René Pollesch - Herein, Herein!

Der Dramatiker und Regisseur René Pollesch wird 2021 neuer Intendant der Berliner Volksbühne. Er könnte gewitzt genug sein, das Himmelfahrtskommando zu meistern

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Voll Euphorie will René Pollesch Verantwortung übernehmen / picture alliance
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Autoreninfo

Irene Bazinger ist Theaterjournalistin und lebt in Berlin. Zuletzt gab sie das Buch „Regie: Ruth Berghaus“ heraus (Rotbuch-Verlag)

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Was haben Naturwissenschaft und Theater miteinander zu tun, was die Quantenmechanik mit Tschechows Diktum, die Aufgabe des Künstlers sei „die richtige Präsentation des Problems“? Auf den ersten Blick sind das völlig unvereinbare Dinge, aber wenn René Pollesch das entsprechende Stück geschrieben und inszeniert hat, sieht das ganz anders aus – wie unlängst am Schauspielhaus Hamburg in „Probleme Probleme Probleme“. 

Hier zeigt sich Pollesch, der Erfinder des elaborierten Diskurstheaters, wieder als furchtloser Forscher, der durch alle möglichen intellektuellen Felder rast und sie so amüsant wie gewitzt, so sinnvoll wie sinnlich theatralisch aufbereitet. Er entwickelt seine Stücke immer während der Proben mit den zu freiem Mitdenken und geistiger Eigenverantwortung aufgerufenen Schauspielern und mischt aktuelle ästhetisch-politische Debatten dazu. Ob Sophie Rois, Caroline Peters, Birgit Minichmayr, Fabian Hinrichs oder Martin Wuttke, die Schauspieler etwa in Hamburg, Zürich, Wien oder Berlin lieben ihn alle für die klugen Texte, die er ihnen in den Mund zu legen versteht. Und die Zuschauer strömen in Massen heran und sind begeistert.

So ist Pollesch inzwischen zur sicheren Nummer geworden, mit der sich junges, waches Publikum locken und vielleicht sogar ans Theater binden lässt – ohne älteres zu vertreiben. Der 1962 im hessischen Friedberg geborene Absolvent des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen begreift sich als postdramatischer Autor, liebt die Schauspieler und vertraut im Theater auf die Kraft der Sprache. Er ist Mitglied der Berliner Akademie der Künste, erhielt zweimal den Mülheimer Dramatikerpreis, 2012 den Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis, im Juni in Wien den Arthur-Schnitzler-Preis, weil, so die Jury, seine „gesellschaftsdiagnostischen Stücke sich gegen etablierte Macht- und Diskursstrukturen wenden“. 

Geteilte Verantwortung

Mehr als eine Zwischenstation war für Pollesch die Zeit an der Berliner Volksbühne während der Intendanz von Frank Castorf. Neben höchst erfolgreichen Inszenierungen leitete er von 2001 bis 2007 mit viel kreativer Strahlkraft die Volksbühnen-Außenstelle Prater. Nachdem Castorf nach 25 Dienstjahren 2017 überraschend nicht durch einen Theatermenschen, sondern durch den belgischen Kurator Chris Dercon abgelöst wurde, folgten international vehemente Proteste und eine lautstarke Debatte über Wesen und Zukunft des Stadttheaters. 

Trotz kräftiger Finanzspritzen der öffentlichen Hand hatte Dercon allerdings in seiner bald ziemlich leergespielten „Eventbude“ (Claus Peymann) kein Glück und schmiss bereits im April 2018 entnervt hin. Da war Pollesch längst im Groll ans Deutsche Theater gewechselt. Doch seine Rückkehr ist jetzt beschlossene Sache: Von der Saison 2021/22 an wird er neuer Intendant der Volksbühne. Angesichts der turbulenten Vorgeschichte ist das eine schwere, eine heikle Mission, aber Pollesch ist bestens vertraut mit dem Reizklima in der Hauptstadt und speziell an der Volksbühne. 

Voll Euphorie will er Verantwortung übernehmen „für die Errungenschaften meiner Arbeitspraxis, die ein großes Umfeld hat“ und von vielen Gleichgesinnten gefördert wird. Nicht „als trojanisches Pferd“ der alten Castorf-Volksbühne will er das Haus weiterführen, sondern mit einer autonomen, singulären, kollektiven Produktionsweise, in der alle Verantwortung für alles tragen. 

„Kill your darlings!“

Sein künstlerisches Schaffensprinzip samt integrierter Repräsentationskritik soll mit seiner ersten Intendanz institutionalisiert werden: „Die Praxis ist die Message!“ Als unabhängig-inspirierter Solitär lässt er sich künstlerisch auf keine Kompromisse ein. Er bezieht sich explizit auf Bertolt Brecht, der als Autor einst das Berliner Ensemble leitete, und er bedauert, dass es diese Kombination heute kaum irgendwo gibt. Obwohl ein umjubelter Regisseur, verwahrt er sich gegen das Primat der Regie, will lieber den Autoren, Schauspielern, Bühnenbildnern wieder mehr Macht geben. 

Ein solcher Schritt ist für ihn ebenso elementar wie innovativ: „Unsere Arbeitspraxis selbst ist es, die eine totale Erneuerung für das Theater darstellt.“ Noch ist er dabei, „Sisters and Brothers in Crime“ zu engagieren, ein paar haben schon zugesagt: Die Choreografinnen Constanza Macras und Florentina Holzinger, die Bühnenbildnerin und künftige Chefausstatterin Ida Müller, der norwegische Regisseur Vegard Vinge. 

Die Frage freilich bleibt, als wie teamfähig sich der gestählte Einzelkämpfer erweisen wird und – wie offen tatsächlich für andere Handschriften als seine. 2012 nannte er eines seiner Stücke „Kill your darlings!“ Es taugt zum Motto für die neue Zeit an alter Stätte.

Dieser Text erschien in der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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