Gute Zeiten für Tabus - Dämonisieren hilft nicht weiter

Tabus haben wieder Konjunktur. Als das größte Tabu gilt derzeit eine Zusammenarbeit mit der AfD. Dabei konnte die Partei nur deshalb so stark werden, weil viele auf ihre Provokationen eingehen. Ein Plädoyer für die Rückkehr zur Sachlichkeit.

„Handschlag der Schande“: In Thüringen haben FDP und CDU die Brandmauer zur AfD eingerissen / picture alliance
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Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

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Tabus gehören zu den ältesten Machtmitteln der Menschheit. Ihre Besonderheit besteht darin, dass sie zwei Verbote gleichzeitig realisieren. Sie verbieten einen Sachverhalt, und sie verbieten, dass das Verbot in Frage gestellt wird. In archaischen Kulturen wurden mit Tabus das Sexualleben, die Herrschaft und die Religion organisiert.

Tabus leben als Rudimente einer früheren Zivilisationsstufe auch noch heute, sind aber wegen ihrer Methode umstritten, klare Verhältnisse schaffen zu wollen. Der maximale Schutzwall, den ein Tabu um ein Thema zieht, kann manchmal sinnvoll sein, Öfter verhindert er aber Fortschritt und bewirkt sogar das Gegenteil des Gewünschten, indem er Widerstand provoziert. Die Aufstände der 68er speisten sich vor allem aus der Rebellion gegen die ihrer Meinung nach falschen Tabus einer spießbürgerlichen Gesellschaft. Tabus reizen, sie zu brechen. 

Tabus haben wieder Konjunktur 

Die Moderne hat diese Mechanik verstanden und verzichtet weitestgehend auf Tabus, um den sozialen Frieden zu organisieren. Stattdessen hat sie Gesetze und Regeln, die gelten, deren Gültigkeit jedoch verhandelbar ist. Die demokratische Legitimation von Gesetzen schien lange ein Erfolgsmodell zu sein, doch seit einigen Jahren haben Tabus wieder vermehrt Konjunktur. So nimmt zum Beispiel die Zahl der Worte zu, die öffentlich nicht geäußert werden dürfen. Unter dem Label der Politischen Korrektheit toben täglich neue Kulturkämpfe in den sozialen Netzwerken.

Hier werden Tabubrecher geächtet, bei deren Ausgrenzung die einfachsten Regeln der allgemeinen Gleichheit ignoriert werden.

Macht Dieter Nuhr einen Witz über Greta Thunberg, so wird ihm nicht nur die Pest an den Hals gewünscht, sondern energisch gefordert, dass seine Sendung abgesetzt werden müsse. Singt hingegen der Kinderchor des WRD ein Lied über Omas als „Umweltsäue“, wird von den Nuhr-Kritikern der Protest gegen das Lied mit dem Verweis auf die Satirefreiheit verteidigt, und der Protest wird als rechte Hetze bezeichnet. 

Das Individual-Tabu ist eines Spielart totalitären Denkens 

Ich verteidige Greta-Witze wie Kinderchöre, da ich die freie Meinung für einen wesentlichen Wert halte, stehe damit jedoch zusehends allein da. Die Tabubrecher von rechts, links und sonst wo liefern sich immer heftigere Gefechte mit den Verteidigern und Erfindern immer neuer Tabus. Wer sich gekränkt fühlt, verschwendet keinen Gedanken mehr daran, ob er vielleicht überempfindlich sein könnte, sondern fordert gleich ein Tabu aller Worte und Taten, die ihn kränken könnten.

Früher hatten Tabus ihre Ursache in der Religion oder in allgemeinen Moralvorstellungen. Heute kann sich jeder Einzelne zur Ursache eines neuen Tabus erklären. Jemand will keine Greta-Witze mehr hören, also müssen sie für alle verboten werden. Jemand fühlt sich vom Kinderchor beleidigt, also soll ihn auch sonst niemand hören. Das Individual-Tabu ist eine postmoderne Spielart totalitären Denkens, denn es erlässt ein Verbot, über dessen Berechtigung nicht verhandelt werden darf. „Ich bin gekränkt“, lautet die Schlussformel der neuen Tabus. 

Die Brandmauer als Metapher für ein Tabu 

Die Aufklärung hatte einst dafür gekämpft, dass die eigene Meinung frei geäußert werden darf. Heute wird aus dem eigenen Empfinden eine Forderung, die allgemeine Unterwerfung erwartet. Die Behauptung des eigenen Standpunkts und eine Feststellung der Unterschiede reichen inzwischen nicht mehr aus, es braucht gleich das schwere Geschütz des Tabus. Der schnelle Griff zum Tabu bleibt leider nicht auf Kulturkämpfe beschränkt, sondern beeinflusst immer öfter das politische Verhalten. 

Nicht erst seit den Vorgängen im Thüringer Landtag ist viel von Brandmauern gegen Rechts die Rede, die unbedingt gehalten werden müssen und deren Einreißen zu unabsehbaren Problemen führen würde. Die Brandmauer ist eine bodenständige Metapher für ein Tabu. In den gleichen Bereich fallen die Forderungen, keinen Millimeter zurückzuweichen oder einer falschen Meinung keine Bühne zu geben. Hier folgt aus dem Tabu eine reale Ausgrenzung. Der politische Gegner wird zum Feind und die Konfrontation zu einem Kampf, in dem es nur noch Sieger und Verlierer gibt und kein Raum für Kompromisse bleibt. 

Die Abgrenzung zur AfD verschiebt die Tektonik der CDU 

Die CDU hat sich in den letzten Jahren in eine schwierige Lage gebracht. Indem sie ihre Wähler vor allem in der Mitte gesucht hat, wurde rechts von ihr Platz für eine neue Partei. Die Selbstberuhigung der Merkel-CDU bestand darin, vorzurechnen, dass es mehr Wähler in der Mitte zu gewinnen gäbe, als rechts verloren würden. Das mag so sein oder nicht. Das Problem ist ein anderes. Nun, wo es in der rechten Hälfte eine neue Partei gibt, wird die CDU zu genau dem Bekenntnis gezwungen, mit dem sie vormals die SPD getriezt hat: Wie hältst Du es mit Deiner radikalen Abspaltung?

Die Empörung, mit der die CDU zu ihrem Verhältnis zur AfD befragt werden wird, läuft sich gerade warm. In den kommenden Jahre wird von ihr regelmäßig ein Bekenntnis zur klaren Abgrenzung gefordert werden, das die Partei zwangsläufig zur Mitte verschieben und ihren konservativen Kern zerstören wird. Was mit einer Partei geschieht, die ihren Kern verliert, kann man bei der SPD besichtigen. Dass die CDU das gleiche Schicksal erleiden wird, ist aktuell wahrscheinlich. Die Dialektik der Tabuisierung hat die eine Volkspartei annähernd zerstört, der Niedergang der konservativen CDU hat begonnen. 

Strategisches Dummstellen reicht nicht 

Der aktuelle Kampf gegen die AfD stützt sich vorwiegend auf die Techniken der Tabuisierung, ohne jedoch ihre Dialektik zu berücksichtigen. Er befindet sich damit in einer Frühphase der Zivilisation, in der noch der naive Glauben vorherrschte, dass durch die Tabuisierung einer Gefahr diese selbst verschwinden würde. Inmitten einer technisierten und ausdifferenzierten Gesellschaft erscheinen diese Archaismen sehr seltsam, und ich stelle mir immer öfter die Frage, wie viel strategisches Dummstellen und wie viel naive Tabu-Gläubigkeit bei den Brandmauerbauern vorhanden ist. 

Wenn Sahra Wagenknecht in der Talkshow  von Anne Will darauf hinweist, dass man die AfD-Wähler solange nicht erreicht, wie man den Grund ihres Protestes nicht zur Kenntnis nimmt, und wenn ihr daraufhin von Peter Altmaier vorgeworfen wird, sie hätte damit Werbung für die AfD gemacht, so muss man befürchten, dass die anfängliche strategische Dummheit inzwischen zu einer realen Verdummung geführt hat. Denn welche Logik steckt hinter dem Fehlschluss von Peter Altmaier?

Wie aus AfD-Wählern Delinquenten werden  

Seine Behauptung geht davon aus, dass es keine Gründe für die AfD-Wähler geben könne, weil eine solche Wahl tabuisiert ist. In der Logik des Tabus liegt begründet, dass es für seine Überschreitung keine nachvollziehbaren Gründe geben darf. Ein Tabubruch muss darum bestraft werden und kann auf keinen Fall durch Gründe erklärt werden.

Das Tabu besagt, dass es keine demokratische Entscheidung für die AfD geben kann, sondern die Wahl der AfD den Wähler aus dem Bereich des Erlaubten katapultiert. Er ist nun ein Delinquent, der ausgegrenzt werden muss. Jeder, der nun wie Sahra Wagenknecht versucht, die Motive der Wähler zu verstehen, um ihnen das Angebot einer anderen Wahl zu ermöglichen, wird durch fehlende Achtung vor dem Tabu verdächtig. 

Wie die Medien die AfD in ihrer Opferrolle bestätigen   

Bis heute konnte mir niemand erklären, welche sinnvolle Strategie sich dahinter verbirgt, offensichtlich nicht-rechte oder konservative Zeitgenossen zu Rechtsradikalen zu erklären. Ebenso wenig leuchtet mir der Kinderglaube ein, dass Dämonen verschwinden, wenn man nur fest die Augen vor ihnen verschließt. Doch alle, die ein Talkshow-Verbot für die AfD fordern und jede nicht empörte Begegnung mit der AfD als Sündenfall brandmarken, scheinen innig an den Nutzen ihrer Tabus zu glauben.

Ich plädiere für eine gegenteilige Strategie: Warum gibt es keine Talkshow, in der sich fünf Vertreter der AfD über das fehlende Rentenkonzept streiten? Warum sitzt stattdessen in jeder Runde ein Vertreter der AfD fünf Gegnern gegenüber, was ihm, Alle gegen Einen, automatisch Sympathiepunkte verschafft? Warum gibt es nicht mehr Interviews wie das von Thomas Walde seinerzeit im ZDF, wo er Alexander Gauland nach den AfD-Konzepten zu Klima und Digitalisierung gefragt hat, und ihm nach wenigen Minuten Sachgespräch ein müder Greis gegenüber saß? Mit einem Wort: Warum tun alle der AfD den größten Gefallen, indem sie auf deren Provokationen eingehen und damit ihr Geschäft des Kulturkampfes mitbetreiben?

Die AfD spielt die Tabu-Karte 

Die AfD will provozieren und dann als Märtyrer ausgegrenzt werden. Sie spielt die Tabustrategie der anderen Parteien inzwischen gegen sie aus, wie gerade in Thüringen geschehen. Denn wenn es einen Gewinner der Thüringer Wahl gibt, dann ist es Björn Höcke. Er hat es in wenigen Tagen geschafft, dass die FDP einen riesigen Imageschaden hat, die CDU-Vorsitzende zurückgetreten ist und der Ostbeauftragte zurücktreten musste, und alle Vorurteile über eine Berliner Elite bestätigt wurden, die den Provinzlern vorschreibt, wie sie zu wählen hätten. 

Spätestens durch diese Ereignisse könnte man anfangen zu begreifen, dass die Ausgrenzung als Methode längst von der AfD zu ihren Gunsten verdreht worden ist. Warum gönnt man ihr noch immer diese Siege im symbolischen Raum, statt sie in die Niederungen der Ebene zu zwingen, wo die pompös einfachen Lösungen zu kleinen Kompromissen zermahlen werden. Wer die AfD dämonisiert, betreibt ihr Geschäftsmodell. Sie wird nicht gewählt, weil man sich von ihr Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt, bei der Rente oder günstigen Wohnraum verspricht.

Die Faszination des Nichtnormalen 

Sie wird gewählt, weil sie die größtmögliche Provokation für die bestehende Politik darstellt. Je länger ihre Tabuisierung andauert, desto länger wird sie genau davon profitieren. Die Angst davor, dass die AfD normalisiert werden könnte, ist darum falsch. Denn gewählt wird die Partei, weil sie den Nimbus des Nichtnormalen hat. Und an dieser bösen Aura arbeiten alle mit, die ihr den Gefallen tun, sie zu tabuisieren und auszugrenzen. Solange der Kampf gegen Rechts die Schlichtheit seiner eigenen Strategie nicht begreift, wird er immer mehr zum Mithelfer der AfD.

Wenn man vor der Entzauberung durch Sachdebatten zurückschreckt, könnte zumindest ein erster Schritt darin bestehen, diejenigen nicht zu Rechten zu erklären, die wie Sahra Wagenknecht einen intelligenteren Umgang mit Rechten suchen. Gesellschaften brauchen Tabus, aber sie zerbrechen, wenn die allgemeine Empörung über Tabus und Tabubrüche an die Stelle der realen Widersprüche tritt. 

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