Thilo Sarrazin und Nassim Nicholas Taleb - Deutschland kann keine Debatte

Thilo Sarrazins neues Buch wird fast einhellig verrissen. Dennoch steht es auf Platz 1 der Bestsellerliste. Es erhält nun argumentative Schützenhilfe von unerwarteter Seite: vom amerikanischen Bestsellerautor Nassim Nicholas Taleb

Thilo Sarrazin beschwört in seinem neuen Buch ein heikles Programm / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Damit war zu rechnen: Das fünfte Sachbuch des Thilo Sarrazin erreicht wie alle vier Vorgänger die Spitzenposition im Handel. Kein Buch wird derzeit in Deutschland öfter verkauft als „Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“. In Österreich und der Schweiz ist es nicht anders. Das Buch hat Schwächen. Davon war in zahllosen Kritiken ausführlich zu lesen. Die Parallellektüre des neuen Sachbuchs eines anderen Bestsellerautors, Nassim Nicholas Taleb („Der schwarze Schwan“), bringt Stärken an den Tag.

„Feindliche Übernahme“ wird härter noch und allgemeiner abgeurteilt als „Deutschland schafft sich ab“ oder „Der neue Tugendterror“. Dazu beigetragen haben gewiss die polemischen Schroffheiten und monokausalen Deutungen des Autors – „Stark sind die islamischen Länder nur beim Bevölkerungswachstum“ – wie auch dessen kulturpolitische Mission: Die „allmähliche demografische Überwältigung durch den Islam“ müsse der Westen verhindern, indem er die „kulturelle Führung“ übernehme und allem „das Wasser“ abgrabe, „was unserer Kultur feindlich gegenübersteht.“ Ein heikles Programm wird da beschworen, aber keine rassistische Agenda. In den Worten des Politikwissenschaftler Johannes R. Kandel, des langjährigen Akademiedirektors bei der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung und Autors von „Islamismus in Deutschland“: „Sarrazin präsentiert durchaus Bekanntes, aber in zugespitzten, plakativen Zusammenfassungen und mit gewaltigem Zahlenmaterial“. 

Moralität von der Minderheit durchgesetzt

Kandel hält „Feindliche Übernahme“ für „hilfreich“ und „informativ“ und steht damit fast allein auf weiter Flur. Ahmad Mansour konstatierte, es sei „gut, dass wir durch Sarrazins Thesen gezwungen werden, Stellung zu beziehen und wieder Probleme diskutieren, die sich durch Tabuisierung oder Nichtbenennung nicht lösen, sondern zu einer weiteren Spaltung unserer Gesellschaft führen.“ Ansonsten soll nach mehrheitlich veröffentlichter Meinung das am meisten nachgefragte Buch dadurch von weiterer Verbreitung abgehalten werden, dass man es verdammt, ohne sein Anliegen näherhin zu diskutieren. Ebendieses Sarrazinsche Anliegen aber ist auch der Schreibimpuls des Auflagenmillionärs Nassim Nicholas Taleb: die Frage nämlich, ob eine entschlossene Minderheit durch energisches Auftreten und demografische Praxis zur Mehrheit werden kann.

Die Antwort des Mathematikers und philosophischen Essayisten Taleb ist ein klares Ja. Er erläutert dieses Ja anhand der „Verbreitung des Islam im Nahen Osten“ und des Siegeszugs der „Halal“-Produkte in „England und anderen nominell christlichen Ländern“. In „Skin in the game“, soeben auf Deutsch erschienen unter dem Titel „Das Risiko und sein Preis“, erklärt Taleb die „Vorherrschaft der eigensinnigen Minderheit“: „Es genügt, dass eine kompromisslose Minderheit (…) einen bestimmten, sehr niedrigen Schwellenwert erreicht – sagen wir 3 oder 4 Prozent der Gesamtpopulation –, und die gesamte Population muss sich ihren Prioritäten unterwerfen.“ Die „Diktatur der Minderheit“ beruhe darauf, dass die Mehrheit eben nicht ihre Haut, nicht ihre Seele aufs Spiel setze und so gerade die intoleranteste Minderheit gewähren lasse. Taleb bilanziert: „Moralität ist wahrscheinlich etwas, das durch eine Minderheit zwangsweise durchgesetzt wird.“

Intoleranz den Intoleranten

Im Fall des Islam kommen laut Taleb zwei einschneidende Dogmen hinzu: In gemischtreligiösen Ehen müsse der Mann konvertieren und sei das Kind dann „automatisch auch Muslim“; ferner „ist die Konversion zum Islam unumkehrbar. Glaubensabfall ist das schlimmste religiöse Verbrechen überhaupt und wird mit der Todesstrafe geahndet.“ Beide Regeln zusammen hätten dafür gesorgt, dass im ehemals mehrheitlich christlichen Ägypten „eine kleine islamische Gruppe, die das koptische Ägypten besetzt hält, im Laufe der Jahrhunderte die Kopten zu einer winzigen Minderheit schrumpfen lässt. Dazu bedarf es nur einer kleinen Rate interreligiöser Eheschließungen.“ Schon in „Der schwarze Schwan“ hatte Taleb auf die „Unterschiede bei der Geburtenrate“ zwischen Christen und Muslimen hingewiesen. Das klingt fast wie Sarrazins „allmähliche demografische Überwältigung“, freilich im Ganzen geschmeidiger, humorvoller, plaudernd, nicht belehrend.

Taleb lässt sich widersprechen. Sarrazin lässt sich widersprechen. Taleb scheint Sarrazin, den er vermutlich gar nicht kennt, zu widersprechen, wenn er warnt, man dürfe nie „das, was in den Daten nicht auftaucht, außer Acht lassen. Die Abwesenheit von Schwarzen Schwänen in den Aufzeichnungen bedeutet nicht, dass es keine gab.“ Der Libertäre Taleb und der staatsfixierte Trendfolger Sarrazin werden in dieser Hinsicht nicht zusammenkommen. Beide aber verdienen es, dass sie diskutiert werden. Thesen, die nicht offen erörtert werden, bewahrheiten sich desto leichter. Elefanten, vor denen man die Augen verschließt, zertrampeln alle Blumen. „Eine intolerante Minderheit“, schreibt Nassim Nicholas Taleb mit Blick auf den Salafismus, „kann die Demokratie unter ihre Kontrolle bringen und zerstören. Wir müssen mit gewissen intoleranten Minderheiten mehr als intolerant sein. (…) Im Moment ist der Westen dabei, Selbstmord zu begehen.“

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