Sexismus-Debatte - Zwischen Porno und Prüderie

Kolumne: Grauzone. Wenn es um Sex geht, haben wir uns eine schizophrene Kultur erschaffen. Im Fernsehen gibt es tagsüber Werbung für Dildos, gleichzeitig werden wir von einer Welle sexualethischer Korrektheit überrollt. Konflikte sind so kaum zu vermeiden

Darstellerinnen auf der „Venus“-Messe in Berlin: Porno als Alltagskultur / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Eigentlich muss man es nicht extra betonen. Weil es selbstverständlich ist und weil es ein Grundpfeiler dessen ist, was wir Zivilisation nennen. Doch der Alltag lehrt, dass auch das Selbstverständliche wieder und wieder gesagt werden muss: Ein Abhängigkeitsverhältnis sexuell auszunutzen, ist kein Kavaliersdelikt. Hier handelt es sich um Nötigung. Und im Grunde um eine Form von Vergewaltigung – wenn auch nicht im Sinne des Strafgesetzbuches.

Auch in unserem ach so aufgeklärten und ach so modernen Land nützen viel zu viele Männer – und es sind nun einmal fast ausschließlich Männer – Machtpositionen aus, um sexuelle Kontakte herbeizuführen: in Universitäten, Unternehmen, Krankenhäusern, Agenturen, Theatern oder wo auch immer – heterosexuelle und homosexuelle Männer im Übrigen. Männlich allerdings ist dieses Verhalten nicht, sondern erbärmlich.

Armutszeugnis der Zivilcourage

Hinzu kommt: Für eine Gesellschaft, die laufend das Wort „Zivilcourage“ im Mund führt, ist es ein Armutszeugnis, dass solche sexuellen Ausbeutungsverhältnisse all zu häufig mit einem wissenden Schmunzeln oder Getuschel hinter vorgehaltener Hand übergangen werden. Denn erst dieses Klima des Schweigens und Tolerierens macht die Täter stark und sicher. Es bleibt dabei: Freundlichkeit ist keine Aufforderung zur Anmache, genauso wenig wie ein kurzer Rock. Ein „Dann mach doch die Bluse zu“ ist zynisch und geht an der Sache vorbei.

So weit, so klar, so unstrittig. Dennoch – oder gerade deswegen – muss sich unsere Gesellschaft ein paar grundlegende Fragen gefallen lassen. Denn wir haben uns in den vergangenen Jahrzehnten eine geradezu schizophrene Kultur geschaffen.Auf der einen Seite feiern wir den menschlichen Körper und unserer Sexualität bei jeder Gelegenheit und in aller Explizitheit. Porno ist Alltagskultur geworden. Gazetten berichten über die neusten Trends beim Intimpiercing, Ratgeberseiten informieren über Swinger-Clubs, und in den Lifestyle-Magazinen bedienen vorzugsweise junge Autorinnen den Voyeurismus der Leser, indem sie detailliert ihr polygames Liebesleben protokollieren.

Sexualisierung des Alltags

Parallel dazu läuft schon im Tagesprogramm der Fernsehsender Werbung, die Dildos und S/M-Equipment für die moderne Frau anpreist, in Videoclips setzen sich Popsternchen als nymphomane Sex-Maniacs in Szene und auf Instagram inszenieren C-Promis ihren überarbeiteten Körper als Ware – und tausende Teenager machen es ihnen nach.

Zugleich aber wird unsere Gesellschaft von einer Welle sexualethischer Korrektheit überrollt, die puritanische Züge trägt. Dabei stehen im Fadenkreuz der allgemeinen Empörung nicht nur sexuelle Übergriffe oder Nötigungen, was durchaus berechtigt wäre, sondern jede Äußerung oder Handlung, die bekundet, eine Frau als sexuell attraktiv wahrzunehmen oder gar von ihr – horribile dictu – angezogen zu werden.

Es ist bizarr: Auf der einen Seite leben wir eine Kultur der exzessiven Zurschaustellung sexueller Reize, der nicht selten ordinären Inszenierung der Körpers und der vulgären Zurschaustellung sexueller Hyperaktivität. Im selben Moment jedoch verwahren wir uns geradezu hysterisch gegen die Effekte, die diese Sexualisierung des Alltags nach menschlichen Ermessen zwangsläufig mit sich bringt.

Anstand und Sitte keine Einbahnstraße

Zu erwarten, dass diese Übersexualisierung der Alltagskultur nur einseitig verläuft, ist mehr als naiv. Anstand und Sitte – um einmal diese altertümlichen Worte zu benutzen – sind keine Einbahnstraße. Es ist von bodenloser Blauäugigkeit, zu meinen, man könne eine Gesellschaft grenzenloser sexueller Libertinage schaffen, ohne dabei die abstoßenden Facetten dieser sexualethischen Entgrenzung präsentiert zu bekommen.

Wohl gemerkt: Ein Minirock darf niemals ein Freibrief für sexuelle Übergriffe sein. Doch darf diese banale Tatsache nicht den Blick dafür verstellen, dass wir uns ein sexualethisches Klima geschaffen haben, das hochgradig selbstwidersprüchlich ist – und kindisch dazu.

Denn es ist Ausdruck eines geradezu autistischen Narzissmus, zu glauben, es sei das Recht eines jeden, sich als sexuell hyperaktives und hedonistisches Individuum zu inszenieren, ohne dabei die Schattenseiten dieser entfesselten Libido einzufahren. Wo sexualethischer Anstand als spießig und verklemmt gilt, wird man nicht nur die leckeren Früchte ernten, sondern die bitteren dazu.

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