Serie: Exilliteratur - Vom Schriftsteller zum Flüchtling

Aus Angst vor Verfolgung und Sehnsucht nach seiner bereits geflüchteten Familie kam der syrische Journalist Kheder Alagha im Oktober 2013 nach Deutschland. Doch im Exil erwartete ihn die Sprachlosigkeit

Die völlig zerstörte Altstadt von Rakka in Syrien / picture alliance
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Autoreninfo

Kheder Alagha, 1965 in Salamiyya in Syrien geboren, ist Lyriker, Journalist und Literaturkritiker. Er veröffentlichte in Syrien und Libanon drei Gedichtbände sowie mehrere Studien zu syrischer Literatur. Bis 2011 war er für die Zeitungen „Jousur“ und „Shurufat“ als Redaktionsleiter im Bereich Kulturjournalismus und auch für mehrere internationale Medien tätig. Bild: Jonas Wölk

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Anscheinend hatte meine persönliche Geschichte bis zum Beginn der Revolution in Syrien im März 2011 warten müssen, um zu beginnen. Von diesem entscheidenden Zeitpunkt an schien alles, was ich bis dahin erreicht, was ich aufgebaut, gedacht und geschrieben hatte, wie ich gelebt hatte, nichts gewesen zu sein – oder fast nichts. Nach mehr als einem halben Leben festzustellen, dass das eigene Volk, das eigene Land und man selbst in einer gestohlenen Zeit gelebt haben, einer Zeit der Lüge, einer Zeit des Zwangs, und dass man mit allem von Neuem beginnen muss, das verleiht diesem Moment seine historische Dimension. Alles, was danach kommt, unterscheidet sich gänzlich von allem, was davor war.

Im März des Jahres 2011 haben die Syrer beschlossen, sich ihr Leben, ihre Existenz und ihre Geschichte zurückzuerobern. Sie wissen, dass in Syrien kein politisches System im modernen Sinn existiert, es gibt keine juristischen, verfassungsgemäßen oder parlamentarischen Institutionen, an die sie sich wenden könnten, um die ihnen geraubten Rechte zurückzufordern. Stattdessen herrscht in Syrien eine Clique, eine Mafia, die die Menschen überwacht und ihr Schicksal bestimmt. Die Syrer nennen Syrien „Assads Bauernhof“, darin sind sie selbst lediglich die Bediensteten, gezwungen, dort zu arbeiten, um als Gegenleistung am Leben bleiben zu dürfen. Deshalb gingen die Syrer, wie viele Völker in der Vergangenheit, auf die Straße, um elementare Rechte, wie das Recht auf Leben, einzufordern. Sie besaßen nichts als ihre Kehlen und forderten ein zivilgesellschaftliches, demokratisches und pluralistisches Syrien.

Der Beginn der Revolution

Die Geschichte der Revolution und die Geschichte des vergossenen Blutes, das immer noch frisch ist, erzählt davon, wie dieses mafiöse Regime seit dem ersten Augenblick der Demonstrationen in Daraa südlich von Damaskus – der Stadt, die als Wiege der Revolution gilt – mit scharfer Munition auf Menschen schoss, einige tötete und viele verletzte, von denen später etliche starben. Als das Regime gewahr wurde, dass die Demonstrationen nicht aufhören würden, sondern sich im Gegenteil landesweit ausbreiteten, schickte es Panzer, ließ die Armee in den Städten und Dörfern auffahren, stellte Raketen auf und sandte seine bewaffneten Schlägertrupps mit dem Befehl aus, Menschen zu verleumden und einzuschüchtern, um sie wieder in das „Haus des Gehorsams“ zurückzuholen.

In den eigenen Medien und in den Medien seiner Unterstützer verbreitete es Gerüchte, dass die Demonstranten alle „Terroristen“ seien, um sich selbst als „Kämpfer gegen den Terror“ verkaufen zu können! Um eine solche Behauptung zu beweisen, versuchte das Regime zu Beginn der Revolution, die Menschen zum Schweigen zu bringen und die zivilgesellschaftlichen demokratischen Stimmen zu unterdrücken. Es drängte den nationalen demokratischen Diskurs brutal zurück, indem es zahlreiche demokratisch denkende Aktivisten der Revolution verhaftete, folterte und ermordete. Gleichzeitig wurden auch Demonstranten und Erste-Hilfe-Leistende auf den Straßen und Plätzen verhaftet und getötet. Viele Oppositionelle, auch jene, die keine Aktivisten waren, gingen daraufhin in den Untergrund und flohen schließlich ins Ausland.

Angst vor Folter und gegenseitiger Argwohn

In dieser schwierigen und belastenden Zeit, als ich darauf wartete, einen gültigen Pass zu bekommen, wurden einige Freunde und Verwandte von mir verhaftet. Es bestand die Gefahr, dass sie unter Folter Informationen preisgaben und meinen Namen nannten, was mich in ständige Angst versetzte. Selbstverständlich wollte ich nicht auch noch verhaftet werden, hatte ich die Erfahrung der Haft doch vor der Revolution bereits zweimal gemacht und dabei die faschistischen Foltermethoden des syrischen Geheimdienstes zu spüren bekommen – zudem war die Folter während der Revolution um ein Vielfaches grausamer. 

Zwar konnte es auch vor der Revolution geschehen, dass jemand unter Folter starb, doch das kam eher selten vor; während der Revolution aber geschah dies täglich und systematisch. Diese Ängste beschleunigten meine Abreise, denn es war äußerst schwierig geworden, sich über einen langen Zeitraum vor den Blicken der Geheimdienstler, Regimeschergen und Spitzel zu verbergen, die überall wie wildgewordene Tiere in den Vierteln herumstreunten, und wo die Leute sich gegenseitig mit Argwohn und Wachsamkeit beobachteten – ein jeder von ihnen aus eigenen Gründen.

Die Entscheidung, zu gehen

Anfang 2013 erhielt ich eine Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung, als Gastschriftsteller im Heinrich-Böll-Haus in der Nähe der schönen Stadt Köln zu leben. Ich zögerte lange, schließlich wollte ich mein Land, in dem gerade eine Revolution stattfand und das der Gefahr der Vernichtung ausgesetzt war, nicht im Stich lassen. Gleichzeitig konnte ich aber in Syrien auch nichts tun. Acht Monate nach Ausbruch hatte sich die Revolution gezwungenermaßen bewaffnet, Raketen des Regimes gingen nur wenige Meter neben mir nieder, Flugzeuge überflogen mein Haus, Checkpoints unterbrachen die Verbindungen zwischen Städten, Vierteln und Straßen ..., was bedeutete, dass die leidenden Menschen kaum noch Hilfe erreichte!

Mein damals zehnjähriger Sohn Aram hatte Syrien mit seiner Mutter Richtung Deutschland verlassen, nachdem eine Rakete in der Nähe seines Schulbusses eingeschlagen war und die Fenster über den Köpfen der Kinder hatte zersplittern lassen. Nach diesem Vorfall entschieden seine Mutter und ich, ihn nicht mehr in die Schule gehen zu lassen, um ihn nicht weiter in Gefahr zu bringen. 2012 machten sich mein Sohn und seine Mutter auf den Weg nach Deutschland. Als das Auto, das Aram in den Libanon bringen sollte, eintraf, war er gerade beim Essen. Er ließ alles stehen und ging hinaus, und als er sich ins Auto setzte, setzte sich mein Herz neben ihn ..., oder besser, Aram selbst war mein Herz im Auto. Ich konnte während der gesamten gefährlichen Strecke in den Libanon seine rasenden Schläge vernehmen, ich hörte sein Weinen, ich sah seinen Blick zurück, seine Hand, die mir zum Abschied zuwinkte ... Ich wurde zu einem menschlichen Wrack.

Seine zitternde Stimme, als er mich aus Deutschland anrief, seine ständigen Fragen nach seinen Freunden, seinem Spielzeug, seinen Schildkröten zu Hause, seinem Fahrrad ..., und seine unvergesslichen Worte: „Ich will dich hier haben!“, waren ausschlaggebend für meine Entscheidung, Syrien ebenfalls Richtung Deutschland zu verlassen.

Flüchtling-Sein

Einmal stellte mich ein Journalist bei einem Interview als Lyriker und Schriftsteller vor, der ein syrischer Flüchtling sei! Ich ein Flüchtling? Ich widersprach: „Ich bin doch kein Flüchtling, ich habe eine Mutter in Syrien, Brüder und Schwestern und Freunde, ich habe ein Land, in dem habe ich ein Zuhause, ich besitze viele Bücher, sehr viele sogar, und ich habe eine Sprache dort ... und ich werde zurückkehren.“

Trotz all meiner leidvollen Erfahrungen konnte ich, bis ich das Heinrich-Böll-Haus verließ und anstatt zurück nach Syrien nach Lübeck zog und dort ein neues Leben begann, nicht ermessen, was es bedeutet, ein Flüchtling zu sein. In jenem Haus hatte ich ein Zuhause gehabt, bin ein willkommener Gast gewesen, ein Schriftsteller. Doch in nur einem einzigen Tag wurde ich plötzlich von einem Schriftsteller mit einem Zuhause zu einem Flüchtling!

Ich kam mir vor wie ein Vogel ohne Flügel, wie Samson ohne Haare. Alle Bücher, die ich gelesen, die ich geschrieben, an denen ich mich beteiligt, für die ich ein Vorwort geschrieben und die ich herausgebracht hatte ... hatten keine Bedeutung mehr. Einer der alten arabischen Schriftsteller sagte einmal: „Rede, denn der Mensch verbirgt sich in den Falten seiner Zunge.“ Aber wie soll ich sprechen, wie soll ich mich darstellen, wo ich doch ohne Zunge bin?

Im Exil wie zweigeteilt

Hier bin ich nur ein Wesen, das sich sein Bild von sich dort ins Gedächtnis ruft. Ich bin wie zweigeteilt. Eine Hälfte ruft so laut sie kann: „Ich will meine Wohnung, ich will meine Familie, ich will meine Bücher und meine Autoren!“ Und die andere Hälfte ist still, sie schweigt, kann weder schreien noch die neue Realität akzeptieren und ist nicht in der Lage, sich eine angemessene reale Welt aufzubauen. Ich sitze am Schreibtisch, ohne zu schreiben, und glaube nicht an die mir bekannten Biographien exilierter oder ausgewanderter Schriftsteller, die für lange Zeit am Ort ihrer Migration und ihres Exils lebten, ohne zu schreiben, und dann wieder zum Schreiben zurückkehrten. Ich glaube ihnen nicht.

Der syrische Schriftsteller hat ein Anliegen: das syrische Volk, das ausgelöscht wird. Entweder er engagiert sich für sein Volk, oder er soll für immer schweigen. Es gibt keinen Mittelweg, davon bin ich überzeugt.

Aus dem Arabischen übersetzt von Larissa Bender.

Dieser Text wurde im Zusammenhang des Projekts „Ankunft. Literarische Reportagen von geflüchteten Autoren“ der Peter-Weiss-Stiftung für Kunst und Politik e.V. geschrieben. Damit soll Autoren, die in den vergangenen Jahren aus Krisengebieten nach Deutschland gekommen sind, aber bis jetzt nicht oder nur wenig in Deutschland publizieren konnten, ein Forum in der deutschen Öffentlichkeit gegeben werden. Ausschnitte der Reportagen wurden beim diesjährigen internationalen literaturfestival berlin gelesen. 

Auf Cicero Online präsentieren wir die Texte in einer Serie. Dies ist der Auftakt dazu. Den zweiten und dritten Teil lesen Sie hier und hier.

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