Die Irrungen der Psychoanalyse - Leid durch Freud

Vor 80 Jahren starb der Erfinder der Psychoanalyse, Sigmund Freud. Obwohl sich die Freud'schen Theorien überlebt haben, sind wir mehr denn je Freudianer: Nicht als Therapeut, sondern als Kritiker der Moderne ist er heute allgegenwärtig

Erschienen in Ausgabe
Wie helfen uns Sigmund Freuds Thesen in der Psychoanalyse heute noch weiter?/ picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Sophie Dannenberg, geboren 1971, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr Debütroman „Das bleiche Herz der Revolution“ setzt sich kritisch mit den 68ern auseinander. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“

So erreichen Sie Sophie Dannenberg:

Anzeige

Kennen Sie den? Das Ehepaar X lebt auf ziemlich großem Fuße. Nach der Ansicht der einen soll der Mann viel verdient und sich dabei etwas zurückgelegt haben, nach anderen wieder soll sich die Frau etwas zurückgelegt und dabei viel verdient haben.

Den Witz hat Sigmund Freud erzählt. Natürlich im Rahmen einer Analyse – von Witzen, nicht von Personen. Sein Text „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten“ ist wirklich komisch, auch deshalb, weil Freud einen Witz nach dem anderen reißt und dabei so vorgeht, als würde der Leser, von wissenschaftlichem Interesse getrieben, nicht lachen. So wie Freud, wenn er über Sexualität schreibt, so vorgeht, als würden dem Leser des angehenden 20. Jahrhunderts Begriffe wie „anal-sadistische Phase“, „inzestuöse Objektwahl“ oder „polymorph perverse Anlagen“ keine Schweißperlen auf die Stirn treiben. Wir denken an Freud ja meist als den weißbärtigen Herrn, dessen Foto noch heute überall rumhängt und von dem aus er so streng auf uns herabschaut, als wäre er das Über-Ich persönlich. Wir erinnern uns eher selten daran, dass er Humor hatte.

Mein eigener Psychoanalytiker hatte kein Freud-Porträt in seiner Praxis hängen, nur eins auf seiner Facebook-Seite, ironisch gebrochen, ein Graffito. Überhaupt wird Freud heute gern ironisch gebrochen. Es gibt ihn zum Beispiel als Actionfigur mit beweglichen Ellenbogen und sogar als Badeente. Man kann das im Internet bestellen. Und das Setting, das sich bis heute nicht verändert hat – der Patient liegt auf der Couch, der Analytiker sitzt, für ihn unsichtbar, dahinter –, haben wir auf so vielen Karikaturen gesehen, dass diese banale Situation wie ein Witz wirkt, der von selber zündet. Warum das so ist, wusste Freud schon 1905. Der Witz nämlich stelle „eine Auflehnung gegen solche Autorität, eine Befreiung von dem Drucke derselben dar“. Anders ausgedrückt: Unser Lachen über Freud zeigt, wie sehr wir ihn tatsächlich noch fürchten. 

Drei schwere Kränkungen

Seit Freud ist unsere Seele nackt. Zerrissen war sie zwar längst. Schon Sokrates fragte sich, ob er ein Ungeheuer oder ein göttliches Wesen sei, und auch viel später, in der Romantik, war die Seele noch immer „ein wunderlicher Bruch“. Alle haben geahnt, dass mit ihr was nicht stimmt, aber entlarvt hat es Freud. Drei schwere Kränkungen, schrieb er, habe die wissenschaftliche Forschung der Menschheit zugefügt: die kosmologische durch Kopernikus, die biologische durch Darwin und schließlich die psychoanalytische Kränkung, „dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“. 

Nach über 100 Jahren sind Freuds Theorien aber nicht mehr auf dem aktuellsten Stand. Die aufdringliche Trinität von Ich, Es und Über-Ich ist neurobiologisch nicht nachweisbar. Die These vom Penisneid ist in einer Zeit, da wir uns nicht nur emanzipiert, sondern gleich die ganze binäre Geschlechterordnung hinter uns gelassen haben, eher lustig. Der Ödipuskomplex findet in modernen Patchwork-, Eineltern- oder Regenbogenfamilien gar kein eindeutiges Objekt mehr. Und nachdem die Psychoanalyse in den sechziger, siebziger Jahren, flankiert von Theoretikern wie Mitscherlich oder Lacan, noch einmal aufblühte, ist sie inzwischen nur noch eine Kassenleistung unter vielen. 

Unsere familiären und gesellschaftlichen Strukturen haben sich so stark verändert, dass wir uns fragen müssen, welche Konzepte der menschlichen Seele heute für uns denn nun produktiv sein könnten. Wir vergessen das oft: Freud, geboren am 6. Mai 1856, hat in und aus einer Welt heraus geschrieben, als der Kaiser die Entsprechung des Gemeinwohls war, als man Kindsmisshandlung Erziehung nannte und als Frauen nicht nur nicht wählen, sondern noch nicht mal masturbieren durften. Dass einer die Sexualität zum Referenzsystem für alles erklärte und alle möglichen unappetitlichen Triebe zum Motor unseres Handelns, war damals eine Ungeheuerlichkeit. Heute haben wir Youporn, peinlich ist uns sowieso nichts mehr. Die Macht der Sexualität ist dahin, weil sie zur Allgegenwärtigkeit geronnen ist.

Die Heilkraft von Kokain

Aber Freud hat eben nicht nur die freudsche Psychoanalyse erfunden, sondern auch einen neuen Forschertypus, den des narzisstischen Forschers, der weniger die objektiven Daten als vielmehr das eigene Genie zum Werkzeug der Erkenntnis macht. Es mag wohl, in unserer säkularen Gesellschaft, ein wenig Gottesübertragung mit dabei sein, wenn wir bis heute weniger auf seine Forschung als auf seine Person schauen. Ein bisschen erwacht Freuds Genie, das uns wohl besser kennt als wir selbst, ja auch in jedem Psychoanalytiker zu neuem Leben, zumindest fürchten wir das. Uns ist, als hätte der Analytiker sein Büro in den dunkelsten Tiefen unseres Es, und wenn er will, knipst er einfach das Licht an.

Wenn wir die Fallberichte lesen, war Freud geradezu unerträglich direkt zu seinen Patienten. Als die 18-jährige Dora, die wegen „nervöser Symptome“ zu ihm in Behandlung geschickt wurde, mit ihrem Portemonnaie spielte, sah er eine Weile zu und erläuterte ihr dann, was eine „Symptomhandlung“ sei. Die Erklärung ahnen wir schon: „Das zweiblättrige Täschchen Doras ist nichts anderes als eine Darstellung des Genitales.“ Dora brach die Behandlung nach elf Wochen ab, aber Freud entwickelte an ihrem Fall das Konzept der Übertragung – bis heute ein Grundbaustein der Analyse. Er beherrschte eben die Kunst, aus jedem Scheitern eine neue Theorie zu entwickeln. Und er hat die unmöglichsten Sujets zu Objekten der Wissenschaft gemacht, Witze, Träume, Versprecher. Seine Technik, diese Objekte herunterzukühlen und dann zu sezieren, sogar Seelenzustände, wie er schrieb, „als Arzt zu zergliedern“, also selbst das Allerunvernünftigste mit Vernunft zu betrachten, ist Aufklärung in ihrer radikalsten Form. 

Wie Descartes ging Freud wohl davon aus, dass die Dinge, welche wir sehr klar und deutlich begreifen, alle wahr seien. Sind sie zwar nicht, und Freud hat ja zwischendurch auch Unsinn geschrieben. Eine Weile glaubte er an die Heilkraft von Kokain oder an die These seines Freundes Wilhelm Fließ, dass Sexualprobleme mithilfe von Nasenoperationen zu beheben seien. Dennoch wurde sein normativer Ansatz für die Forschung bahnbrechend, dass die Seele des Menschen ein rational erfassbares, ja klinisch determiniertes Gebilde sei, das konkreten Regeln gehorcht und sich durch entsprechende Eingriffe verändern lässt. Freud hat der Seele das Unbestimmte, Verschwommene, damit vielleicht auch das Freie genommen. Statt Rätsel gibt es nun Pathologien, statt der blauen Blume suchen wir den Ursprung der Neurosen. Freud ist der Entzauberer der deutschen Romantik, und vielleicht ist das das Geheimnis seiner Wirkungsmacht. Sigismund Schlomo Freud, Kaufmannssohn aus dem kleinbürgerlichen Milieu der mährischen Stadt Freiberg, hat die Deutschen aus ihrem romantischen Schlaf gerissen.

Die Seele von heute

Denke ich an meinen eigenen Analytiker zurück, erinnere ich mich vor allem an seine Brille. Die war dick und schwarz. Sie war so schwarz, dass sie den Raum beherrschte. Die Sessel, die Couch und das alte Laptop, das die ganze Zeit brummte, all das verschwand hinter der wuchtigen Materialität dieser Brille. Was, fragte ich mich, hatte es zu bedeuten, dass mein Analytiker so eine Brille trug? War er eitel? Oder selbstironisch? Wie würde er reagieren, wenn ich ihn auf die Brille anspräche? Aber ich fragte nicht. Die Antwort kannte ich ja. Der Analytiker hätte mit mir natürlich nicht über seine Brille gesprochen. Sondern darüber, was sie in mir auslöste: Assoziationen, Träume, Ängste. Ich wusste das, ohne zu fragen, weil die Psychoanalyse eben nicht nur eine Behandlungsmethode ist, sondern Kulturgeschichte. Ihre Begriffe sind in uns eingeschrieben, und ob wir das mögen oder nicht, denken wir gelegentlich wie Freud. Im Grunde lagen wir alle bei ihm auf dem Diwan mit dem Smyrnateppich, Berggasse 19 in Wien. 

Das Behandlungszimmer war dunkelviolett gestrichen, in einer Farbe aus Eisenoxid, die vornehm und gleichsam ermattet wirkte, wie es im Jugendstil Mode war. Und wenn eine Farbe so etwas wie eine Pointe haben kann, dann war es die von Freuds Behandlungszimmer; sie hieß „Caput mortuum“. Wie gesagt, der Denker des „Todestriebes“ hatte Humor. Und er mochte das Vergrabene, Verschüttete. Die antiken Vasen, Steinreliefs, Tonlampen und Statuetten, die er von seinen Reisen mitbrachte, bevölkerten bald den gesamten Raum, wohl kleine Türsteher des Unbewussten. Vielleicht stellte man sich die Seele so vor, im fiebrig verträumten Fin de Siècle, lichtscheu und voller Vergangenheit. Heute beschäftigen uns in Verbindung mit der Seele ja eher Begriffe wie Psychodynamik, Neuroplastizität, Resilienz. Die Seele von heute enthält weniger Vergangenheit und mehr Zukunft, fast spürt man den Schub ihrer Triebwerke. 

Die Therapeuten der Gegenwart arbeiten gern übers Internet, ihre Techniken sind effektiv, und sogar die Bezeichnungen sind schneller geworden, sie heißen VT, DBT oder EMDR. Das lange, langsame Erzählen, das sich über Stunden, Wochen und Jahre dehnt und vielleicht einst irgendwohin führt, vielleicht auch nicht, will nicht mehr so recht zu uns passen. Wir durchwandern nicht mehr die Weiten der Zeit, und warum sollten wir auch? Der Philosoph Paul Virilio sah die Geschwindigkeit als den entscheidenden Faktor, der unsere Gesellschaft bestimmt, er nannte das „die kinetische Revolution“.

Eher Ideologie als Wissenschaft?

Als ich den Psychiater Martin Bohus anrufe, fährt er gerade im Auto. „Viele wissenschaftliche Psychotherapien sind in relativ kurzen Zeiträumen erfolgreich“, erklärt er. „Die klassische Psychoanalyse ist bei den meisten psychischen Erkrankungen nicht nachweislich wirksam. Und wenn, dann erfordert die Behandlung einen deutlich längeren Zeitraum.“ Bohus wollte selbst mal Psychoanalytiker werden und brach die Ausbildung nach sechs Jahren ab. „Die Psychoanalyse ist vom Grundprinzip eher eine Ideologie als eine empirische Wissenschaft“, sagt er heute. Inzwischen ist er Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Psychosomatische und Psychiatrische Psychotherapie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim sowie Ordinarius für Psychosomatische Medizin der Universität Heidelberg. Er gilt als einer der führenden internationalen Experten auf dem Gebiet der Borderline- und Traumafolgestörungen und arbeitet an Therapiemethoden, die das Beste aus verschiedenen Schulen in sich vereinen wollen. „Natürlich kann die Psychoanalyse auch Erfolge erzielen“, sagt er, „aber das liegt wahrscheinlich nicht an der spezifischen Methode. Viele Befindlichkeitsstörungen lösen sich aufgrund der Selbstorganisationskraft des Gehirns meist von alleine. Dies erfordert allerdings einen gewissen mentalen Freiraum. Das können Sie erreichen, indem Sie auf der Couch vor sich hin fantasieren, oder auch, indem Sie in ein Zen-Kloster gehen und ihren Gedanken und Gefühlen während der Meditation Raum geben, sich zu ordnen. Bei ernsthaften psychischen Erkrankungen hingegen benötigen Sie einen Therapeuten, der gezielt interveniert und störungsspezifisch arbeitet, nicht einen, der hinter der Couch sitzt und sich weitgehend in Schweigen hüllt.“

Freud forderte seine Patienten auf: „Benehmen Sie sich so, wie zum Beispiel ein Reisender, der am Fensterplatze des Eisenbahnwagens sitzt und dem im Inneren Untergebrachten beschreibt, wie sich vor seinen Blicken die Aussicht verändert.“ Auch mein Analytiker hat mich weitgehend meiner freien Assoziation überlassen. Umso angespannter lauschte ich den Geräuschen, die er von sich gab, dem Atmen, dem Räuspern und vor allem der Art und Weise, wie er „Hm“ sagte. Mein Analytiker betonte sein „Hm“, als würde er einer Gebrauchsanweisung folgen. Mich verletzte das. Natürlich hätte ich das sagen können. Aber ich hatte alle Hoffnung fahren gelassen, aus demselben Grund, aus dem ich nicht nach der Brille fragte. Die Antwort wäre dazu da gewesen, mich auf mich selbst zurückzuverweisen. Und mit mir selbst sprach ich ja bereits. Vielleicht, denke ich heute, ist die Psychoanalyse der Spiegel der Moderne schlechthin, wo der Mensch, je weiter wir uns der Gegenwart nähern, zunehmend ein Ich-Wesen wird, das außerhalb seiner selbst nichts mehr hat und auch nichts mehr findet. Wir kommunizieren ja alle unentwegt, aber eigentlich mit niemandem. Unsere Gesprächspartner werden immer abstrakter. Aber noch immer lauschen wir in den Raum hinein, bis ins All, in der Hoffnung auf Antwort, irgendeine, und sei sie nur ein leises Brummen.

Irreale Therapie

Ich brach meine Analyse ab, und ich glaube, das lag an Filou. Filou war der Hund meines Analytikers, ein weißer Zwergpudel. Er war mit dem Konzept der Psychoanalyse nicht vertraut. Er wusste erkennbar nicht, was therapeutische Ich-Spaltung bedeutet, er war hemmungslos mit sich selbst identifiziert. In den ersten Stunden knurrte er so laut, dass der Analytiker und ich uns kaum verständigen konnten. Dann schlug seine Wut in Liebe um. Während der Stunde lief er immer wieder zu mir, sprang auf meinen Schoß oder legte sich vor meine Füße. Und jedes Mal, wenn Filou mir nahegekommen war, schoss der Analytiker aus seinem Sessel hoch, packte das Tier am Fell und zog es fort. Es war, als müsse er seinen Hund an die Einhaltung der Abstinenzregel erinnern. Der Analytiker darf ja die Bedürfnisse des Patienten nicht befriedigen, das gilt als schwerer Kunstfehler. 

Freud schrieb, dass „man Bedürfnis und Sehnsucht als zur Arbeit und Veränderung treibende Kräfte bei der Kranken bestehen lassen und sich hüten muß, dieselben durch Surrogate zu beschwichtigen“. Aber Filou beschwichtigte mich. Wenn ich traurig war, weinte er mit, nach einer Weile bellte er los. Ich gebe zu, dass ich mich nicht mehr an das erinnere, was der Analytiker in diesen Situationen sagte. Er war zwar klug und beherrschte sein Fach. Trotzdem blieben nicht seine Einfälle, sondern Filous Bellen in meinem Gedächtnis. Denn Filou war real, und die Analyse, die ja eine Bühne sein will, auf der sich die Vergangenheit mit ihren Verstrickungen reinszeniert, war irreal. Der Philosoph Karl Popper warf der Psychoanalyse vor, sie sei keine Wissenschaft, weil ihre Ergebnisse nicht falsifizierbar seien. Das machte der Hund mir noch einmal klar. Wir wissen eben nicht, ob sich auf der psychoanalytischen Bühne tatsächlich die Wirklichkeit spiegelt – und was die Wirklichkeit ist, sowieso nicht.

Manchmal frage ich mich, was ohne Filou aus mir geworden wäre. Von allen seelischen Verletzungen, die Menschen einander antun können, scheint die durch eine ungute Analyse die tiefste zu sein. Die Liste derer, die ein Buch über ihre entsprechend traumatische Erfahrung geschrieben haben, ist so lang, dass sie beinahe ein eigenes Genre generiert. Nicht immer sind es die schweren Kunstfehler, die dem Patienten schaden, vielmehr scheint der Methode selbst ein Risiko innezuwohnen. Freud schlug seinen Nachfolgern tatsächlich vor, sich den Chirurgen zum Vorbild zu nehmen, „der alle seine Affekte und selbst sein menschliches Mitleid beiseite drängt“. Die Nebenwirkungsforschung ist noch jung, aber Therapeuten anderer Schulen warnen schon lange vor der Psychoanalyse. Der Psychiater Christian Otte zum Beispiel, selbst Verhaltenstherapeut und Professor für Klinische Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité, hat zwar für Freud einiges übrig – „Freud ist für die psychiatrische Medizin unheimlich wertvoll, weil er die Wirkung biografischer Faktoren erkannt hat“ –, begegnet aber immer wieder Patienten, denen die psychoanalytische Behandlung geschadet hat. „Die sollen dann zum Beispiel ihre Medikamente absetzen, weil die Psychoanalyse manchmal immer noch diesen Allmachtsanspruch hat, fast alle Aspekte einer Erkrankung erklären und auch heilen zu können. Andere Aspekte wie die sozialen und vor allem auch die genetischen werden da gern übersehen.“ 

Das nervenaufrebende „Hm“

Ein weiteres Problem sieht Otte in der Abhängigkeit zum Analytiker. „Die Analyse ist eine eigene, abgeschlossene Welt mit einer eigenen Sprache. Manche Patienten tauchen so tief in diese Welt ein, dass sie eher unsicherer und unselbstständiger werden.“ Otte plädiert dafür, dem Patienten nur so viel Hilfe wie unbedingt nötig zu geben, damit er so eigenständig wie möglich bleibt. Die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, deren stellvertretender Direktor er ist, liegt auf dem Campus Benjamin Franklin, ein massives und zugleich filigranes Gebäude aus den späten sechziger Jahren, 115 000 Kubikmeter Beton, 5500 Quadratmeter Psychiatrie. Die Architekten haben damals versucht, mit der Fassade die menschliche Wirbelsäule nachzubilden. Auch hier also schauen die Ärzte in das Innerste des Menschen, in seine so riesige, traurige Seele.

Mit Freud verhält es sich wie in einem Drama von Hebbel, alle haben recht. Jeder, der eine gelungene Analyse erfahren hat, wird mir widersprechen. Er wird berichten, wie heilsam die vertrauensvolle, verlässliche Beziehung zum Analytiker war und wie dankbar er heute ist. Er wird den Analytiker als gutes, inneres Objekt schildern, das er jetzt für immer in sich trägt. So ungefähr hat mir das die Medizinjournalistin Dunja Voos beschrieben, die als Studentin selbst mal krank war und Hilfe in der Analyse fand. Wir skypen einen Abend lang. Auf dem Schirm erscheint eine aufgeweckte Frau, weiße Haarsträhnen, junges Gesicht. Wir reden erst mal über das „Hm“ in der Analyse, jenes, an dem ich so verzweifelt bin. Die Analyse, sagt sie, sei eben auch ein körperlicher Prozess, eine Art Trance, in die sich Analytiker und Patient begeben. Das Atmen sei wichtig, das Seufzen und die gemeinsamen Bauchgeräusche, die manchmal beginnen, einen eigenen Dialog zu führen. „So, wie der Analytiker ‚hm‘ sagt“, erklärt sie, „habe ich oft das Gefühl, dass da tiefstes Verstehen ist oder eben auch mal weniger Verstehen. Man kann über alles sprechen. Ich glaube, dass Psychoanalyse immer auch Trost ist oder sein sollte.“ 

Inzwischen ist Voos selbst in der Ausbildung zur Psychoanalytikerin, seit sieben Jahren. Halbtags arbeitet die promovierte Ärztin in der Psychiatrie. Ihr Blog präsentiert aktuelle Forschungsergebnisse, Buchbesprechungen, neue Entwicklungen in der Psychoanalyse und Rekurse auf deren Geschichte. „Wenn ich gerade wieder das Neueste vom Neuen lese“, sagt sie, „denke ich: Was ist daran neu? Wir machen das schon die ganze Zeit so. Aber die meisten ‚Neuen‘ haben Freud und seine Weiterentwicklungen nicht gelesen und noch nicht auf der Couch gelegen.“ Mit Dunja Voos wächst offenbar eine neue Generation von Analytikern heran: wissenschaftlich aufgeschlossen, kritisch, innovativ. Und doch wirkt Voos wie aus der Zeit gefallen. Ihr fehlt das Schnittige, das ich an Bohus und Otte wahrzunehmen glaubte. Sie hat die zarte Aura einer Frau, die im späten Schein der Lampe kluge Briefe schreibt. Fast wie die Frauen um Freud herum, Lou Andreas-Salomé, Marie Bonaparte, Sabina Spielrein und all die anderen, die ihn mit ihren Ideen versorgten, damals, als die Seele noch ganz langsam war.

Kein allein agierendes Genie

Er hat das ja nicht allein gemacht. Der medizinische Diskurs um Trauma, Hysterie und Sexualität, in den sich Freud als junger Arzt eingeflochten hatte, war um die vorletzte Jahrhundertwende schon seit Jahrzehnten in Gang gewesen. Die Idee, es gebe ein Unbewusstes, Abwehr, Spaltung und Verdrängung, war längst da. Man versuchte Magnetismus, Hypnose, Abreaktion. In Paris, wo Freud kurz hospitierte, forschte Charcot, in Zürich Bleuler, in Wien Breuer, mit dem Freud anfangs gemeinsam publizierte – um nur wenige Namen zu nennen. Viele seiner Ideen gewann Freud nicht aus seinen Fällen, sondern aus Publikationen. Lange galt die Psychoanalyse als Kuriosität, erst Bleuler und sein Mitarbeiter C. G. Jung hoben sie in den Stand einer seriösen wissenschaftlichen Bewegung. Der Begriff „Psychoanalyse“ stammt nicht von Freud, sondern von Breuer. Das alles hat Freud, als er endlich berühmt war, unterschlagen. Auch dass er von Freunden, Kollegen und Schülern umgeben war, die ihm intellektuell zuarbeiteten. Die Verwicklungen zwischen ihnen überbieten jeden Intrigenroman.

Noch immer wird die Psychoanalyse als Behandlungsmethode verstanden, dabei hat sich Freud von ihr vor allem einen erkenntnistheoretischen Gewinn erhofft, der auch anderen Wissenschaften zugutekommen sollte. Die therapeutischen Grenzen waren ihm dagegen früh bewusst. Als er anfing, die „kathartische Therapie“ anzuwenden, aus der später die Psychoanalyse hervorging, sagte er seinen Kranken den berühmten Satz: „Sie werden sich überzeugen, daß viel damit gewonnen ist, wenn es uns gelingt, Ihr hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln.“ Die Psychoanalyse hat den bebenden Menschen zum letzten Mal schmerzhaft geerdet, bevor er in die Moderne aufbrach, in die neue Welt der Fragmente. Eine Weile noch hoffte er, wieder ganz zu werden – geflickt wie ein Geschöpf von Frankenstein, aber wenigstens eines, das von sich sprechen kann. Freuds berühmte Fälle waren Figuren auf der Kippe, nicht nur der psychischen, sondern der historischen. Sie waren die Symptomträger ihrer Epoche. 

Sergej Konstantinowitsch Pankejeff zum Beispiel, der „Wolfsmann“, wuchs als Sohn reicher Grundbesitzer im Russland der Zarenzeit auf, und während er bei Freud in Behandlung war, brach die Oktoberrevolution aus. Gesund wurde er nie. Und dann die vielen „hysterischen“ Frauen. Intelligent, gebildet, meistens auch reich, standen sie an der historischen Schwelle zur Emanzipation. Das ahnten sie, während sie wussten, dass es für sie nur die Ehe gab – allenfalls noch die Psychoanalyse. Freud hat sie wenigstens zu Protagonistinnen gemacht. Tatsächlich sind seine Fallstudien gute Literatur, so traumhaft knapp geschrieben, wie wir es später von Truman Capote kennen, randvoll mit Drama, Schicksal und Erlösung. Das wusste Freud auch selbst. Schon früh bekannte er, der „bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden“ sei, dass die Krankengeschichten, die er schreibe, „wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren“. Kritiker werfen ihm das bis heute vor. 

Reputation wichtiger als die Wahrheit

Der französische Philosoph Michel Onfray bezeichnete Freud als „Märchenerzähler“. Der holländische Soziologe Han Israëls wies anhand von Quellenmaterial nach, dass Freud seine Heilungserfolge übertrieben habe. Der amerikanische Psychoanalytiker Jeffrey M. Masson fand als Direktor des Sigmund-Freud-Archivs in etlichen Briefwechseln Hinweise darauf, dass Freud die Tatsache des massenhaften sexuellen Kindesmissbrauchs verschleierte, auch bei seinen eigenen Patientinnen, indem er den Ödipuskomplex erfand, den kindlichen Inzestwunsch, der entsprechende Fantasien generiert. Warum Freud das tat? Weil ihm seine Reputation wichtiger gewesen sei als die Wahrheit, denn von der realen Gewalt, der Kinder ausgesetzt seien, glaubt Masson, wollte damals niemand etwas wissen. Einen fruchtbaren Diskurs innerhalb der psychoanalytischen Denkwelt konnten alle drei Kritiker nicht initiieren, sie trafen auf das, was Freud als „Abwehr“ bezeichnete: Masson verlor seinen Posten, Onfray wurde als Faschist beschimpft und Israëls unter einer Welle von Verrissen begraben. Bei einem seiner Vorträge saß ich selbst im Publikum, Anfang der Neunziger in der Berliner Urania. Nachdem er seine Thesen vorgetragen hatte, mit seinem liebenswürdigen holländischen Akzent, fauchte ihn eine Dame aus dem Publikum an, er möge nun bitte seine unbewussten Motive, Freud zu kritisieren, offenlegen.

Vielleicht ist der Ansatz der fauchenden Dame gar nicht so falsch. Inwiefern Freud ein Projektionsschirm ist, hat der Historiker Anthony D. Kauders systematisch untersucht. Der gebürtige Schweizer ist Professor für moderne Geschichte an der englischen Keele University. Sein Buch „Der Freud-Komplex“ zeigt anhand der Reaktionen auf Freud, welche Vorstellungen, Ängste und Denkmuster zu bestimmten Zeiten en vogue waren

„Rückblickend“, erklärt Kauders mit schweizerischem Englischakzent, „können wir erkennen, dass die Beschäftigung mit Freud ein Auf und Ab der Frage widerspiegelt, wie wichtig uns das Unbewusste ist. Wir können da gewisse Wellenbewegungen beobachten.“ Der anfänglichen Empörungswelle vor allem über die Betonung des Sexuellen bei Freud folgte, so konnte Kauders beobachten, eine Akzeptanz des Unbewussten und seiner kreativen Möglichkeiten in den zwanziger Jahren. Im Dritten Reich habe Freud als Vertreter eines gefährlichen „jüdischen Logozentrismus“ gegolten, das Unbewusste dagegen als Ort der „Volksseele“, der man sich rauschhaft hingeben wollte. „Nach dem Krieg ist Freud dann mit Rationalität und der liberalen Demokratie assoziiert worden, als einer, der die Gefahren des Unbewussten in ruhige Bahnen lenkt.“

Metaphern mit abstrakten Ideen

Während Kauders weiterspricht, denke ich, wie ungewohnt, mit einem zu reden, der viel gelesen hat. Als Freud das erste Mal auf C. G. Jung traf, sollen sich die beiden 13 Stunden am Stück unterhalten haben. Das ist länger als eine Staffel „Game of Thrones“. Für Freud und seine Zeitgenossen war es selbstverständlich, sich mit Sophokles, Kant und der Hunnenschlacht, Nietzsche, den Pythagoreern, Heine und Napoleon auszukennen, aber heute fragt man sich, wenn einer viel weiß, wie er das so schnell gegoogelt habe. Auf einmal ist Kauders verschwunden „Hallo?“, rufe ich nervös in den Hörer. „Ich bin nicht weg“, sagt Kauders, „ich habe nur geschwiegen.“

Seit ein paar Jahren scheint sich im Diskurs um Freud Gelassenheit auszubreiten. Inzwischen nehmen auch Psychoanalytiker Freud nicht mehr ganz so wörtlich. Es ist nicht leicht, Bernhard Strauß ans Telefon zu kriegen, den viel beschäftigten Direktor des Instituts für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Professor für Medizinische Psychologie und Psychotherapie. „20 Minuten“, sagt seine Sekretärin, aber als Strauß zu reden beginnt, im gemütlichen Fränkisch, klingt das, als hätte der ausgebildete Psychoanalytiker mindestens eine Sitzungslänge Zeit. „Der Ödipuskomplex“, beginnt er, „ist natürlich nur eine aus dem Mythos abgeleitete Generalisierung, eine Fantasie. Dennoch ist er für uns ein hilfreiches Reflexionsmodell für die Aufgabe des Menschen, seine Geschlechtsidentität zu finden. Denn dafür interessieren sich schon Kleinkinder.“ Strauß dekliniert ein paar der prominentesten freudschen Vokabeln durch, und immer wird klar: Was Freud entworfen hat, waren Metaphern. Die abstrakten Ideen dahinter werden jetzt wieder diskutiert, seit der Neurobiologe und Medizin-Nobelpreisträger Eric Kandel zum Dialog zwischen Psychoanalyse und Neurobiologie angeregt hat. In diesem Kontext werden zum Beispiel Freuds traumatheoretische Konzepte bestätigt, und dem Unbewussten, das man jetzt das „Vorbewusste“ nennt, kann man im MRT bei der Arbeit zusehen. Strauß ist darum optimistisch. Er sieht in der Psychoanalyse eine Methode der Zukunft, solange sie wissenschaftlich offen bleibt.

Freud selbst hätte das gefallen, zumal das „gemeine Unglück“, wie er es genannt hatte, schließlich auch ihn ereilte. Seine Tochter Sophie starb, sein Lieblingsenkel starb, er bekam Kieferkrebs, seine Bücher wurden in Berlin verbrannt, er floh 1938 nach London. Seine Couch und die vielen antiken Figuren konnte er mitnehmen. Sein Behandlungszimmer war jetzt weiß. Hier, im Maresfield Gardens 20, starb er im Alter von 83 Jahren, am 23. September 1939, morgens um drei.

Die freudsche Magie

Kürzlich sah ich ihn wieder, als Aufdruck auf einem Jutebeutel, darüber der Spruch: „dirty bitches must be analysed“. Der Beutel hing über der Schulter einer 17-Jährigen. Sie wusste nicht mehr so genau, wer Freud war – „Ich glaube, ein Philosoph, der über Männer und Frauen geschrieben hat“ –, aber noch genug, um den Jutebeutel, in der Smartphone und Biobuch steckten, komisch zu finden. Ich fragte sie, woher sie die Tasche habe? „Sie hing an einem Zaun“, lachte sie, „und Freud guckte mich so an.“ Dann fügte sie, nun ernster, hinzu: „Das muss ja eine Bedeutung haben.“ Auf einmal war sie wieder da, die freudsche Magie. Ich dachte daran, wie stark Freud bis heute in die Frage nach der Identität eingreift, und ich fragte mich: Warum bloß wollen wir immer noch wissen, wer wir sind?

Letztlich ist alles ein Missverständnis. Freuds Antwort auf die Zumutungen der neuen Welt war der Schmerz, nicht die Heilung. Wir halten ihn für eine Figur der Moderne, für einen ihrer Wegbereiter. Aber Freud hat keine neue Epoche eingeleitet, er hat eine letzte verabschiedet. Er hat versucht, das Individuum zu legitimieren, als eine bedeutsame Gestalt, die eingebunden ist in klare Bezüge und unter diesen Bezügen gelegentlich leidet. Mit der holistischen Welt des vorindustriellen Zeitalters ist das alles nach und nach verschwunden. Wenn wir heute leiden, gehen wir online oder manchmal sogar noch richtig weg. Wir können uns über die Massengesellschaft jederzeit neu erfinden. Vielleicht spürte Freud ihre erste, seismische Welle, als er versuchte, den Menschen noch einmal als Geschichtswesen zu begreifen, das an seiner Geschichte zerbrechen kann. Insofern war Freud ein Konservativer, der die Ideen der Moderne nutzte, um sie gegen sie zu verwenden. 

„Sie sagen ja selbst“, zitierte er seine Kranken, „daß mein Leiden wahrscheinlich mit meinen Verhältnissen und Schicksalen zusammenhängt: daran können Sie ja nichts ändern.“ Womöglich wollte er das gar nicht. Freud war kein Revolutionär, er war der letzte Epiker einer versinkenden Welt, und er versuchte, diese Welt zu retten, in seinem vollgestopften, dunklen Zimmer. Heute noch in uns zu schauen, als wäre da etwas anderes als Treibsand aus funkelnden Pixeln, der sich zu immer neuen Identitäten formen kann, ist ein Anachronismus. Vielleicht würde Freud über jeden lachen, der sich noch auf die Couch begibt. Heute, würde er vielleicht sagen, sei alles ein „Narrativ“, weil es keine Erzählung mehr gibt. Jetzt also sind wir Gegenwartswesen, fröhlich zersplittert, und auch ich habe nichts zu berichten, außer dass einmal ein kleiner, weißer Hund sehr freundlich zu mir war. 

Dieser Text erschien in der August-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

Jetzt Ausgabe kaufen

 

 

 

Anzeige