80. Geburtstag von Werner Herzog - Legendäre Katastrophen

Am heutigen Montag wird der Regisseur Werner Herzog 80 Jahre alt. In seinen jüngst erschienenen Lebenserinnerungen („Jeder für sich und Gott gegen alle“) beschreibt der für seine Abenteuer berühmte Autorenfilmer eine Welt voller Gefahren und Ungeheuerlichkeiten. Und ein einziges großes Erwachsenwerden.

Werner Herzog mit seinem „liebsten Feind“ Klaus Kinski - hier mit Claudia Cardinale beim Cannes Festival 1982 / dpa
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Autoreninfo

Andrea Hanna Hünniger, geboren 1984 in Weimar, ist Journalistin und Buchautorin.

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Die ersten Stunden der Nacht hatte er in reglosem Warten verbracht. Alles schaukelte ihn sanft in einer Wiege der Unendlichkeit. Das schwarze Wasser gluckste am Fischerboot. Es muss nach Tang gerochen haben. Über ihm war der Dom des Weltalls, Sterne wie zum Greifen, und unter ihm, von der Karbidlampe hell erleuchtet, überall silbern blitzende kleine Fische. Es war, als setzte sich die Kuppel des Firmaments mit der Tiefe des Ozeans zu einer Sphäre zusammen, zu einem Weltall ohnegleichen, oben, unten, überall, in dem es allen Geräuschen den Atem verschlagen hatte. Dort fand er sich selbst auf einmal in einem unfassbaren Staunen wieder.

„Ich war mir sicher, dass ich hier und jetzt alles wusste. Mein Schicksal war mir offenkundig. Und ich wusste auch, dass es nach so einer Nacht kaum möglich sein würde, jemals älter zu werden. Ich war mir völlig sicher, ich würde mein achtzehntes Lebensjahr nicht erreichen, weil es, von solcher Gnade erleuchtet, niemals wieder gewöhnliche Zeit für mich geben konnte.“

Die Abgründe da draußen

Werner Herzog, heute Regisseur und Weltstar, war 16 Jahre alt, als er auf diesem Fischerboot anheuerte. Jetzt ist er 80. Doch diese frühe Ahnung, dass er nicht 18 Jahre alt werden würde, ist vielleicht der Schlüssel für sein Leben: Denn wer nicht 18 Jahre alt werden will, bleibt immer ein Kind. Und der kindliche Blick ist voller Neugier, ohne Angst – und ohne den Schatten des Todes. Kinder fürchten ihn nicht, denn er bedeutet nichts für sie. 

In seinen Lebenserinnerungen erzählt Herzog von seiner Kindheit mit Mutter und Bruder auf einem Bauernhof in Oberbayern. Die beiden Brüder finden Waffen, die Soldaten wegwarfen, leben mit seltsamen Einsiedlern auf Nachbarshöfen. Klettern aufs Dach des Hofes, um das Feuer von Rosenheim zu sehen. Das Inferno flackert nicht, es wummert. Das, stellt er ungerührt fest, ist also Krieg.

Aber Herzog weiß in diesem Moment: Da draußen ist eine Welt, die anders ist als die, in der er lebt. Eine Welt, die merkwürdig, voller Gefahren und voller Ungeheuerlichkeiten ist. Er sei fasziniert gewesen und habe keine Angst gespürt, nur Neugier. „Welche Abgründe waren da draußen zu sehen?“

Ein komprimiertes Leben

So erzählt er auch von einem toten Kalb, das am Waldrand im Schnee liegt („Mindestens sechs Füchse zerrten an dem Kadaver, und als ich hinging, flohen sie. Als mein Bruder um das tote Kalb herumlief, floh auf einmal ein Fuchs aus dem Inneren der Bauchhöhle ins Freie“), mit der gleichen unbefangenen Neugier wie von seinen legendären Katastrophen. Immer wieder wurde Herzog bei seinen Exkursionen nach Afrika, in den südamerikanischen Dschungel, auf hohe Berge lebensgefährlich verletzt. 2006 wurde er während eines BBC-Interviews angeschossen – und redete ungerührt weiter. „Die Kultur der Wehleidigkeit“, lautet ein besonders seltsamer und schöner Satz dieser Lebenserinnerungen, „ist mir zuwider.“

Und natürlich erzählt er von seinen großen Kinderideen wie der, ein Schiff durch den Dschungel zu ziehen und ein Opernhaus am Amazonas zu bauen. Von Einsätzen im Dschungel Südamerikas, in polaren Eiswüsten und auf abgeriegelten Nasa-Stützpunkten, deren Maschendrahtzäune überklettert werden mussten. Er berichtet von „Gefechten“, die er mit anderen Filmkünstlern austrug, von den Brüll- und Gewaltattacken Klaus Kinskis, mit dem Herzog berühmte Filme wie „Fitzcarraldo“ gedreht hat. Und von den soldatischen Tugenden, die es ihm ermöglicht haben, mehr als 70 Filme zu drehen: „Ein guter Teil meines Wesens ist bis heute nichts als nackte Disziplin“, schreibt der Regisseur.

In Nordamerika ist Herzog seit vielen Jahren der berühmteste deutsche Filmemacher, bekannter als Wim Wenders oder Tom Tykwer. Das US-Nachrichtenmagazin Time behauptete 2009, Herzog gehöre zu den 100 einflussreichsten Personen der Welt. Andere, man denke an Alice Schwarzer, legen alle paar Jahre 800-seitige Fortsetzungen ihrer Autobiografien vor: Alles muss noch einmal gewendet werden, als untersuche man nicht die eigenen Erinnerungen, sondern filzte seine Vergangenheit wie einen Gefängnisinsassen nach dem Ausgang. Herzog aber erzählt sein Leben auf ungewöhnlich wenig Platz, gerade einmal 170 Seiten – als wären es wirklich nur 18 Jahre, die er hinter sich hat.

Das Buch eines Erwachsenwerdens

Er erzählt in einem charmanten, humorvollen Stil, der plätschert, als sei er noch immer auf dem Boot. Als sei er ein 18-Jähriger, der ein paar Abenteuerromane gelesen hat. Einer, der sich in die Tradition der großen Entdecker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurückversetzt – in Forschungsreisende wie Ejnar Mikkelsen, der 1909 erstmals eine lebensgefährliche Reise in die Antarktis unternimmt; wie in den getriebenen und begeisterten Percy Fawcett, der im Dschungel Brasiliens die verschollene „Stadt Z“ suchte – und später selbst verscholl; wie in den späteren Surrealisten Michel Leiris, der in seinen Tagebüchern Anfang der 1930er Jahre das Grauen des Kolonialismus beschrieb. Das verbindet das Kind mit dem Forscher, dem Entdecker: Kinder und Entdecker erkennen den Tod nicht an.

Und so lässt sich auch der Titel seiner Memoiren verstehen: „Jeder für sich und Gott gegen alle“. Es ist ein Mantra des Entdeckers, der auf einem wackeligen Floß den Amazonas bereist. Der Forscher ist allein und der Gnade Gottes ausgeliefert. Dieser Titel spricht von Herzogs Bescheidenheit: Er ist auch nur eine menschliche Ameise auf der Suche nach Futter. 

Doch die Zeit des Entdeckers ist unwiederbringlich vorbei. Der Regisseur Herzog aber rettet diese Lebensform in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mithilfe des Filmes konserviert er das Abenteuer für eine Zeit, in der es das Abenteuer schon gar nicht mehr zu geben scheint. Nur dass es ihm nicht darum geht, die „weißen Flecken“ der Welt auszuradieren: Er durchkämmt fremde Orte, steigt auf Berge, isst Maden, sogar seinen eigenen Schuh, um etwas Inneres zu finden. Seine „Stadt Z“ ist er selbst. 
Und so beschreibt Herzogs Buch ein einziges großes Erwachsenwerden. Wie es sich für einen 18-Jährigen gehört.

Werner Herzog: Jeder für sich und Gott gegen alle: Erinnerungen. Hanser, München 2022. 352 Seiten, 28 €

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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