Als ich elf Jahre alt war, wollte ich mich umbringen, weil mein Vater mich ständig verprügelte. Ich kletterte auf einen Strommast und stieg nur herunter, weil ein Passant mir gut zuredete. Mit 15 Jahren verlor ich einen guten Freund. Er gehörte meiner Berliner Straßengang an, war Sprayer und starb vor meinen Augen. Er riss in einer fahrenden U-Bahn die Tür auf, winkte uns zu und wurde vom Mast einer Signalleuchte erfasst. Ich habe gesehen, wie das Leben aus ihm wich.
Heute bin ich ein glücklicher Mensch. Ich treffe nur Menschen, die ich treffen will, ziehe nur Kleider an, die ich tragen will. Die Arbeit in der Küche hat mich gelehrt, Zusammenhänge zu erkennen und mich selbst zu begreifen. Müsste ich heute abtreten, bereute ich nichts. Für die Dinge, für die ich mich schäme, habe ich mich entschuldigt. Es ist gut so, wie es ist.
Den letzten Tag möchte ich in der Wohnung meines besten Freundes verbringen. Mit Blick auf Westberlin, am großen Tisch, an dem wir oft saßen. Die Menschen, die mir am wichtigsten sind, sollten dabei sein. Die Hälfte der letzten 24 Stunden will ich nutzen, um mich mit ihnen zu unterhalten. Mein Ratschlag an sie wäre: Lebt so unabhängig wie möglich. Seid neugierig, liebt viel, teilt viel – ohne im Gegenzug etwas zu erwarten. Das kann eine unglaubliche Erfüllung sein. Das Materielle kommt und geht.
Jeder Teller hat eine Geschichte
Die zweite Hälfte des letzten Tages werden wir gemeinsam essen und trinken. Mit guten Weinen und den drei Gerichten, die mir am meisten bedeuten. Ich koche ein letztes Mal Berliner Senf-Ei, Wasabi-Kaisergranat und Maiale al Sugo. Jedes Gericht ist eine Facette meiner Persönlichkeit, jeder Teller hat eine Geschichte. Mit dem Berliner Senf-Ei habe ich am Anfang der nuller Jahre erstmals Aufsehen erregt. Meine Großmutter kochte das Ei hart, legte es in eine Soße aus Hühnerbrühe, Sahne, viel Senf, dazu gab es Kartoffelpüree und Rote Bete. Bei mir sind die Eier weich, die Soße ist schaumig, die Rote Bete wird fein gerieben, mit Himbeeressig und Jalapeño-Chilis gewürzt, dazu gibt es Kartoffelpüree und -chips, am Schluss kommt Imperialkaviar auf das Ei.
Jeder Koch sollte mindestens ein Gericht haben, das sein Leben lang mit ihm verbunden wird. Bei mir ist es der Kaisergranat mit Wasabi. Etwas Besseres ist mir nie gelungen. Da kommt zusammen, was eigentlich nicht zusammengehört, ein chinesisches und ein japanisches Produkt. Es schmeckt jedem. Das dritte Gericht wäre sizilianischer Gulasch, Maiale, aus Schweinebäckchen vom Iberico-Schwein, eingekocht in Datteltomaten. So wie dieses Maiale stelle ich mir mein Leben im Alter vor: ein Teller voller Liebe und Wärme, den man nicht erklären muss. Man isst mit dem Löffel und schleckt den Teller ab. Da geht es nicht um Perfektion, sondern das pure Erlebnis. Perfektion schiebt Liebe beiseite und versteckt unsere Fehler. Aber auch die gehören zum Leben.
Kurz vor Mitternacht höre ich Chopin. Etüde 25 in As-Dur, gespielt von Artur Rubinstein. Sie ist meine Aufwach- und Entspannungsmusik, mit ihr möchte ich dahingleiten. In meinem Leben ging immer eine Tür auf, wenn sich eine andere geschlossen hatte. Ich glaube, wenn für mich hier unten Feierabend ist, wird das auch so sein.
Dieser Text ist in der September-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.
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