Soziale Medien - Vermüllen, vergüllen, vergiften

Soziale Medien gaukeln eine neue Form der Gesellschaft vor. Doch diese bleibt virtuell und unwirklich, denn die Gemeinschaft wird permanent in Individuen aufgespalten. Um Freiheit und Demokratie zu sichern, braucht es weiter das gedruckte Wort

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„Soziale Medien“ wie Facebook sammeln die persönlichen Daten ihrer Nutzer zu Werbezwecken / picture alliance
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Frank A. Meyer ist Journalist und Kolumnist des Magazins Cicero. Er arbeitet seit vielen Jahren für den Ringier-Verlag und lebt in Berlin.

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Was ist Facebook, der Welt größtes Digital­unternehmen, dessen Geschäft darin besteht, die persönlichen Daten seiner Nutzer zu Werbezwecken zu verkaufen? Facebook zählt zur Gattung „soziale Medien“. Der Gattungsbegriff ist so geläufig, als wäre er gottgegeben. Was er ja auch ist: der Gottheitsbegriff aus Silicon Valley. Postmodern ausgedrückt, handelt es sich um die genialste Begriffsschöpfung der jüngeren Wirtschaftsgeschichte: um die größte sprachliche Perversion.

Was heißt: soziale Medien? Das Adjektiv „sozial“ wurzelt im lateinischen „socius“: gemeinsam, gemeinschaftlich, hat also mit der Gruppe zu tun – einer Gruppe von Menschen, die eine unmittelbare Beziehung zueinander pflegen, Keim jeder Gesellschaft. Soziale Medien jedoch sind das Gegenteil von Gesellschaft. Sie lösen die Gesellschaft auf in lauter Individuen, in Milliarden von Einzelnen. Mit dem Begriff „sozial“ in „soziale Medien“ wird Gesellschaft lediglich suggeriert – vorgegaukelt. In Tat und Wahrheit ist diese Gesellschaft virtuell. Unwirklich. Künstlich.

Virtuelle Müllhalde menschlichen Verhaltens

Der zutreffende Begriff für soziale Medien wie Facebook, Twitter, Snapchat, Instagram wäre: asoziale Medien. Asozial bedeutet außerhalb der Gesellschaft stehend, der Gesellschaft feindlich gesinnt sein. Genauso erlebt die Gesellschaft diese digitale – virtuelle – Wirklichkeit: als System zur Abzocke von Daten, das sich attraktiv macht durch den Begriff Gratismedien – eine weitere sprachliche Perversion. Auch entlarvt sich das verführerische World Wide Web zunehmend als Parallelwelt – eine Unterwelt aus Fake News, Beschimpfungen, Denunziationen. Die globale Müllhalde menschlichen Verhaltens.

Was einst im Kopf der Menschen gefangen blieb, allenfalls am Familien- oder Stammtisch eine beschränkte Öffentlichkeit fand, allerdings auch dort schon durch die physische Präsenz anderer abgemildert, das fließt heute ungefiltert in die Kloake der asozialen Medien, die unsere soziale Wirklichkeit, unsere Gesellschaft vermüllen, vergüllen, vergiften.

Wie aber verteidigt die Gesellschaft ihre wirkliche Wirklichkeit gegen die verbal übergriffige digitale Wirklichkeit? Eigentlich ganz einfach: durch das Festhalten an den Medien der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit – an den Zeitungen und Zeitschriften, den Medien also, die man anfassen kann, die abfärben, riechen, rascheln, reißen, sich zerknüllen lassen. Diese Medien stehen für die freie und demokratische Ordnung, für die offene Gesellschaft. Sie haben sie hervorgebracht. Sie sichern sie.

Gedruckte Medien zähmen die Zeit

Warum das so ist? Weil jedes Handeln in Demokratie und Rechtsstaat der ständigen und akribischen Überprüfung bedarf. Der Demokratiephilosoph Sir Karl Popper spricht von der „Falsifizierbarkeit“ allen Tuns: Was sich als falsch erweist, muss verändert werden. Voraussetzung für diesen dialektischen Prozess ist ein unablässiges Bedenken des gesellschaftlichen Fortschreitens: eine Bedachtsamkeit im Umgang mit sich selbst, wozu zwingend das Umdenken gehört. Zeitungen und Zeitschriften sind bedachtsame Medien. Sie zähmen die Zeit, weil sie über die Themen, die sie behandeln, schlafen müssen, mindestens eine Nacht die Zeitungen, die Zeitschriften sogar eine Woche oder einen Monat lang. „Schlaf mal drüber“, rät man einem aufgeregten Freund – das „Drüberschlafen“ als Zeit zur Einkehr von Vernunft, als selbst gewählte Distanz zu einem Ereignis oder innerem Aufruhr.

Auch bedeutet der Druck – das „Print“ in Printmedien – die Überprüfbarkeit von Berichtetem, Behauptetem und Bedachtem: schwarz auf weiß, Druckerschwärze auf Papier. Dadurch verleihen Printmedien der politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Debatte Bedeutung: Die Facebook-Affäre um den Datenmissbrauch, die „Panama Papers“ über den global angelegten Steuerbetrug, sie wären folgenlos, hätten sie lediglich in der digitalen Welt, lediglich auf Online-Plattformen stattgefunden.

Die Enthüllung der britischen Zeitung The Observer über den Missbrauch von Abermillionen Facebook-Nutzerdaten im US-Wahlkampf, die Recherche der Süddeutschen Zeitung über die versteckten Milliardenvermögen in Panama: Sie wurden zum politischen Sprengstoff – weil sie gedruckt zu lesen waren. Was sich nur im digitalen Netz abspielt, bleibt flüchtig und verflüchtigt sich. Auch die Hohepriester des Digitalismus publizieren Bücher, wenn sie die wirkliche Welt von ihrer Religion überzeugen wollen. Und ihre Auftritte sind perfekt inszenierte Shows für die klassischen Medien: Print und TV. Nur durch sie sehen sie sich ernst genommen.

Zeitungen sind die eigentlichen sozialen Medien

Und sie fürchten sich vor diesen klassischen Medien, wenn sie von ihnen in die Enge getrieben werden: Facebook-Jesus Mark Zuckerberg verkroch sich vor der Presse, als er zum Skandal seines Unternehmens hätte Stellung nehmen sollen – schwarz auf weiß, weil gedruckt.

Doch wenn nun, wie die Erzählung geht, „die Jungen“ partout keine Printmedien mehr lesen wollen, den Zeitungen damit die „User“ abhandenkommen? Erstens haben „die Jungen“ noch nie eifrig Zeitungen gelesen; zweitens war es schon immer der politisch interessierte Teil einer Gesellschaft, der Zeitungen zur Hand nahm, um verspätet, weil überschlafen, zu nutzen und zu genießen, was Redaktionen bedacht haben.

Redaktionen sind die Klubs der Gesellschaft: Gruppen von Menschen, die in unmittelbarer Beziehung zueinander die wirkliche Wirklichkeit miteinander bedenken – soziale Gruppen. Die eigentlichen „sozialen Medien“ sind Zeitungen und Zeitschriften, die diese Wirklichkeit bedachtsam in Wort und Bild kleiden. Wenn erst einmal Wahn und Rausch der Zeitraffermedien abgeklungen sind, werden die Zeitungen und Zeitschriften ihren Platz behaupten, als das, was sie für die offene Gesellschaft schon immer waren: Leuchttürme der Orientierung.

Dies ist ein Artikel aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.














 

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