Igor Levit auf Twitter - Das Medium ist die Message

Journalisten schreiben auf Twitter über Pianisten, die auf Twitter schreiben. Was der Streit über Igor Levit über den Stand der Kulturkritik und des Journalismus im Zeitalter von Social Media verrät.

Der Pianist Igor Levit spielt sein täglich per Twitter live gestreamtes Hauskonzert während der Corona-Krise / dpa
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Kennen Sie Levits Legato? Das ist angeblich nicht gut. Behauptet zumindest Helmut Mauró. In einem Feuilleton-Artikel für die Süddeutsche Zeitung schrieb der langjährige Kritiker selbiger Tageszeitung jüngst, dass der Anfang Oktober mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Starpianist Igor Levit keinen „Sinn fürs Ganze, für Spannungsaufbau, für schiere musikalische Intensität“ habe und sich stattdessen immer mehr aufs „Unverbindliche“, ja auf einen „theatralisch vorgetragenen Pathos“ verlegt habe.

Darüber müsste man jetzt eigentlich länger streiten. Man könnte zum Beispiel Levits Beethoven-Sonaten, die er während seiner täglich gestreamten Wohnzimmerkonzerte zu Corona-Lockdown-Zeiten in die isolierten Stuben hineingespielt – Mauró würde vermutlich behaupten „hineingeholpert“ – hat mit Referenzaufnahmen Claudio Arraus oder Daniel Barenboims vergleichen. Man könnte auch den Notensatz hernehmen und ihn einmal Takt für Takt mit Levits Vortrag abgleichen. 

Kritik braucht Zeit

Machen Sie das mal. Sie werden schnell merken, dass solch ein „Close Listening“ ganz schön viel Zeit in Anspruch nehmen kann. Musik, besonders wenn sie erst einmal klassisch geworden ist, ist eben nichts für gehetzte Gemüter. Joachim Kaiser, den Älteren noch bekannt als der Helmut Mauró der Achtzigerjahre, hat 1986 einmal ein Buch verfasst, für das er alle 32 Klaviersonaten Beethovens und deren Interpreten in den Blick genommen hatte. Ganze 661 Seiten hat der unumstrittene Papst der deutschen Musikkritik damals für sein Mammut-Unterfangen benötigt. Versuchen Sie so viel geballtes musikalisches Knowhow heute mal in den Tweet eines gängigen Micro-Blogs zu packen.

Und genau da liegt das Problem: Während wir nämlich über Igor Levits Legato reden sollten, reden wir lieber mit oder über Twitter. Und in ein derart modernes wie angeblich auch soziales Netzwerk passt so ein bindungsloses Legato nicht recht hinein. Seitdem Helmut Mauró seine Gedanken zu Levits Vortrag am 16. Oktober in der SZ unter der Überschrift „Igor Levit ist müde“ publiziert  – oder sollte man hier besser schreiben „abgesetzt“? –  hat, diskutiert ganz Twitter-Deutschland über alles Mögliche, nur nicht über das Legato. Das hat zum einen ganz sicher damit zu tun, dass Mauró dem Musikus in seinem Text selbst vorgeworfen hat, er würde eher durch politische Tweets denn durch Musik ein Publikum finden, zum anderen aber auch damit, dass uns in Zeiten der Micro-Blogs für echte Musikkritik ein wenig Geduld fehlt. 

Journalisten twittern

Uns, das meint in diesem Zusammenhang zuvorderst und vor allem uns Journalisten. Denn gerade für uns ist der 280-Zeichen-Nachrichtendienst längst zur zweiten publizistischen Heimat geworden – egal, ob wir zu den freien oder den abhängig beschäftigten Schreibtätigen zählen. Auf Twitter wird alles gepostet, was unserer Meinung nach von Relevanz ist. Hier wird gebasht, gehasst und geliebt, hier wird gekeift und gestritten. Egal, ob Lisa Eckhart abgecancelt oder Nena zum Covidioten-Test geschickt werden soll: Keine Bagatelle, über die sich empörte Kritiker nicht zuvor schon die Köpfe heiß getippt hätten. 

Laut einer Untersuchung des Hans Bredow Instituts aus dem Jahr 2019 nutzen fast drei Viertel der hiesigen Journalisten täglich soziale Medien für ihre Arbeit – an vorderster Front stünden dabei Facebook und Twitter. Sascha Hölig, Medienwissenschaftler und Leiter der Untersuchung warnte vor einer Twitter-Blase, in der sich die Medienberichterstattung verliere. Bei den kalifornischen Micro-Bloggern mit dem blauen Vogel-Logo nämlich seien Politiker, Kulturschaffende und Journalisten weitestgehend in der eigenen Echokammer gefangen.

Pushen, bis der Skandal kommt

Die nackten Zahlen geben Hölig Recht: 24,6 Prozent der weltweit verifizierten Twitter-Accounts werden demnach von Journalisten betrieben. Laut einer nicht repräsentativen Befragung des Medien-Trendmonitors nutzten 55 Prozent von ihnen diese Accounts vor allem für Recherchezwecke. Will heißen: ein Journalist schreibt beim anderen ab, ein Tweet pusht und retweetet einen anderen auf Skandal-Niveau hoch. „Es ist natürlich bequem, sich an den Rechner zu setzen und zu schauen, was passiert“, so Hölig in einem Interview.

Aber jede Zeit hat eben ihre publizistischen Formen und Gepflogenheiten. Und unsere Zeit hat keine Zeit mehr. Während ein Joachim Kaiser vielleicht noch über die Muße verfügte, sich weltabgewandt und ungestört durch die Waldstein Sonate hindurchzuschwelgen – und zwar von der Exposition bis zur Coda – reicht uns Heutige schon der Resonanzraum eines 280-Zeichen-Tweets, um in uns etwas zum Klingen zu bringen – und seien es auch nur niederste Instinkte.

Selbst die Literaturkritik twittert

Und was für Musik gilt, das gilt auch für Kunst, Theater, Kino, Literatur. Neulich zum Beispiel bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises: Während das via Video-Stream zugeschaltete Publikum gespannt auf die diesjährige Jury-Entscheidung nebst nachgereichter Begründung wartet, erklärt Hanna Engelmeier, ihres Zeichens nach Sprecherin der in diesem Jahr auffällig jungen Jury, dass es per se schon ein Vorteil sei, wenn moderne Literaturkritik auch twittern könne. Das Medium an sich ist eben die Message. Inhalt und Kritik sind sekundär.

Die Fallhöhe solcher sinnfreien Aussagen hat Engelmeier kurz darauf auf dem eigenen Twitter-Account zu spüren bekommen. Statt dass sich die digitalen Kulturbetrachter dort angeregt über das literarische Werk der diesjährigen Preisträgerin gebeugt und dieses mit Lob oder Tadel betwittert hätten, ergoss sich stattdessen ein Shitstorm über Engelmeier. Die nämlich hatte zur Preisverleihung ein bedrucktes Shirt getragen, auf dem eine Antifa-Flagge zu sehen war. Da musste sich manch einer aus der journalistisch begabten Netzgemeinde erst einmal mit ein paar Tweets und einem schnell getippten „Skandal!“ beruhigen.

Guldas Legato

Und so geht das nun Tag für Tag. Seitdem Journalisten in einer hauseigenen Bubble verschwunden sind, schreiben sie mit anderen Journalisten über Dinge, die wiederum nochmals andere Journalisten auf die Palme bringen mögen. Und wenn dann das große Gemurmel am Ende ist, geht es von Twitter direkt in den Druck. Und danach dann gleich der nächste Aufreger. Dazwischen vielleicht ein paar Takte Musik? Wie wäre es mit Friedrich Gulda? Achten Sie bei dem mal aufs Legato.
 

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