Sylvain Tesson im Porträt - Der freundliche Menschenfeind

In den Büchern des Reiseschriftstellers Sylvain Tesson geht es oftmals antimodern zu. Jüngst kam es deswegen sogar zum Eklat in der französischen Literaturszene.

Sylvain Tesson / Foto: Basso Cannarsa
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Martina Meister ist Korrespondentin in Frankreich für die Tageszeitung Die Welt.

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Wer Sylvain Tesson im Pariser Quartier Latin besucht, muss gut in Form sein. Der französische Reiseschriftsteller lebt in einer kleinen Dachwohnung, ohne Fahrstuhl, im siebten Stock. Von seinem winzigen Schreibtisch, auf dem kein Computer steht, nur Hefte, Papier, Bücher und Landkarten liegen, fällt der Blick auf den Himmel über Paris und die Wasserspeier der Église Saint-Séverin. Es ist eine Schreibstube mit Weitblick.

Jahrelang hat Tesson, 51, die steile Treppe nicht benutzt, sondern ist nur an der Fassade über die Regenrinne in seine Wohnung geklettert. Mit Vorliebe hat er Kirchtürme erklommen, einmal auch den Kölner Dom, bis er 2011, sturzbetrunken, von einer Berghütte in Chamonix aus zehn Meter Höhe in die Tiefe fiel. Dass er überlebte, war ein Wunder. Und wie alle Überlebenden, die mit ihrer eigenen Endlichkeit Bekanntschaft gemacht haben, erlebt er seither jeden Tag als Geschenk: „Ich empfinde permanente Dankbarkeit, ich habe, wie man beim Flippern sagt, eine Extrarunde gewonnen.“

Tesson ist ein Phänomen: ein Anti­moderner, ein freundlicher Misan­throp, der mit seiner Ablehnung eines von Zwängen eingehegten Lebens, mit seiner Liebe zur Natur seine immense Fangemeinde nicht nur in Frankreich begeistert. Seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt, ins Deutsche, sogar ins Chinesische. „Auf verschlungenen Wegen“, das Buch seiner Heilung, in dem er erzählt, wie er mit seinem ramponierten Körper Frankreich durchquert, ist mit Oscar-Preisträger Jean Dujardin in der Hauptrolle verfilmt worden. „Der Schneeleopard“ hat sich allein in Frankreich nach Auskunft seines Verlegers 800.000 Mal verkauft.

Als „reaktionäre Ikone“ wird er in einem offenen Brief tituliert

Tessons Leser scheinen in seinen Berichten zu finden, was sie in ihrem eigenen Leben vermissen: Einsamkeit, Ruhe, Natur, Ursprünglichkeit und einen vordigitalen Tagesrhythmus. Wie sein Bestseller „Der Schneeleopard“, in dem er sich auf die geduldige Suche nach einem wilden Tier begibt, spielt auch „In den Wäldern Sibiriens“ in einer nahezu unberührt wirkenden Natur, abseits von Wandel und Zerstörung. Sein „Tagebuch aus der Einsamkeit“ ist das Protokoll von sechs Monaten allein in der Wildnis am Ufer des Baikalsees.

Tesson stand als Schriftsteller nie unter Verdacht, Avantgarde zu sein. Jüngst warfen ihm Literaturwissenschaftler vor, sich in die Reihe der „reichen, weißen Reiseschriftsteller kolonialer Tradition“ zu stellen, wie es ein Kritiker getan hat. Aber seit einigen Wochen sieht sich Tesson anderen Anschuldigungen ausgesetzt. Als „reaktionäre Ikone“ wird er in einem offenen Brief tituliert, den 1200 Kulturschaffende unterschrieben haben, Schriftstellerkollegen, Buchhändler, Verleger. Anlass war die Ankündigung, dass Tesson Schirmherr des diesjährigen „Printemps des poètes“ werden sollte, ein bekanntes Dichterfestival, das längst über Frankreichs Grenzen hinweg ausstrahlt. Die Unterzeichner werfen ihm vor, zur „Banalisierung und Normalisierung des Rechtsextremismus“ beigetragen zu haben.

 

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Was hat sich Tesson zuschulden kommen lassen? Ein paar Äußerungen zum Islam, ein Vorwort für einen Sammelband des Reiseschriftstellers Jean ­Raspail, dessen 1973 im Original veröffentlichter Roman „Das Heerlager der Heiligen“ zur Bibel der Neuen Rechten geworden ist. Vor allem aber familiäre Nähe zum Milieu wird ihm vorgeworfen. Diese beschreibt der Journalist François Krug in seinem Buch „Réactions françaises“, eine Recherche über rechtsextreme Literaten.

Auf einmal war alles suspekt

„Tessons Neopaganismus, seine Liebe zu Russland, sein Engagement für Armenien, seine Eloge für körperlichen Wagemut, seine Liebe für Ernst Jünger: Auf einmal war alles suspekt“, notiert David Caviglioli im Nachrichtenmagazin L’Obs und fügt hinzu: „Er glaubt sich von der Politik fernzuhalten, aber einige begannen sich zu fragen, ob seine Bücher unter dem Deckmantel der Einladung zur anarchistischen Reise in Wahrheit nicht diskrete, faschistoide Brandschriften waren.“

Viele Kollegen standen Tesson bei, doch die Organisatorin des Festivals trat zurück und beklagte eine „beängstigende, erschütternde, monströse Kabale“. Tesson, dem es in den ersten Wochen die Sprache verschlug, hat sich inzwischen verteidigt. „Die Anschuldigung ist in der Sache richtig, aber in ihrer Begrifflichkeit falsch.“ Man könne ihn als Konservativen beschreiben, als eurozentrischen Traditionalisten, aber den „dummen Begriff rechtsextrem“ lasse er nicht gelten.

Tesson sei literarisch reaktionär, weil er nicht reise, um zu entdecken, schrieb ein Kritiker spitz, „Tesson reist, um zu flüchten“. Er hat jetzt allen Grund zu fliehen, Frankreich hinter sich zu lassen, jenes Land, von dem er einmal sagte, dass es ein Paradies sei, bevölkert von Menschen, die sich in der Hölle glauben.

 

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