Künstliche Intelligenz - Das schiefe Bild des Richard David Precht

Als „Popstar“ unter den deutschen Philosophen ist Richard David Precht viel beschäftigt. Da bleibt zum Recherchieren nicht viel Zeit. Sein neues Buch „Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens“ ist der beste Beweis.

In seinem Buch macht es sich Precht beim Thema „Künstliche Intelligenz" schon sehr leicht. / picture-alliance
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Autoreninfo

Professor Dr. Kuno Kirschfeld, einer der Gründungsdirektoren des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik in Tübingen, ist auch nach seiner Emeritierung dort tätig. Forschungsgebiet: Hirnforschung, vor allem Sehprozesse. Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina und der Academia Europaea.

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Was interessiert schon die Meinung eines Philosophen? So könnte man meinen. Aber Richard David Prechts Buch: „Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens" ist seit Wochen Bestseller auf der Spiegelliste. Und zweifellos: Prechts Ansicht wirkt in weite Bereiche unserer Gesellschaft, er beeinflusst die öffentliche Meinung.

In Deutschland entwickelt sich Europas größtes Forschungskonsortium im Bereich der Künstlichen Intelligenz mit Partnern aus Wissenschaft und Industrie, das sogenannte Cyber Valley. Die KI-Forschung, die dort betrieben wird, ist auf die Akzeptanz durch die Öffentlichkeit angewiesen. Diese ist bedroht in einer Zeit, in der Kritik an Wissenschaft, ja Wissenschaftsfeindlichkeit im Zunehmen begriffen sind.

Und was macht Precht?

Prechts Sicht ist zu einseitig, sein Bild von KI-Forschung so schief, dass er kritische Strömungen befördert, indem er Aussagen durch falsche Begründungen untermauert. Das soll hier dargelegt werden. Dazu werde ich ihn auch wörtlich zitieren, ungewöhnlich in einem Zeitungsartikel. Aber viele seiner Behauptungen hält man kaum für möglich; deshalb Zitate, denn sie zeigen unmissverständlich was er denkt. 

Ein erstes Zitat: 

Das Silicon Valley folgt dem Menschenbild der Kybernetik. Es sieht den Menschen als einen lernenden Organismus, der als Reflexmechanismus funktioniert, nicht anders als eine Ratte im Labor.
(Interview mit dem Spiegel vom 17. August 2020). Precht meint also, die Forscher, die im Silicon Valley arbeiten, hätten ein solches Menschenbild. 

Was ist die Kybernetik?

Schauen wir uns also an, was Kybernetik ist, was sie will. Einer der Väter der Kybernetik, Norbert Wiener, hat 1948  seine Vorstellung unter dem Titel Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine veröffentlicht. Der Ausdruck Kybernetik ist  aus dem griechischen Wort Kybernetes abgeleitet. Kybernetes bezeichnet den Steuermann, also den Kapitän eines Schiffes, der den Kurs vorgibt.

Mit dem Kompass wird die aktuelle Fahrtrichtung des Schiffes bestimmt; gibt es eine Differenz, so werden im Maschinenraum Motoren für das Ruder so gesteuert, dass der vorgegeben Kurs eingehalten wird. Dies ist ein Regelprozess, wie er auch in jedem Kühlschrank zur Konstanthaltung der Temperatur angewendet wird. 

Die gleichen Prozesse wie in lebenden Organismen

Die Erkenntnis der damaligen Zeit war, dass entsprechende Regelprozesse auch in lebenden Organismen verwirklicht sind. So wird zum Beispiel die Helligkeit des Lichtes auf der menschlichen Netzhaut durch die Pupillenweite des Auges geregelt. Der Gewinn für die Biologen war, dass sie auf die Theorie der Techniker zurückgreifen konnten, die mit Hilfe der sogenannten Systemtheorie Regelprozesse quantitativ beschreiben können. Zum Beispiel, unter welchen Bedingungen solche Prozesse instabil werden, und wie man dies verhindern kann, eine auch für die Medizin wichtige Erkenntnis.

Wiener und andere Biokybernetiker haben zwar gezeigt, dass sich bestimmte Leistungen des Menschen als Regelprozesse verstehen lassen, daraus aber den Schluss zu ziehen, dies gälte  für das gesamte Verhalten des Menschen, auf diese Idee ist noch nie jemand verfallen. Abgesehen davon, dass Regelung bereits etwas Komplizierteres ist, als der von Precht unterstellte „Reflexmechanismus“, so zeigt Precht mit seiner Unterstellung, dass er nicht verstanden hat, was Kybernetik kann und vor allem, wo ihre Grenzen liegen. 

Immer die Behauptung der Profitgier

Wieder und wieder behauptet Precht, der wesentliche Grund für den Einsatz Künstlicher Intelligenz bestünde darin, Gewinne zu erzielen. Zwei Beispiele:

„Das Ziel nahezu aller künstlichen Intelligenz ist es, mehr Kontrolle zu gewinnen und größere Gewinne. Tatsächlich geht es einzig um einen ökonomischen Nutzen, um Umsatz und Gewinn".

Oder: „Treiber der technischen Entwicklung ist auch keine unbestimmte Neugier, sondern die kanalisierte Neugier auf künftige Technologie, aus der neue Geschäftsmodelle entstehen sollen. Der weitaus größte Teil aller universitären und industriellen Technikforschung entspringt diesem Motiv."

Was wird in Deutschland geforscht?

Im seinem Buch behandelt Precht ausschließlich Forschung aus den USA. Für die Zukunft Deutschlands ist vor allem die hiesige Forschung relevant. Was also wird bei uns erforscht? Dies lässt sich leicht erfahren. Einen Kristallisationspunkt bildet das Max-Planck- Institut für Intelligente Systeme (in Stuttgart und in Tübingen). Der Scientific Report 2016-2018, jedem zugänglich, beschreibt sein wissenschaftliche Konzept (Auszug, übersetzt aus dem Englischen):

„Das Institut versucht, die Prinzipien von  Wahrnehmung, Handlung und Lernen  autonomer Systeme zu verstehen, die erfolgreich mit komplexen Umgebungen interagieren. Außer zu versuchen, diese zu verstehen, ist die Absicht, mit Hilfe solcher Kenntnisse intelligente Systeme zu entwickeln, die der Menschheit nützen können."

Fachbeirat des Instituts

Dies klingt sehr abstrakt, trotzdem wird nicht erkennbar, dass das primäre Ziel ist, größere Gewinne zu erwirtschaften. Ehe ich Beispiele dieser Forschung nenne, werfen wir einen Blick auf den Fachbeirat, der die Arbeit des Institutes in regelmäßigen Abständen bewertet. 

Ihm gehören fachkundige Wissenschaftler aus allen Teilen der Welt an. Außerdem gibt es ein Kuratorium, das eine Verbindung zwischen dem Institut und der Öffentlichkeit herstellt. Ihm gehören 18 Persönlichkeiten an, darunter Professoren, Oberbürgermeister, Politiker, Industrievertreter, Journalisten. 

Beispiele wissenschaftlicher Arbeiten

Jetzt also zur Forschung. Aus dem Inhalt der 735, für den genannten Zeitraum gelisteten wissenschaftlichen Arbeiten, einige  Beispiele.

Vier Arbeiten von insgesamt 10 Wissenschaftlern befassen sich mit einem Tischtennis spielenden Muskelroboter: Ein Arm mit zwei Gelenken, der auf einem Stativ vor einer Tischtennisplatte steht. Zunächst mussten künstliche, schnell agierende Muskeln entwickelt werden. 

Dann musste der Arm durch Versuch und Irrtum lernen - wie auch ein Mensch - einen realen Ball in eine bestimmte Richtung zu spielen. Seine Fähigkeiten sind noch weit von denen eines menschlichen Tischtennisspielers entfernt: Er kann sich nicht bewegen. Jedenfalls aber müssen von ihm in kürzester Zeit Entscheidungen getroffen werden, wozu komplexe Rechenoperationen notwendig sind. 

Andere Beispiele:

Mittels Hirnstimulation wird versucht, die motorische Hirnrinde von spezifisch erkrankten Patienten zu reizen. Diese Patienten müssen Bewegungen erneut lernen, und dies soll durch die Hirnstimulation erleichtert werden. Computer werden künftig immer mehr bei Entscheidungsprozessen eingesetzt. Eine Gruppe untersucht, wie erreicht werden kann, dass sie diese Entscheidungen „fair“ treffen.

Andere entwickeln Sensoren für Roboter, damit diese erkennen, wenn sie Objekte ergreifen, wie stark der Druck ist, den sie ausüben. Ist er zu hoch, zerbrechen die Objekte, falls er zu niedrig ist, fallen sie zu Boden. Auch werden Methoden entwickelt, mit deren Hilfe die Bewegungen eines sich in der Ferne befindlichen Roboters gesteuert werden können.

Es werden Kunststofflinsen für Röntgenmikroskope entwickelt, die eine höhere Auflösung erreichen als Lichtmikroskope. Programme werden entwickelt, mit deren Hilfe Computer aus dem Verhalten und der Mimik von Personen auf deren Emotionen schließen können.Durch das Abtasten eines Objektes mit der Hand eines Roboters, lernt er, um was für ein Objekt es sich handelt.

Es wird an einem biologischen Mikroschwimmer gearbeitet: In ein rotes Blutkörperchen werden ein Krebsmedikament und Eisen-Nanopartikel eingebracht. An die Blutkörperchen wird als Antrieb ein Bakterium angedockt. Mittels eines Magnetfeldes kann der Mikroschwimmer mit dem Medikament dann zum Beispiel in eine Krebszelle dirigiert werden.

Mischung aus Grundlagenforschung und ökonomischen Interessen

Dies alles sind spannende wissenschaftliche Probleme, bei denen es nicht primär um ökonomischen Nutzen à la Precht geht. Natürlich wird auch Forschung im Cyber Valley betrieben, um ökonomische Gewinne zu erzielen. Und Daimler, BMW, Porsche und Amazon, ebenfalls zum Cyber Valley gehörig, werden vermutlich an Themen arbeiten, die Innovationen bei ihren Produkten versprechen. 

Aber dies ist doch dringend notwendig, wenn Europa zwischen USA und China nicht zerrieben werden will. Cyber Valley soll auch Brücken zwischen aus Neugier getriebener Grundlagenforschung und angewandter Forschung schlagen und ein ideales Umfeld für Spinoffs schaffen.

Precht macht es sich zu leicht

Precht macht dem ganzen Gebiet der Künstlichen Intelligenz einen schwerwiegenden Vorwurf (114): Der Philosoph Günther Anders hat in seinem berühmten Buch „Die Antiquiertheit des Menschen" folgende Mahnung formuliert: „Wir glauben, das was wir können, auch zu dürfen, nein zu sollen, nein zu müssen."

Dies zu hinterfragen ist natürlich unumgänglich. Aber, so Precht, diese Mahnung hätten die Apostel der Superintelligenz nicht vernommen. Auch hier irrt er.

Das Cyber Valley hat längst einen Ethikbeirat. Er soll ethische und gesellschaftliche Folgen der Projekte prüfen, die dort erforscht werden. In diesen Beirat wurden unabhängige Wissenschaftler berufen, zum Beispiel auch ein Vertreter von Fridays for Future.

Was denn nun?

Am Ende des Buches erlebt man auf den letzten zehn Seiten noch eine Überraschung. Dort schreibt Precht:

„Selbstverständlich spricht nichts dagegen, dass KI bei produzierenden Unternehmen Maschinen automatisiert wartet. [...] In der Medizin ist ihr Einsatz [...] in gleichem Maße zu begrüßen."

Was denn nun? Dient sie dort womöglich dem Wohle der Menschheit und ist nicht nur auf Profit aus? Precht begründet, warum er im ganzen Buch diese positiven Einsatzfelder nur gelegentlich gestreift hat: „…weil sie die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht berühren."

Der Sinn des Lebens

Und dann sagt er explizit, worin der Sinn des Lebens besteht: „Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst, aber nicht im biologischen, sondern im existenziellen Sinn." So lässt uns Precht am Ende das Buches wissen, worauf man nach der Ankündigung im Titel schon immer gewartet hat, was denn der Sinn unseres Lebens sei. Ob es einen Leser gibt, dem Prechts Erkenntnis über den Sinn des Lebens weiterhilft?

Fazit

Fazit: Das Buch liest sich spannend. Es regt zum Nachdenken an, aber auch zum Widerspruch, wie diesem Kommentar. Der Haupttitel des Buches ist: Künstliche Intelligenz. Precht befasst sich aber vor allem mit Vorstellungen der IT-Visionäre, also dem Silicon Valley. Künstliche Intelligenz (KI) - Forschung ist aber nicht identisch mit Informations (IT) -Technik, sondern nur ein Teilgebiet hiervon. Und Firmen wie Apple, Google, Facebook, mit denen Precht sich befasst, gehören zwar zum Bereich IT, nicht aber zu KI. Precht weist zurecht auf die Gefahren hin, die sich durch das Abschöpfen von persönlichen Daten ohne detaillierte Zustimmung der Betroffenen ergeben. Dieses Abschöpfung von Daten ist aber Firmen wie Google geschuldet, die nicht zum Bereich KI gehören. 

Von dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz vermittelt Precht eine einseitige Sicht, bezieht sich nur auf Silicon Valley (USA). Zwar ist verständlich, dass ein Autor, der einen Bestseller nach dem andern schreibt, und der damit, wie man in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lesen kann, zum „Popstar“ unter den deutschen Philosophen wurde, dass solch ein Autor nicht gründlich recherchieren kann. Dass er aber in Deutschland über Künstliche Intelligenz schreibt, und dabei nicht merkt, dass es hier ein  Zentrum gibt, das Cyber Valley, das nicht nur international Aufmerksamkeit bei Wissenschaftlern erregt, sondern in dem sich auch Spitzenpolitiker bis hin zur Bundeskanzlerin die Klinke in die Hand geben, ist kaum zu verstehen.

Bedauerlich ist, dass Prechts Buch mit dieser weitgehend unzutreffenden und deswegen vorwiegend negativen Bewertung von Künstlicher Intelligenz in einer Zeit erschienen ist, in der die kritische, ja feindliche Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber Wissenschaft im Zunehmen begriffen ist (Impfen, Gentechnik, Tierversuche). Er liefert Wasser auf die Mühlen dieser Leute. 

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