Romane im März - Wenn die Welt aus den Fugen gerät

Orhan Pamuk lässt in seinem Roman „Die Nächte der Pest“ ein Bazillus auf ein eben noch intaktes Idyll los. Und Hanya Yanagihara entwirft in „Zum Paradies“ auf 900 langen Seiten ein elendes Eden.

Viren spielen auch in den Romanen im März eine Rolle / dpa
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Orhan Pamuk: Die Nächte der Pest

Sars-CoV-2 spielt mit unseren Ängsten. Der kleine Eindringling aus der Gruppe der Betacoronaviren mag zwar nur ein Proteinklümpchen von wenigen Nanometern Größe sein, die aber haben es in sich und kitzeln an unserem kollektiven Unbewussten. 

Kaum nämlich, dass das neuartige Virus 2020 seinen Siegeszug um die Welt antrat, häuften sich im Leben wie in der Literatur Erzählungen, die mit dem Schwarzen Tod anbändelten. Der hatte besonders im 14. Jahrhundert binnen weniger Jahre 25 Millionen Menschen dahingerafft. Und auch wenn aus medizinischer Sicht die Pest-Assoziation – man verzeihe den kleinen Kalauer – von Anbeginn an ausgebeult erschien, die Erzählungen rund um das Bakterium Yersinia pestis verkauften sich in den letzten zwei Jahren durchweg prächtig. 

Die einen stürzen sich auf Doktor Bernard Rieuxs aussichtslosen Kampf gegen die Beulenpest in Oran, welche Albert Camus bereits 1947 über die Menschheit losließ, andere ließen sich auf eine Wiederbegegnung mit der Pestilenz in Boccaccios „Decamerone“ ein. Hinzu kamen Neuerscheinungen: Ljudmila Ulitzkajas „Eine Seuche in der Stadt“ oder „Der Pesthändler“ von Heike Stöhr.

Da mag es fast wie Berechnung erscheinen, dass nun auch Orhan Pamuk mit einem dicken Pestbuch aufwartet. Doch Pamuks „Die Nächte der Pest“ ist nicht irgendein Roman über Fieber, Schüttelfrost und blauschwarz verfärbte Körperteile. Öffnet man die dunklen Pestbeulen und schneidet tief in das fein gewobene Erzählmaterial, so eröffnet sich eine nahezu unerschöpfliche Welt aus osmanischer Historie und zeitgenössischer Fantasie, aus Zentrum und Peripherie, Romanze und Krimi – und natürlich, wie stets bei Pamuk, aus Ost und West.

Fünf Jahre lang hat der mittlerweile fast 70-Jährige an diesem knapp 700 Seiten umfassenden Historienstoff aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gearbeitet. Die aktuelle Corona-Pandemie, man ahnt es, war ihm nur willkommenes Hintergrundrauschen. Im vierten Jahr seiner Beschäftigung mit dem fiktiven Peststoff, den Pamuk auf einer Mittelmeerinsel zwischen Zypern und Rhodos ansiedelt, auf welcher er 1901 eine große Seuche ausbrechen lässt, war das neuartige Coronavirus plötzlich da.

Doch gerade diese Veränderung macht den Roman zu etwas Besonderem: Ihr Erzähler interessiert sich plötzlich nicht mehr nur für die letzten Jahre des Osmanischen Reiches unter Sultan Abdülhamit, ihm geht es jetzt auch um zeitlose Fragen: Was macht eine Epidemie mit der Gesellschaft? Und wie gehen wir mit unserer Angst vor dem Sterben um?

Doch wie in allen großen Pestromanen sind die Toten, die geschwollenen Lymphen und die drohenden Sepsen am Ende nur Symbol einer Welt, die aus den Fugen gerät. Der Autor lässt ein Bazillus auf ein eben noch intaktes Idyll los und beobachtet mit erzählerischer Distanz und menschlicher Neugier, wie binnen Stunden die Hölle losbricht. Das Inferno in der Nussschale; das Große im Kleinen – seit je sind das Pamuks Lieblingsgeschichten. Und wie ließen sie sich besser erzählen als mittels kleiner Erreger mit gigantischer Wirkung. Ralf Hanselle

Orhan Pamuk: Die Nächte der Pest. Hanser, München 2022, 696 Seiten, 30 €

 

Hanya Yanagihara: Zum Paradies

Was nach der Veröffentlichung von Hanya Yanagiharas zweitem Roman „Ein wenig Leben“ geschah, ist selbst in Zeiten, in denen der Hype wie ein Standard wirkt, außergewöhnlich. Fans und Kritiker waren um den Verstand gebracht von der melodramatischen Wucht dieser Geschichte über vier New Yorker Freunde und über den Leidensweg des Missbrauchsopfers Jude, den Yanagihara auf fast 1000 Seiten mit einer steigernden Eskalationslogik bis an die Grenzen des Erträglichen beschrieb.

Und ja: Bei aller Kritik an der Überwältigungsästhetik, der Hipster-Lifestyle­haftigkeit und dem routinierten Cliffhanger-Stil – so intensiv, so sog-haft, so fabulierfreudig hat schon lange keiner mehr über Liebe und Leiden geschrieben und Gegenwelten entworfen.

Nun also der Nachfolger. „Zum Paradies“ heißt er und macht formell wieder eine Ansage: Fast 900 Seiten, drei Geschichten über einen Zeitraum von 200 Jahren. Vielen Fans dürfte es wie beim Drogenkonsum gehen: Nach dem High von „Ein wenig Leben“ brauchen sie eine höhere Dosis, um den Rausch halten zu können. Diese (Über-)Dosis gibt Yanagihara ihnen nicht, wenngleich der Roman stellenweise wieder harte Kost ist.

Das erste Buch spielt im Jahr 1893, das zweite im Jahr 1993, das dritte im Jahr 2093. Drehpunkt aller Geschichten ist der Handlungsort, der sie miteinander verbindet: ein Haus in New York am Washington Square.

Im Jahr 1893 ist es das Haus einer angesehenen Familie in einem Fantasie-Amerika. New York gehört zu den sogenannten „Freistaaten“, in denen homosexuelle Lebenspartnerschaften gang und gäbe sind. David, der Enkel des Hausbesitzers, erfährt, dass er das Haus am Washington Square erben wird. Anstatt das von seinem wohlmeinenden Großvater vorgefertigte Leben – bequem und beständig, aber farblos – anzunehmen und eine arrangierte Ehe mit dem Witwer Charles einzugehen, will er mit dem mittellosen Musiker Edward, der wohl ein Hochstapler ist, durchbrennen.

Auch in der zweiten Geschichte heißt die Hauptfigur David. Es ist die Zeit der Aids-Epidemie, David lebt mit dem 30 Jahre älteren Charles im Haus am Washington Square. Ihn treibt um, so geworden zu sein wie sein Vater – abhängig und unselbstständig. Ein sehr langer Brief seines Vaters, der zweite Teil des zweiten Buches, widmet sich der dunklen Kolonialvergangenheit Amerikas.
Das dritte und düsterste Buch erzählt vom Jahr 2093 ausgehend mit Rückblenden eine dystopische Geschichte des 21. Jahrhunderts. Der Kampf gegen Viren und Krankheiten ist allem übergeordnet, der Staat regiert autoritär. Es ist eine kalte Welt ohne Menschlichkeit – typischer Dystopie-Stoff, den Yanagihara mit der ihr eigenen Drastigkeit beschreibt.

Im Mittelpunkt steht die Angst vor dem Tod und vor dem ungelebten Leben. Am Ende bleibt die altbekannte Botschaft, dass der Versuch, das Paradies auf Erden zu schaffen, in Totalität und Enge führt. Wie Yanagihara diese banale Erkenntnis ausführt, wie sie Schamgefühle, Sehnsüchte und Zweifel umkreist, ist trotz der konventionellen Erzählmuster bisweilen großartig und feinsinnig. Doch weite Teile sind so behäbig und voller Wiederholungen, dass sich ein Verdacht auftut – dass die 900 Seiten nicht um der Geschichte willen 900 Seiten lang sind, sondern weil die Autorin davon ausgeht, dass sich allein durch Länge eine epische Wucht entfaltet. Ulrich Thiele​

Hanya Yanagihara: Zum Paradies. Claassen, Berlin 2022, 896 Seiten, 30 €

Dieser Text stammt aus der März-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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