Serie: Exilliteratur - „Deutschland war immer der Ort meiner Träume“

Der syrische Dichter Mohamad Alaaedin Abdul Moula kam vor zwei Jahren als Stipendiat der Hannah-Arendt-Stiftung nach Hannover – und kann sein Glück immer noch kaum fassen. Er schätzt den geistigen Reichtum im Land seiner literarischen und philosophischen Vorbilder

Szene aus dem Kinofilm „Hannah Arendt“: Die jüdische Philosophin inspiriert Mohamad Alaaedin Abdul Moula / picture alliance
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Autoreninfo

Mohamad Alaaedin Abdul Moula, geboren 1965 in Homs, Syrien, schreibt mit seinen Texten über Politik, Religion und die Würde des menschlichen Körpers gegen Tabus seines Landes an. In den letzten drei Jahrzehnten veröffentlichte er dreizehn Gedichtbände, sechs Literaturkritikbände und eine Anthologie syrischer Dichtung. In Kooperation mit dem International Cities of Refuge Network (ICORN) lebte er 2011 bis 2015 in Mexiko, ehe er mit ICORN als Stipendiat der Hannah-Arendt-Stiftung nach Hannover kam. Bild: picture alliance

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Viele Syrer spielten schon lange mit dem Gedanken, ihrem Land den Rücken zu kehren – auch ich zählte dazu. Als oppositioneller Dichter litt ich sowohl psychisch, als auch sozial und kulturell unter dem Assad-Regime. Es begann, als ich fünfzehn Jahre alt war, und zwei meiner Brüder 1981 im Wüstengefängnis von Tadmur hingerichtet wurden. Seitdem sah man auch in mir einen Oppositionellen, ich war ständiger Beobachtung ausgesetzt, was sich noch verschärfen sollte, als ich zu schreiben begann und im Kulturbereich aktiv wurde.

Während ich Gedichte schrieb und philosophische Texte las, begriff ich, dass der Geist der eigentliche Hort der Freiheit ist. Denn Freiheit ist in erster Instanz eine innere Haltung sich selbst und in zweiter Instanz der Umgebung gegenüber, angefangen bei der Familie bis hin zum Präsidenten! Während dieser langen Zeit war ich von der Wirklichkeit in dem Sinne abgeschnitten, dass ich mich ihr nicht anpasste. Wie das? Nun, die philosophischen Untersuchungen Heideggers und seine Überlegungen zur Dichtung haben mich dazu ermutigt. Sein berühmtes Diktum „Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch“, wurde zu meiner Methode zu fühlen, zu schreiben und zu träumen.

Die Mauern der Wirklichkeit in Syrien

Ich bezog Position zu meinem Land, zu meiner Wirklichkeit, zu meiner Gesellschaft und lebte gleichzeitig in der Sprache. Ich flüchtete in die Sprache. Ja, ich sah mich selbst als jemanden, der in einem großen Gefängnis namens Syrien eingesperrt war. Ich begriff, dass Gefangene durch ihre Meinungen und Gedanken, ihren Intellekt und ihre Vorstellungskraft zum Ausdruck bringen und so Formen des individuellen Widerstands gegen Willkür und Unterdrückung entwickeln können. Und so wie Gefangene in einem echten Gefängnis gegen die Mauern stoßen und von Foltertermin zu Foltertermin geschleppt werden, stieß ich in dem Gefängnis namens Syrien an die Mauern der Wirklichkeit, der Ethik, der Herrschaft, an die Mauern seiner Sprache, seiner Institutionen und seiner Ideologen.

Meine Seele hat sich daran aufgerieben und der Schmerz darüber erfüllte mein ganzes Sein, weil ich in einem Land lebte, in dem es kein Leben gibt, außer für eine widerspenstige Phantasie, deren Krallen sich in dich hineinbohren und deine Beziehungen zu allem und jedem um dich herum vergiften. Willst du dich wirklich durch deinen Verstand, das heißt durch dich selbst von dir selbst befreien? Dann wirst du dies teuer bezahlen. Eines Tages sagte ich mir: Ich will es nicht mehr, ich werde mich nicht weiter opfern. Ich will hier nicht mehr leben.

Über Mexiko nach Deutschland

So beschloss ich, einen Weg zu suchen, um aus Syrien herauszukommen. Den hatte ich gefunden, als ich das erste Mal mit der Organisation Icorn (International Cities of Refuge Network) in Kontakt trat, die Schriftsteller aus Diktaturen in ihre Obhut nehmen. Diese Organisation hilft Betroffenen, ihr Land zu verlassen, und bringt sie in Länder, in denen sie eine Geschäftsstelle unterhält. Anfangs hatte man mir Schweden vorgeschlagen. Schließlich landete ich in Mexiko, wo ich von einer Organisation namens Casa Refugio Citlaltépetl aufgenommen wurde. Dort blieb ich viereinhalb Jahre, bis ich einem hohen Verantwortlichen von Icorn begegnete. Dieser eröffnete mir, dass man mich nach Deutschland schicken werde. Ich schaute ihn mit aufgerissenen Augen an: „Deutschland? Ich gehe nach Deutschland?“ Er nickte.

Deutschland war für mich nicht nur das Traumland, in dem ich leben wollte, es war so viel mehr. Spanien, Frankreich, Brasilien, all diese Länder hätte ich mir vorstellen können. Aber Deutschland, der Gipfel philosophischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Denkens? Der Gipfel dessen, was ein Schriftsteller sich nur wünschen kann, um sich literarisch und kulturell zu bilden, um sein ästhetisches Empfinden und logisches Denken weiterzuentwickeln. Doch so kam es, obwohl ich nicht einmal im Traum gedacht hatte, dass ich jemals den Boden dieses Landes betreten würde.

Hannah Arendt als maßgebliche Instanz

Ich bin als Hannah-Arendt-Stipendiat nach Deutschland eingeladen worden. Hannah Arendt wurde in der Nähe des Hauses, in dem ich gerade diese Zeilen schreibe, geboren. Ist es ein Zufall, dass gerade ein syrischer Autor ein Stipendium erhält, das den Namen dieser berühmten deutschen Theoretikerin trägt; einer Denkerin, die vor allem über Begriffe wie Exil, Flüchtling, Revolution, Freiheit und Totalitarismus nachgedacht hat, und die als Jüdin vor dem Holocaust nach Amerika geflohen war? Hannah Arendt wurde im politischen Diskurs der arabischen Länder, insbesondere während des arabischen Frühlings und angesichts seiner Begleitumstände Gewalt, Mord, Demonstrationen und die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Zivilgesellschaft und Militär zu einer maßgeblichen Instanz.

Das Schicksal musste es gut mit mir meinen. Es wäre gar nicht möglich, dass ich Hannah Arendt keine besondere Beachtung schenkte, als Syrer, der vor Unterdrückung und Verfolgung aus seinem Land geflohen ist, vor einem Regime, das den totalitaristischen Regimen, die Arendt in ihren Forschungen beschreibt, genau entspricht. Die Parallelen zu den Analysen meiner jüdischen Nachbarin in Hannover sind unübersehbar. Ich kann nicht mehr an ihrem Haus vorbeigehen, ohne in Gedanken mit ihr zu reden und ihre damalige Lage mit meiner und jener anderer Flüchtlinge aus Syrien zu vergleichen. In der Folge habe ich einen Gedichtband begonnen, der 42 Gedichte enthält, die meine Gefühle und Gedanken, die ich in der Auseinandersetzung mit Hannah Arendt entwickelt habe, zum Ausdruck bringen. Soviel ich weiß, ist es das erste Mal, dass ein arabischer Dichter ein Buch schreibt, das dem poetischen Dialog mit einer europäischen Philosophin gewidmet ist.

Krasse Unterschiede zwischen den Kulturen

Doch die Rede von den Gemeinsamkeiten schließt nicht aus, dass man auch die objektiven und historischen Unterschiede genau bestimmt. Die Deutschen, die in andere europäische Länder oder nach Amerika flohen, sind nicht einfach gleichzusetzen mit den syrischen, irakischen, afrikanischen oder aus anderen islamischen Ländern kommenden Flüchtlingen. Die meisten deutschen Flüchtlinge, die in eine andere Gesellschaft flüchteten, stießen sich nicht besonders an den Eigenheiten der Aufnahmegesellschaften und ihrer Kulturen. Zumindest waren Deutsche – als Teil einer europäischen Identität – Bürger eines Landes, das sehr unter den aktuellen gesellschaftlichen Problemen und Krisen litt, die in den arabischen und islamischen Ländern aber bereits chronisch geworden sind. All diese arabisch-islamischen Länder vereint nämlich der Umstand, dass sie nicht fähig sind, eine funktionierende, laizistische und an Gesetze gebundene Zivilgesellschaft aufzubauen.

Damit sich Menschen, die in einem anderen Land sesshaft werden wollen, anpassen und integrieren können, müssen sie die Kultur und die Lebensweisen des sie aufnehmenden Landes sehr gut kennenlernen. Sie müssen in gewisser Hinsicht bereit und fähig sein, sich geradezu neu zu definieren, ein erneuertes Bewusstsein von sich selbst, der Welt um sie herum und ihren Werten zu entwickeln, damit sie sich in die neue Gesellschaft integrieren können. Wie viele Flüchtlinge sind dazu in der Lage?

Wie gelingt Integration?

Normalerweise wählt ein Flüchtling ein sicheres und stabiles Land, in dem im Vergleich zu anderen Ländern ein höherer Grad an Wohlstand herrscht. Und er fragt sich: Was muss ich tun, um an diesem Wohlstand auch teilzuhaben? Reicht es, die Sprache zu erlernen? Eine Arbeit zu finden? Soziale Kontakte zu knüpfen? In Lokale zu gehen, wo man sich vergnügt und sich zerstreut? Tun das die meisten Flüchtlinge nicht schon? Warum verüben aber auch einige Flüchtlinge terroristische Akte? Warum ersticht ein Flüchtling einen anderen Flüchtling? Warum belästigt ein Flüchtling ein deutsches Mädchen sexuell unter dem Vorwand, sie hätte ihre körperlichen Reize offen zur Schau gestellt? Warum geschieht so etwas, obwohl die Flüchtlinge den vorgesehenen Integrationsprozess ordnungsgemäß durchlaufen haben?

Für mich ergibt sich daraus die dringende Notwendigkeit, darüber nachzudenken, was Integration eigentlich bedeutet. Diese grundlegende Frage wird bei der Planung von integrativen Prozessen zu wenig berücksichtigt. Sie legt die krassen Unterschiede zwischen den beiden Zivilisationen und Kulturen offen, die nicht auf die Schnelle beseitigt werden können. Diese zeigen sich in unterschiedlichsten Zusammenhängen und um sie zu verstehen, muss man psychologische und soziologische Perspektiven einnehmen.

Deutsche Geistesgeschichte als Inspirationsquelle

Nun aber wieder zu mir: Wenn ein Flüchtling Schriftsteller, Dichter, Künstler, Musiker, Maler oder Romancier ist, dann gehört er natürlich zu den Privilegierten. Ich profitiere auf ideeller, literarischer und geistiger Ebene, denn ich kann auf die poetischen, erzählerischen, philosophischen, musikalischen und malerischen Erfahrungen von anderen zurückgreifen.

Ich lese deutsche Dichtung in Übersetzung wie zum Beispiel von Goethe, Hölderlin, Rilke, Georg Trakl, Paul Celan, Ingeborg Bachman, aber auch zeitgenössische Dichter wie Joachim Sartorius. Unablässig verfolge ich neu erschienene Übersetzungen deutscher Dichtung. Ich erfreue mich an der Lektüre deutscher Romane von Thomas Mann, Hermann Hesse, Günter Grass, Patrick Süskind und Herta Müller. Von deutschen Philosophen habe ich nahezu alles gelesen, was übersetzt wurde, angefangen bei Kant und Hegel bis hin zu Nietzsche, Husserl, Heidegger, Arendt und Habermas.

Als Schriftsteller wurde ich in meinem Land nicht geachtet. Ich werde der Frage weiter nachgehen, was meine neue Situation in Deutschland, meine Dichtung und mein Schreiben mit mir macht, denn ich finde hier ideale organisatorische und rechtsstaatliche Bedingungen vor. Ich habe die Gelegenheit, mich durch die Teilnahme an Literatur- und Poesiefestivals und ähnlichen Veranstaltungen in deutschen Städten mit der hiesigen Gegenwartsdichtung vertraut zu machen. Auch die vielen Gespräche mit deutschen Dichtern und Lesern, die an Dichtung interessiert sind, inspirieren mich sehr. Ich schrieb Dutzende Gedichte, die das Ergebnis einer neuen Phase in meinem Denken und meinem Dichten sind. Ich versuche, die Eindrücke des neuen Ortes auf mich wirken zu lassen, so dass Gedichte entstehen, die dieser neuen Situierung gerecht werden. Denn der Ort spricht zu mir mit seiner ganz eigenen Philosophie, seiner Art, sich zu äußern und seiner Kultur. Was ich hier tue, wäre in Syrien nicht möglich gewesen.

Deutschland ist kein Neuland

Ich kann nicht verhehlen, dass mich die deutsche Philosophie und Dichtung in den Bann geschlagen hat. Ich verheimliche nicht, dass ich als Verfasser von Gedichten mehr von Hegel gelernt habe als von Literaturkritikern. Als ich das erste Mal mit dem Zug in Deutschland unterwegs war und aus dem Fenster die grüne Landschaft betrachtete, war ich zutiefst berührt und es traten mir Freudentränen in die Augen. Ich konnte nicht fassen, dass ich durch jene Landstriche fuhr, in denen einst Hegel, Nietzsche, Hölderlin, Rilke und Heidegger wandelten.

Ich bin kein Flüchtling, der in ein Land gekommen ist und es jetzt kennenlernen muss. Dieses Land war für mich schon immer ein unendliches Feld voll von Wissen, Ideen und ästhetischen Genüssen. Ich bin ein Flüchtling, der sich wie ein Kind an der Kreativität und den Kreativen erfreut, der all diese Geister umarmen und mit ihnen losfliegen will. Ich bin kein Deutscher, aber Deutschland ist Teil meiner Identität.

Aus dem Arabischen übersetzt von Hakan Özkan. Lektoriert von Bettina Baer.

Dieser Text wurde im Zusammenhang des Projekts „Ankunft. Literarische Reportagen von geflüchteten Autoren“ der Peter-Weiss-Stiftung für Kunst und Politik e.V. geschrieben. Damit soll Autoren, die in den vergangenen Jahren aus Krisengebieten nach Deutschland gekommen sind, aber bis jetzt nicht oder nur wenig in Deutschland publizieren konnten, ein Forum in der deutschen Öffentlichkeit gegeben werden. Ausschnitte der Reportagen wurden beim diesjährigen internationalen literaturfestival berlin gelesen.

Auf Cicero Online präsentieren wir die Texte in einer Serie. Dies ist der zweite Teil, den ersten und dritten Teil finden Sie hier und hier.

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