Verlag zieht Bücher zurück - Der zweite Tod des Winnetou

Der Ravensburger Verlag hat den Verkauf zweier Kinderbücher zum Film „Der junge Häuptling Winnetou“ gestoppt – wegen „verharmlosender Klischees“ über die Ureinwohner Amerikas. Das Vorgehen erinnert an die untergegangene DDR, wo die Bücher Karl Mays jahrzehntelang nicht gedruckt werden durften.

Nicht mehr zeitgemäß: Pierre Brice (links) als Winnetou / dpa
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Hubertus Knabe arbeitet als Historiker an der Universität Würzburg, wo er über Mordanschläge des DDR-Staatssicherheitsdienstes forscht. Von 2000 bis 2018 war er wissenschaftlicher Direktor der Gedenkstätte im ehemaligen Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen.

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In den sozialen Medien ist es Mode geworden, die Bundesrepublik als „DDR 2.0“ zu bezeichnen. Meist hinkt der Vergleich gewaltig, weil es in der DDR weder die Möglichkeit gab, die Zusammensetzung der Regierung zu beeinflussen noch gegen Staats- und Parteichef Erich Honecker zu demonstrieren. Die Bundesregierung betreibt auch keinen Staatssicherheitsdienst, der mit 186.000 Informanten die Bürger überwacht.

Zuweilen erinnern die aktuellen Geschehnisse aber tatsächlich an die DDR-Vergangenheit. So hat der Ravensburger Verlag jetzt die Auslieferung von zwei Kinderbüchern gestoppt, die er zum neuen Kinofilm „Der junge Häuptling Winnetou“ (Regie: Mike Marzuk) gedruckt hatte. Der Verlag stellt sich damit in die Tradition der Machthaber in der DDR, wo Karl Mays Werke jahrzehntelang nicht gedruckt werden durften. Der Film ist eine Art Fortsetzung von dessen Romanen, in dem der zwölfjährige Sohn des Apachenhäuptlings die Hauptrolle spielt.

Der Verlag begründete die Entscheidung mit den „vielen negativen Rückmeldungen“ auf die Winnetou-Bücher, die „verharmlosende Klischees“ über die Behandlung der indigenen Bevölkerung in Amerika enthielten. Das Feedback habe gezeigt, dass wir „mit den Winnetou-Titeln die Gefühle anderer verletzt haben“, wofür sich der Verlag auf Instagram entschuldigte. Wegen angeblicher rassistischer Stereotype wurden nicht nur ein Kinderbuch und ein Erstleserbuch aus dem Handel genommen, sondern auch ein Puzzle und ein Stickerbuch.

Ganz ähnlich hatten auch die Kulturfunktionäre in der DDR argumentiert. Als der Karl-May-Verlag in Radebeul nach dem Krieg beantragte, mehrere Bücher des erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller neu aufzulegen, urteilte das Sächsische Volksbildungsministerium 1948 in einer internen Stellungnahme: „Eine Karl-May-Produktion ist vom Standpunkt der Volkserziehung grundsätzlich abzulehnen. Sie verführt die Jugend zur kritiklosen Anhimmelung aller billigen Räuberromantik und trübt ihren Blick für die Auseinandersetzungen mit dem wirklichen Leben.“ Die Zentralverwaltung für Volksbildung in Ost-Berlin entschied daraufhin: „Keine Karl-May-Produktion!“

Ranzenkontrollen gegen „Schmutz- und Schundliteratur“

In der DDR konnte man deshalb jahrzehntelang kein einziges Winnetou-Buch kaufen. Ostdeutsche Kinder und Jugendliche mussten sich entweder mit den Ausgaben im Bücherregal der Eltern oder Großeltern begnügen oder Verwandte aus dem Westen bitten, ihnen von dort ein Exemplar mit neuer Schrift mitzubringen. Dies mussten sie allerdings am DDR-Zoll vorbeischmuggeln, weil Karl Mays Werke als „Schmutz- und Schundliteratur“ galten. Auf zentrale Anweisung der SED wurden sie sogar aus den Bibliotheken entfernt. In den Schulen gab es sogenannte Ranzenkontrollen, bei denen die inkriminierten Bücher eingezogen wurden.

In Zwickau wurden 1951 sogar 19 Jugendliche vor Gericht gestellt, die eine „Interessengemeinschaft Karl May“ gegründet hatten. Sie hatten sich zusammengefunden, als dessen Werke aus der Schulbibliothek in Werdau entfernt worden waren. Als der 15-jährige Karl Heinz Eckardt im Unterricht erklärte, dass ihm Mays Bücher immer noch besser gefallen würden als Gedichte des späteren DDR-Kulturministers Johannes R. Becher, bekam er einen strengen Verweis. Bald darauf begannen die Schüler, die sich in der Tradition der Weißen Rose sahen, heimlich Flugblätter gegen die SED-Diktatur zu verteilen. Eckardt wurden zu 14 Jahre Zuchthaus verurteilt.

Während des Tauwetters in der DDR 1956 hofften viele Winnetou-Fans auf eine Lockerung des Verbots. Der Verlag Neues Leben lud zu einer Beratung unter dem Titel „Karl May – Ja oder Nein?“ ein. In einigen Bezirkszeitungen erschienen positive Artikel. Nach der Niederschlagung des Volksaufstandes in Ungarn im November war es damit jedoch vorbei. Auf einer Tagung im DDR-Kulturministerium wurden Karl Mays Bücher sogar mitverantwortlich für die Ereignisse gemacht.

In der DDR war Winnetou ein Symbol für Freiheit und Aufrichtigkeit

Nur die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft brachte 1958 eine kurze Erzählung heraus. Dies führte allerdings dazu, dass das Verdikt der SED nun erst recht bekräftigt wurde. Das ostdeutsche Börsenblatt prangerte einen Buchhändler an, der das Heft ins Schaufenster gestellt und dazu geschrieben hatte: „Nun auch bei uns“. In dem Begleittext hieß es, man habe „nie annehmen sollen, dass ein Verlag ernsthaft daran gedacht hätte, Karl-May-Bücher wieder herauszubringen“. Nun sei das Unglaubliche geschehen, und es sei nicht verwunderlich, dass die ersten Folgen einträten. Der Karl-May-Verlag, der 1913 in Radebeul, dem Wohnort des Schriftstellers, gegründet worden war, verlegte kurz darauf seinen Sitz ins westdeutsche Bamberg.

Erst Anfang der 1980er-Jahre änderte sich die Einstellung der SED zum Häuptling der Apachen. Im November 1981 beschloss das Politbüro höchstselbst, den verfemten Autor zu rehabilitieren. Zu Weihnachten 1982 durfte das DDR-Fernsehen dann erstmals einen der westdeutschen Karl-May-Filme ausstrahlen. Auch Mays Werke wurden jetzt – nach fast 40-jähriger Zwangspause – gedruckt. Im Februar 1983 entschied Staats- und Parteichef Erich Honecker persönlich, das bereits Ende der 1920er-Jahre entstandene Karl-May-Museum in Radebeul zu modernisieren.

Unter der Überschrift „Die Silberbüchse Winnetous“ hatte der Philosoph Ernst Bloch schon 1929 in der Frankfurter Zeitung über Mays Werke geurteilt: „Fast alles ist nach außen gebrachter Traum der unterdrückten Kreatur, die großes Leben haben will.“ In diesem Sinne war Winnetou auch in der DDR ein Symbol für Freiheit und Aufrichtigkeit. Um dem Alltag zu entfliehen, wurde es sogar Mode, sich als Indianer zu verkleiden und das Wochenende mit Gleichgesinnten in selbst gebauten Zelten zu verbringen. In der Fernsehserie „Weißensee“ sieht man, wie ein Volkspolizist einen solchen Ausflug in die Freiheit jäh beendet, indem er die Anwesenden zwingt, das Lagerfeuer zu löschen. Jetzt ist es der westdeutsche Ravensburger Verlag, der Winnetou erneut sterben lässt.

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