Nach Abschied vom „Tagesspiegel“ - Harald Martenstein und die Grenzen des Sagbaren

Nach 34 Jahren und unzähligen Texten verlässt der Kolumnist Harald Martenstein den „Tagesspiegel“. Dem vorausgegangen war ein Streit um eine Kolumne, in der Martenstein befand, „Judensterne“ auf Corona-Demos seien nicht antisemitisch. Und mal wieder drängen sich Fragen auf: Wollen wir in einer Gesellschaft leben, die in der Lage ist, umstrittene Thesen sachlich zu diskutieren? Oder lassen wir zu, dass Einzelne definieren, wo die Grenzen des Sagbaren liegen?

Kolumnist und Autor Harald Martenstein / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Wer sich journalistisch mit der eigenen Zunft und damit auseinandersetzt, wie Medien rezipiert werden, entwickelt über die Jahre gewisse Antennen für Sätze und Passagen, die zu einem „Aufschrei im Netz“ führen könnten. So heißt es gerne, wenn im Internet zu Fackeln und Mistgabeln gerufen wird. Der Grund ist meist, dass irgendwer meint, in irgendeinem Text irgendeines Autors irgendeinen Ismus dechiffriert zu haben.

In der Folge wird aus einem gefühlten Tabubruch ein realer Tabubruch konstruiert – und auf Basis des Konstruierten eine Kampagne vom Zaun gebrochen, die zum Ziel hat, die Integrität des Schreibers in Zweifel zu ziehen. Wer ein „Unmensch“ ist, ein „Hetzer“ und ein „Brandstifter“, dem muss man nicht zuhören, weil alles, was er schreibt, ohnehin auf einer zweifelhaften Gesinnung fußt – und damit per se falsch sein muss.

Aus jeder Überlegung wird eine Haltung extrahiert

Zuvorderst ist genanntes Reiz-Reaktionsmuster intellektuell eher Feldwegniveau. Für streitbare Publizisten – in der Regel weiß, männlich und dezidiert nicht links – ist es gleichwohl zu einer großen, vielleicht der größten Herausforderung ihres Schaffens geworden, sich dem entgegenzustellen. Eine streitbare These, ein verunglückter Vergleich, ein „umstrittener“ Nebensatz reichen heute aus, damit die Empörungshölle über einen hereinbricht. Hart im nehmen zu sein, kann da nicht schaden. Denn aus jeder Überlegung wird eine Haltung extrahiert. Und jede Position abgeklopft darauf, welche unangenehmen Zeitgenossen das genauso sehen könnten. Womit wir bei Harald Martenstein angekommen wären.

Nach 34 Jahren und unzähligen Texten verlässt der Kolumnist, der auch für Die Zeit schreibt, den Tagesspiegel. Das hat er in seiner letzten Kolumne für die Zeitung angekündigt. Die ist beim Tagesspiegel hinter der Paywall, kann aber auf der Webseite des Autors gelesen werden. Dem Abschied vorangegangen war ein Streit um eine Kolumne Martensteins, in der er die Position vertrat, dass es nicht antisemitisch sei, wenn Menschen auf einer Corona-Demonstration einen „Judenstern“ tragen. Im Wortlaut liest sich die entscheidende Passage aus Martensteins Kolumne vom 6. Februar 2022 so:

Wer den Hitlervergleich bemüht, der natürlich nie stimmt, möchte sein Gegenüber als das absolut Böse darstellen, als Nichtmenschen. Der Vergleich will Hitler gerade nicht verharmlosen, er macht ihn zu einer Art Atombombe, die einen politischen Gegner moralisch vernichten soll. Der Judenstern dagegen soll seine modernen Träger zum absolut Guten machen, zum totalen Opfer. Er ist immer eine Anmaßung, auch eine Verharmlosung, er ist für die Überlebenden schwer auszuhalten. Aber eines ist er sicher nicht: antisemitisch. Die Träger identifizieren sich ja mit den verfolgten Juden. Jetzt werden auf Corona-Demos häufig Judensterne mit der Aufschrift „ungeimpft“ getragen. Von denen, die das „antisemitisch“ nennen, würden wahrscheinlich viele, ohne mit der Wimper zu zucken, Trump mit Hitler und die AfD mit den Nazis vergleichen. Der Widerspruch in ihrem Verhalten fällt ihnen nicht auf.

98 Prozent des schreiberischen Potenzials

Kein Geheimnis ist, dass einem Teil der Belegschaft des Tagesspiegels ein Martenstein schon länger ein Dorn im Auge war, weil zu alt, zu weiß und aus der Perspektive hochsensibler Progressiver sowieso zu reaktionär. Selbst das Gendern findet er doof. Gleichwohl ist Martenstein eben einer, der, wie der österreichische Journalist und Moderator Michael Fleischhacker in seinem jüngsten Newsletter schreibt, „ungefähr 98 Prozent des schreiberischen Potenzials im Tagesspiegel“ repräsentierte.

Anders formuliert: Was einer wie Jan Fleischhauer lange für den Spiegel war, war Martenstein all die Jahre für den Tagesspiegel. Einer, der sich nicht scheute, im eigenen Haus anzuecken, weil er das eben ziemlich gut konnte. Aber auch einer, dessen Ansichten sie beim Tagesspiegel – wenn auch mit geballter Faust in der Tasche – schon deshalb zu tolerieren wussten, weil er als Beweisschreiber für etwas stand, das sich Redaktionen im Sinne der Außenwahrnehmung gerne ans Revers heften: dass es innerhalb der Redaktion einen gewissen Meinungspluralismus gäbe.

Was in der Causa Harald Martenstein und Tagesspiegel wirklich dran war am Meinungspluralismus, steht freilich auf einem anderen Blatt. Es ist jedenfalls vielsagend, dass der Tagesspiegel Martensteins Kolumne vom 6. Februar 2022 schließlich von der Internetseite der Zeitung löschte, also „depublizierte“, wie es im Mediensprech neudeutsch euphemistisch heißt. Ein Schachzug, der nicht klug ist, nicht ratsam, wenn die Empörungswelle längst rollt, weil ein solcher Text dadurch nicht an Strahlkraft verliert, sondern diese erst so richtig entfaltet – und das leidige Gelösche ohnehin kontraproduktiv ist, wenn man meinungspluralistisch sein will.

Hinzu kommt: Wer Martenstein nun entgegenhält, er sei vom Tagesspiegel nicht gecancelt worden, sondern habe sich mit seinem angekündigten Rückzug quasi selbst gecancelt, verkennt, dass auch Kolumnisten Prinzipien haben. Und eines lautet: Sie müssen sich der Rückendeckung der Chefredaktion gewiss sein, auch und besonders dann, wenn sich in den immerzu empörten Weiten des Internets ein Entrüstungssturm gegen sie zusammenbraut. Dass sich Martenstein nicht mehr auf den Tagesspiegel verlassen kann, das hat die Zeitung mit ihrer Löschaktion unterstrichen. Und deshalb ist es auch folgerichtig, dass Martenstein den Tagesspiegel verlässt; schon der eigenen Glaubwürdigkeit wegen.

Die viel zitierten Grenzen des Sagbaren

Ist es also antisemitisch, wenn Menschen auf Corona-Demonstrationen Judensterne tragen? Martensteins These, dass dem nicht so sei, ist, nüchtern betrachtet, einerseits nicht so irre empörend, wie von manchen getan und geschrieben wird. Andererseits ist seine These aber auch nicht so überzeugend, dass man sie an dieser Stelle vehement verteidigen müsste. Der entscheidende Punkt ist ohnehin ein anderer: Wollen wir in einer Gesellschaft leben, in der auch streitbare bis umstrittene Thesen diskutiert werden? Oder lassen wir zu, dass Einzelne definieren, wo die viel zitierten „Grenzen des Sagbaren“ verlaufen – auch für Kolumnisten?

Die Empörungswelle samt Löschaktion durch den Tagesspiegel ist jedenfalls ein gutes Beispiel dafür, dass es da draußen genügend Menschen gibt, die sich zur Aufgabe gemacht haben, entscheiden zu wollen, was geschrieben werden darf und was nicht. Das ist freilich keine neue Erkenntnis. Bemerkenswert ist dennoch, dass gewisse Internetmobs tatkräfige Schützenhilfe von Leuten erhalten, die selbst Journalisten sind. Von jenen nämlich, die meinen, besonders progressiv und aufgeklärt zu sein, sich aber von jeder Zuspitzung, jeder steilen These, jeder unbequemen Meinung triggern lassen, als hätte gerade jemand ihre Katze getreten.

Der Kampf der Gerechten

An vorderster Front kämpft derzeit etwa die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann den Kampf der Gerechten. In einer Kolumne für T-Online, in der sie ironischerweise die schlimme Debattenkultur im Netz beklagt, knöpft sie sich nicht nur Martenstein vor, sondern auch Focus-Kolumnist Jan Fleischhauer und Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt. Martenstein wegen seiner Kolumne, Fleischhauer wegen eines Textes, in dem er sich Gedanken zur Frage macht, wie sozialistisch die Nationalsozialisten waren, und Poschardt, weil der „seine Reichweite durchgehend destruktiv“ (Diekmann) nutze. Über Martenstein und Fleischhauer schreibt sie etwa: „Beide sind seit Längerem dabei und man kann beobachten, wie sie das elegante Tänzeln entlang der Grenze des Sagbaren zu genießen scheinen.“

Diekmanns Kolumne ist ein gutes, aber bei weitem nicht das einzige Beispiel, wie sich ungeliebte Publizisten nonchalant und für den Leser weitgehend mehrwertfrei ins Abseits schreiben lassen. Nämlich nicht, indem man sich inhaltlich mit ihren Thesen und Argumenten auseinandersetzt. Sondern indem man sich auf die immergleichen Schlagwörter und Allgemeinplätze zurückzieht, die sich – weshalb auch immer – in besonders aktivistischen, aber alles in allem wenig intellektuell anspruchsvollen Kreisen einer gewissen Beliebtheit erfreuen.

In Diekmanns Kolumne etwa ist die Rede von „Tabubruch“, von der „Grenze des Sagbaren“, vom „Brandstifter“, der ein Ulf Poschardt sein soll. Und am Ende suggeriert sie noch, dass Martenstein, Fleischhauer und Poschardt einen Beitrag leisten, dass Antisemitismus „Aufwind“ bekomme und „Rechtsradikalismus auch“. Dass Diekmann drumherum mehr raunt als ihre Vorwürfe belegt, ist freilich kein Zufall, sondern Kalkül: Wer die persönliche der inhaltlichen Ebene vorzieht, tut sich eben leichter mit der Kritisiererei, muss beim Schreiben nicht lange überlegen – und zwischen den Zeilen klarmachen, wer der Gute, wer der Böse ist.

Tendenzen, Opposition zu deligitimieren

„Es darf auf keinen Fall passieren, dass Opposition in diesem Land delegitimiert oder skandalisiert wird. Und solche Tendenzen beobachte ich“, sagte Martenstein im Mai 2021. Anlass war ein missglückter Artikel des Tagesspiegel, in dem versucht wurde, rund um die Aktion #Allesdichtmachen ein „antidemokratisches Netzwerk“ herbeizuschreiben. Der Versuch misslang kläglich und der Tagesspiegel musste im Nachhinein zahlreiche Stellen korrigieren; sah sich zudem gezwungen, öffentlich um Entschuldigung zu bitten. Der entsprechende Artikel ist bis heute übrigens auf der Internetseite des Tagesspiegels abrufbar. So kann’s gehen.

In seiner letzten Kolumne jedenfalls, in der Martenstein seinen Abschied vom Tagesspiegel verkündet, schreibt er: „Man sollte nicht Handlanger eines ideologischen Lagers sein, und man darf keine Angst vor Wutstürmen haben. Genau dazu ist die Meinungsfreiheit ja da: um Dinge zu sagen, die manche nicht hören möchten.“ Und weiter: „Wo man glaubt, nur man selbst sei im Besitz der Wahrheit, bin ich fehl am Platz.“ Zum Abschluss eine These, über die sich auch gut diskutieren ließe: Der Tagesspiegel braucht Martenstein mehr, als Martenstein den Tagesspiegel braucht.

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