Tim Raue zieht blank - „Mein Vertrauen in die Regierung ist schwer erschüttert“

Sein Restaurant steht auf der Liste der besten 50 Restaurants der Welt. Doch in der Pandemie kämpft Tim Raue um die Existenz. Jetzt hat er auf Instagram einen Notruf an die Kanzlerin geschickt. Der Zwei-Sterne-Koch fühlt sich verschaukelt.

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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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„Können wir später telefonieren?" Tim Raue ist gestresst. Er steht in der Küche seines neuen Bringdienstes und fahndet nach Paketen mit Vier-Gänge-Menüs, die wegen des winterlichen Wetters irgendwo steckengeblieben sind. In der Coronakrise ist dieser Bringdienst seine einzige Einnahmequelle. Dabei gilt Tim Raue, 1974 im Wrangel-Kiez in Berlin-Kreuzberg geboren und als Jugendlicher Mitglied der türkischen Gang „36 Boys“, als einer der besten deutschen Köche. Einer, der sich der panasiatischen Küche verschrieben hat. 2017 hat ihm die Netflix-Kultserie „Chef's Table“ eine eigene Folge gewidmet. Jetzt kämpft er wie die meisten seiner Kollegen ums Überleben. 

Herr Raue, ein hübsches Foto, das Sie da auf Instagram von sich gepostet haben, mit nacktem Hinterteil. Wo wurde das geschossen?   

Auf den Malediven, da habe ich im Januar ein Pop-up-Restaurant realisiert. 

Unter dem Beitrag steht: „Wo ist die versprochene Novemberhilfe? Ich bin blank.“ Haben Sie schon Insolvenz angemeldet?   

Nein, so weit ist es zum Glück noch nicht. Ich habe zwei Firmen. Das Restaurant „Tim Raue“, das ich mit meiner Partnerin Marie-Anne Wild betreibe. Da warten wir immer noch auf die November- und Dezemberhilfen. Das sind mehrere 100.000 Euro. Mit der anderen Firma „Tim Raue“ betreibe ich die anderen acht Restaurants und mache Fernsehen. Mit der Firma habe ich schon länger nichts mehr eingenommen, weil die Restaurants seit Monaten geschlossen sind. Am Montag waren beide Konten im roten Bereich. Ich war blank.

Screenshot / Instagram @timraueofficial 

Sie standen am Geldautomat, und es kam kein Geld?

Nein, so schlimm war es nicht. Irgendwas gibt es immer noch. Die Banken sind da großzügig – wenn auch zu Zinssätzen, die man nicht braucht. Aber ich war richtig angepisst.

Weil die Regierung ihr Versprechen nicht gehalten hat?

Genau. Was mich so unglaublich frustriert, ist, dass die Regierung so tut, als könnten wir Bürger glücklich sein, wenn wir etwas von ihr bekommen. Dabei hat sie uns doch versprochen, dass sie uns das Geld dafür gibt, damit wir unsere Restaurants schließen. Glücklicherweise habe ich ihr nicht geglaubt.

Was heißt „glücklicherweise“?

Wir haben schon im ersten Lockdown einen Lieferdienst aufgebaut. Der hat uns finanziell gerettet. Sonst wären wir jetzt wirklich insolvent und könnten wir unsere Mitarbeiter nicht mehr bezahlen. Auch das Kurzarbeitergeld wird ja mittlerweile mit einer Verzögerung von 6 bis 8 Wochen ausgezahlt. Stellen Sie sich mal vor, Sie würden dem Finanzamt die Steuer erst drei Monate später zahlen.

Undenkbar.

Genau. Aber dass die Regierung uns etwas verspricht und es dann nicht hält, und dass Olaf Scholz dann auch noch ins Fernsehen geht und so tut, als wäre alles gut, obwohl er weiß, dass das nicht der Fall ist – da muss ich sagen: Die machen es sich sehr, sehr einfach im Moment. Früher sind Politiker für weniger zurückgetreten.

Die Regierung hatte versprochen, die Hotellerie und Gastronomie mit bis zu 75 Prozent  vom Umsatz des Vorjahresmonats zu unterstützen. Haben Sie mal nachgefragt, warum das Geld nicht ankommt?

Das ist ja das Problem: Es gibt niemand, der Ihnen Auskunft gibt. Die Kommunikation verläuft zwischen Ihrem Steuerberater und der IBB Investitionsbank, die dafür zuständig ist. Die wiederum verweist an das Land Berlin, das die Summe auszahlen muss. Aber Sie erreichen nirgendwo jemanden.

Aber inzwischen hat sich jemand bei Ihnen gemeldet?

Genau, ich war am Montag zu Gast in der Sat.1 Talkshow von Marlene Lufen. Und tatsächlich hat sich am Dienstag die IBB-Bank bei meinem Steuerberater gemeldet und ihm gesagt, dass ich das unfassbare Glück habe, dass ich zu den 250 von 30.000 Antragstellern in Berlin gehöre, die jetzt geprüft werden.

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Dann hat sich der Auftritt bei Sat.1 doch gelohnt.

Na ja, es hieß, die Auszahlung könne sich noch bis in den März ziehen.

Die Bundeskanzlerin hat am Donnerstag in ihrer Regierungserklärung gesagt, jetzt klappe es aber wirklich mit der Auszahlung. Vertrauen Sie ihr noch?

Nein, ich bin kein Corona-Leugner oder irgendein Spinner, der meint, er müsse auf die Straße gehen. Aber eins muss ich klar sagen: Mein Vertrauen in die Regierung ist schwer erschüttert.

Damit stehen Sie nicht allein. Unter Ihrem Instagram-Post haben viele Kollegen gepostet, dass sie auch immer noch auf das Geld warten. Ist Ihr Hilferufe denn jetzt zumindest in der Politik angekommen?

Na ja, war das ein Hilferuf? Oder habe ich mich nicht nur eine Runde ausgekotzt? Wenn mich jemand anpisst, bin ich auch sauer. Dann ist es schwierig, mit mir eine Konversation zu beginnen. Ich bin aber immer noch in Kontakt mit Politikern aus den Regierungsparteien, wenn es um Corona geht.

Weil die bei Ihnen essen gehen?

Nein, die habe ich im ersten Lockdown in Arbeitsgruppen des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands (Dehoga) kennengelernt. Da bin ich reingerutscht, weil ich um meine Meinung gefragt wurde. Es gibt keine Branche, die so schnell war, als es um Sicherheitskonzepte ging. Wir haben Plastiktrennscheiben zwischen den Tischen eingezogen und alle Hygiene-Maßnahmen übererfüllt. Wir haben zwei Trotec Raumluftreiniger, die im 10-Minuten-Takt die gesamte Luft filtern. Whatever. Diese Maßnahmen aber wurden gar nicht in Betracht gezogen. Dabei gehöre ich zu denen, die solche Maßnahmen befolgen –und zwar, ohne zu jammern.

So pflegeleicht wie Sie sind nicht alle Ihrer Kollegen. Einige haben versucht, sich im ersten Lockdown zu bereichern. Deswegen werden die Hilfen jetzt doppelt und dreifach geprüft.

Ja, es gibt ein paar dumme Gastronomen, die haben sich 2020 anonym zitieren lassen und gesagt, ach, 75 Prozent vom Umsatz, da verdienen wir ja mehr, als wenn wir jetzt geöffnet hätten. Idioten gibt es leider überall. 

Ist es vor diesem Hintergrund nicht verständlich, dass sich die Auszahlungen verzögern, weil die Regierung alles doppelt und dreifach prüft ?

Wissen Sie, von den 40 oder 50 Gastronomen, die ich in Berlin kenne, gibt es vier oder fünf, die wenigstens Abschlagszahlungen bekommen haben. Nach welchen Kriterien, das ist völlig intransparent. Ich lebe auch in Österreich, weil meine Frau Österreicherin ist. Befreundete Gastronomen haben mir berichtet, dass die November- und Dezemberhilfe dort binnen zweier Wochen ausgezahlt wurden. Das große Deutschland hat viel versprochen – aber praktisch ist das erbärmlich umgesetzt worden. 

Was bedeutet es für Sie, wenn mehrere 100.000 Euro fehlen? Mussten Sie schon Mitarbeiter entlassen?

Nein, wir sind da solidarisch. Wir haben den 37 Mitarbeitern unseres Hauptrestaurants nahezu durchweg 100 Prozent ihres Einkommens gezahlt. Wir haben niemanden wegen Corona entlassen.

Aber woher kommt das Geld?

Vom #FuhKinGreat Lieferservice Konzept. 

Ein Wunder, dass es diesen Service noch gibt. Auch der erste Lockdown war schon hart genug.

Das stimmt. Aber meine persönliche Rentenvorsorge ist dafür draufgegangen. Die ist weg. Alle liquiden Mittel, die ich gebunkert hatte, sind auch weg.

Der Lieferservice ist Ihr Anker?

Genau, vor der Pandemie hat der Gast im Restaurant „Tim Raue“ durchschnittlich 300 Euro bei uns gelassen. Jetzt verschicken wir täglich 4-Gänge-Menüs zu einem Viertel vom Pro-Kopf-Umsatz. Das heißt, wir müssen viermal so viel arbeiten, damit das Geschäft funktioniert.

Wie geht das?

Wir haben harte Einschnitte vorgenommen. Wir putzen und spülen selbst. Woran wir niemals sparen würden, ist die Qualität der Lebensmittel und der Mitarbeiter.

Vier-Gänge-Menü in Plastikbehältern, wie passt das zusammen?

Wir haben natürlich den Anspruch, so nachhaltig wie möglich zu arbeiten. Das ist schwierig, weil es kaum noch nachhaltiges Verpackungsmaterial gibt. Wir müssen die Menüs in Styroporboxen verschicken. Nur noch 10 bis 15 Prozent der Essen gehen nach Berlin, den Rest schicken wir in den Rest der Republik.

Wie wichtig ist die Gastronomie als Standortfaktor?

Elementar. Der erste Ort ist das eigene Wohnzimmer, der zweite Ort der Arbeitsplatz und der dritte das Restaurant. Der Ort, wo wir neue Kontakte knüpfen und alte vertiefen. Da wird gelacht. Das fehlt jetzt. Wenn ich nach Feierabend durch die Stadt fahre, ist die atmosphärisch tot. Das ist ein Trauerspiel.

Dabei war Berlin gerade dabei, sich einen Namen als Mekka für Genießer zu machen. Was schätzen Sie, wieviele Restaurants werden die Krise nicht überleben?

Kann ich nicht beantworten. Wir haben zwar unfassbar viele Restaurants, aber keine internationalen und nationalen Gäste mehr. Das Angebot ist größer als die Nachfrage. Entsprechend groß war der Ansturm im Sommer nach dem Ende des ersten Lockdowns. Für viele Gastronomen war es der Sommer ihres Lebens.

Für Sie auch?

Klar, aber für uns ist das nicht relevant. Seit unser Restaurant auf der Liste der TheWorlds50Bestrestaurants steht, ist es immer ausgebucht. Wir haben nie freie Plätze. Für uns ist es egal, ob es draußen schneit oder die Sonne scheint.

... der Laden brummt?

Wir waren immer drei Monate im voraus ausgebucht.

Jetzt verschicken Sie Ihr Essen in Styroporboxen. Kratzt das nicht am Ego?

Ich bin ein unglaublich flexibles Kerlchen. Ich habe eine beschissene Kindheit und Jugend gehabt. Ich hab mich immer durchgekämpft. Ich habe gelernt, mich auf neue Situationen anzupassen. Es mag abwegig klingen, aber ich habe damit gerechnet, dass so ein Lockdown kommt. Ich hab gleich ein Konzept geschrieben.

Tragen Sie da nicht ein bisschen dick auf?

Nein, ich  habe das Glück gehabt, dass ich schon viel in meinem Leben gemacht habe. Ich war nie nur der Zwei-Sterne-Koch. Ich hab zum Beispiel auch für die Lufthansa gekocht. Da müssen Sie lernen, Essen für die Business-Class und für die First Class zu machen. Ich habe auch gelernt, wie man vegane Lebensmittel verschicken kann.

Jetzt sagen Sie aber nicht, Sie würden notfalls auch noch Currywurst verkaufen.

Doch, ich bin mir für nichts zu schade. Wenn wir unseren Laden nur durchbringen könnten, indem ich Currywurst und Pommes verkaufe, würde ich auch versuchen, die beste Currywurst zu verkaufen und mich in die Kälte stellen.

Aber wer kauft denn Zwei-Sterne-Essen in Fast-Food-Boxen?

Wir kriegen viel Feedback auf Instagram, wo die Leute ihr Essen posten. Das Publikum ist gemischt. Es sind Kunden, für die der Weg nach Berlin zu weit gewesen wäre. Foodies, die grundsätzlich gern essen und bei den besten Köchen der Republik bestellen. Es gibt auch welche, die auf dieses Essen sehr lange sparen.

Kommt gar keine Kritik?

Doch, es gibt den einen oder anderen, der den Vakuumbeutel und das Wasserbad nicht zusammenkriegt.  Aber die größte Herausforderung ist die logistische. Die Essen sind vorgekocht und vorgegart. Wenn Pakete im Schneesturm verlorengehen und die Kühlkette nach 24 Stunden abreißt, ist Feierabend.

Werden Sie dieses Konzept auch beibehalten, wenn die Pandemie vorbei ist?

NEIN, NEIN, NEIN. Das ist so, als müssten Sie im Sommer mit nackten Füßen über den Sand laufen. Wenn Ihnen nichts anderes übrig bleibt, dann machen Sie das. Ich glaube, dass das in Zukunft ein Zusatzgeschäft an Feiertagen wie Weihnachten sein kann. Aber in erster Linie wollen die Menschen doch ins Restaurant.

Gerade sind Sie in einer Talkshow bei Sat.1 aufgetreten, in der es um die psychischen Auswirkungen um Kinder aus Problemfamilien ging. Sie sind selbst bei einem gewalttätigen Vater aufgewachsen. Was denken Sie, wenn Sie Berichte darüber lesen, dass solche Kinder gerade besonders unter der Isolation leiden?

Scheiße, da wird mir richtig mulmig, weil ich weiß, was das bedeutet. Kinder sind unsere Zukunft. Die waren jetzt fünf Monate im Lockdown. Für uns Erwachsene mag das mit Netflix und erhöhtem Alkoholkonsum möglich sein. Aber für Kinder ist es einfach Scheiße.   

Sie haben sich mit 13 einer Gang angeschlossen. Heute sind Sie Zwei-Sterne-Koch. Wie haben Sie die Kurve gekriegt?

Ich habe einfach Glück gehabt. Ich hatte viel Kraft und Energie. Was ich auf der Straße in sportlichen Zweikämpfen ausgelebt habe, konnte ich in der Küche meines Ausbildungsbetriebs in 14-Stunden-Tagen in einer Sechs-Tage-Woche ausleben. Da zählt Leistung. Das ist es, was mich angespornt hat. Und die Bestätigung. Wenn sie 100 Essen am Tag rausgeben, kriegen Sie mindestens 80 Mal ein Feedback.

Sie sind vorher von mehreren Schulen geflogen, weil Sie so schwierig waren. Als Azubi wurden Sie in der Küche bestimmt erstmal zusammengefaltet.

Das hat mein Lehrherr versucht. Das hat aber nicht geklappt. Er hat gemerkt, dass ich besonders widerstandsfähig bin. Und wer schneller und härter ist, der bekommt auch mehr Verantwortung. Ich bin daran nicht zerbrochen, sondern gewachsen. Das habe ich auf der Straße gelernt. Und das hat mir auch in der Pandemie geholfen. Wenn die Gefahr am größten ist, bin ich am effizientesten.

Wie haben Sie Ihre Liebe zum Essen entdeckt?

Ich hab tatsächlich schon immer gerne gegessen. Das kam aber auch daher, dass ich als Jugendlicher wusste, was Hunger ist.

In einem Land wie Deutschland ist das schwer vorstellbar.

Ich habe nicht genug zu essen bekommen, weil meine Eltern nicht für mich gesorgt haben. Wenn überhaupt, hab ich einmal am Tag was im Hort  bekommen. Dementsprechend wertvoll war das für mich. Ich habe nicht geschlungen. Ich mochte schon immer Aromen. Vielleicht ist das ein Talent. Dass ich präzise schmecken kann.

Ist Essen Trost?

Definitiv.

Was tröstet Sie, wenn es Ihnen schlecht geht?

Da falle ich in meine Kindheitsmuster zurück. Das ist Fast Food. Currywurst mit Pommes. Döner Kebab. Und Eis. Ich bin schwer zuckersüchtig. Damit kämpfe ich seit Jahrzehnten. Wenn der Tag vorbei ist, möchte ich Energie in mich reinschlagen. Deshalb habe ich keine Fitnessfigur.

Eis formte diesen Körper?

Das ist meine Droge. Dafür trinke ich kaum Alkohol und brauche keine Kippen. Wenn Sie versuchen, mir einen Eisbecher wegzunehmen, ist es, als würden Sie versuchen, einem Pitbull-Terrier den Knochen zu klauen. Keine gute Idee.

Hat Kochen Ihr Leben gerettet?

Nö, ich wäre auch als Krimineller erfolgreich geworden. Ich bin einfach jemand, der nicht aufgibt. Der sich reflektiert und versucht, sich weiterzuentwickeln.

Haben Sie jetzt schon einen Plan B für den Fall, dass die Gäste nach der Krise nicht wiederkommen und Sie umsatteln müssen?

NEIN, das ist unrealistisch. Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist, dass wir das Restaurant temporär schließen und wir uns verschulden müssen, um das Defizit zu kompensieren. Das halten wir zwar nicht für erstrebenswert. Aber wir würden es in Kauf nehmen. Wir lieben es, Gäste zu begeistern. Wir sind Vollblutgastronomen.  

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt. 

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