-Universität in Bochum würde ich sagen, dass sie recht tolerant sind. Natürlich bemerken auch wir eine Veränderung des Unterrichtsklimas, aber die erachte ich noch nicht für alarmierend. Es gibt aber auch Universitäten, wo die Atmosphäre bereits weitaus angespannter ist. Das ist sehr unterschiedlich in Deutschland.

Würden Sie sagen, dass die Geisteswissenschaften eher davon betroffen sind als die Naturwissenschaften?

Ja. Die Germanistik zum Beispiel spielt bei dieser Entwicklung eine große Rolle, natürlich auch die Gender Studies. Aber es sind auch Teile der Naturwissenschaften betroffen, etwa die Biologie. Versuchen Sie mal in einem biologischen Seminar über Genetik und Vererbung zu sprechen sowie über die Frage, wie weit Weiblichkeit etwas Angeborenes oder etwas kulturell Anerzogenes ist. Das ist ein Minenfeld.

Der eben bereits zitierte Matthias Revers will in seiner Studie auch herausgefunden haben, dass Studierende, die angeben, politisch links zu stehen, sich eher gegenüber anderen Positionen abgrenzen, als Studierende, die sich als konservativ bezeichnen. Entspricht das auch Ihrer Wahrnehmung? 

Die politische Haltung steht meinen Studierenden nicht auf der Stirn geschrieben. Vielleicht entsteht dieser Eindruck, da diejenigen, die sich aktiv äußern, eher dem linken Spektrum zuzurechnen sind. Aber ich denke, da nimmt man sich diesseits wie jenseits der politischen Gräben nicht viel. Wenn Sie daran denken, dass die AfD dafür eintritt, die Gender Studies abzuschaffen, und damit in die Autonomie der Universitäten eingreift, dann ist das nicht gerade Ausdruck eines Eintretens für die Wissenschaftsfreiheit, auch wenn sie sich dieses Etikett anheften. Aber eines ist an Revers Untersuchung sicherlich richtig: Die meisten Übergriffe auf Vorträge und Vorlesungen treffen am Ende konservative Redner.

Vorbehalte jedenfalls gegenüber der je anderen Meinung scheint es in beiden politischen Lagern zu geben. Jede Seite wirft der anderen vor, ein Feind der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit zu sein.

Ja, es herrscht eine merkwürdige Verständnislosigkeit. Ich kann mir die selber nicht ganz erklären.

Wie könnte man diesem Dilemma denn entkommen?

Ich denke, das geht nur, indem man aktiv für eine Streitkultur wirbt. Man muss in der Praxis immer wieder vorführen, dass die gelebte Debatte möglich ist. Aktuell wird viel über Verbote und Angst geregelt. In einem solchen Klima wird man vorsichtig. Ich denke, wir müssen jetzt zeigen, dass eine gute Streitkultur mehr Freude macht und auch viel integrationsfähiger ist als die Erstarrung in vorsichtigen Sprachhülsen. Denn eine gute Streitkultur bietet allen die Möglichkeit, Empfindlichkeiten abzubauen und ein eigenes Selbstbewusstsein auszubilden. Das ist wesentlich effektiver, als wenn man sich als Opfer deklariert und sich in eine Art universitären Sicherheitsraum zurückzieht. 

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