Querdenker stellen Verfassungsfrage - Der Elefant, den niemand sehen will

Die Stuttgarter Initiative Querdenken 711 gefällt sich in der Rolle als Anwältin der Gegner von Corona-Regeln. Dabei lehnt ihr Gründer Michael Ballweg die Verfassung genauso ab wie die Reichsbürger. Doch das wird gerne ausgeblendet.

Michael Ballweg als Redner einer Querdenker-Demo / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Ein Elefant steht im Raum. Als sich am vergangenen Samstag Zehntausende Menschen vor der Berliner Siegessäule für die Abschlusskundgebung der sogenannten Querdenken-Demo „Berlin invites Europe“ zusammenfanden, da sollte für viele aus dem Teilnehmerfeld wohl nicht sein, was nicht sein durfte. Die Zeichen des Rassismus und Rechtsradikalismus, die immer wieder mal aus der bunten Menschenmenge aufpoppten und die über den Köpfen der selbsternannten Querdenker hinwegflatterten wie müde Tauben, sie wurden wegdiskutiert, ignoriert, ausgeblendet. Fünfe gerade sein lassen, schien das Motto dieser besoffenen Stunden von Berlin zu sein. Nichts sehen, nichts sagen – vor allem aber nichts hören. 

Viel ist in den zurückliegenden Tagen über die skurrilen Patenschaften zwischen Reichsbürgern, Alternativen, Linken, Esoterikern und in der Mehrheit vermutlich einfach nur verunsicherten und besorgten Bürgern geschrieben und behauptet worden. Dabei ging es in der Regel um die visuellen Farbkombinationen dieses bizarren Nachmittags: um Reichkriegsflaggen zwischen weißen Friedenstäubchen, Glatzen zwischen Dreadlock-Trägern, Schwarz-Weiß-Rot neben dem bunten Farbspektrum des Regenbogens. Und dazwischen immer wieder ein gedecktes Kleinbürger-Beige. Ein Elefant, den niemand sehen will, produziert eben eigentümliche Bilder. Weit interessanter aber als sein Aussehen war eigentlich sein Trampeln und Trompeten; kurz, all das, was man mit den Ohren hätte vernehmen können, wenn…. – ja, wenn man es denn nur hätte wahrnehmen wollen.

Ein argumentativer Zickzackkurs

Es war gegen circa 16 Uhr, als Michael Ballweg, Veranstalter und Kopf der Initiative „Querdenken 711", die Versammlung mit einer Ankündigung eröffnete, die wohl niemand in dieser Eindeutigkeit je erwartet hätte. Nachdem Ballweg zunächst recht vorbildlich eine Abgrenzung gegenüber „rechtsradikalem, linksradikalem, faschistischem und menschenverachtendem Gedankengut“ vollzogen hatte, unternahm er gleich mit dem nächsten Atemzug eine argumentative Rochade, mit der er blitzschnell jene Flanke wieder öffnete, die man gerade so wohltuend geschlossen wähnte.

Der Trick war dabei dieser: Ballweg, selbsternannter Ritter des Grundgesetzes, zitierte in seiner Rede einen Passus aus der deutschen Verfassung, der für Staatsrechtler kaum Interpretationsspielraum lässt, unter Rechten und Reichsbürgern aber merkwürdigste Assoziationsketten in Gang bringen kann. Es ist der Artikel 146, der letzte Satz des Grundgesetzes. In diesem heißt es: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Ballweg und die verfassungsgebende Versammlung

Und für Michael Ballweg sollte dieser Tag, von dem da die Mütter und Väter des Grundgesetzes sprachen, ausgerechnet der vorige Samstag sein: „Deshalb starten wir heute damit, uns eine eigene Verfassung zu geben, die diese Schwächen behebt und die Macht an uns, die Menschen zurückgibt“, hallte es da aus den vielen Lautsprechertürmen im Berliner Tiergarten heraus. Und weiter: „Wir sind die verfassungsgebende Versammlung. Ich rufe alle Menschen auf, nach Berlin zu kommen, um gemeinsam mit uns an einer neuen Verfassung zu arbeiten.“

So weit, so schräg. Das wirklich merkwürdige an dieser schwäbischen Verfassungsinitiative war nun aber, dass kaum jemand die bizarren Worte des Querdenkers gehört haben wollte – weder die geschätzt 40.000 Demo-Teilnehmer, vor allem aber nicht die vielen Journalisten, Zeichendeuter und Politiker, die sich noch am selben Abend über die Auswertung der Ereignisse gebeugt hatten. In den Kommentarspalten der Montagspresse jedenfalls fanden Ballwegs feuchte Verfassungsträume kaum Erwähnung. 

Eine funktionslose Norm

Nun hat es in der Vergangenheit immer wieder mal Diskussionen über Artikel 146 GG gegeben. 1990, im Jahr der Wiedervereinigung, wurde von vielen politischen Akteuren sogar gefordert, diesen letzten und abschließenden Gedanken aus dem Gesetzestext zu streichen. Die Verfasser des Grundgesetzes, so die damalige Argumentation, die vor allem in Kreisen der CDU geführt wurde, hätten mit dem letzten Artikel jene Deutsche mit im Sinn gehabt, die 1949 aufgrund der damaligen politischen Lage dem Grundgesetz nicht hätten zustimmen können. Mit der Wiedervereinigung also sei dieses Ansehen samt des dazugehörenden Artikels 146 obsolet geworden.

Es kam indes anders. Die Vereinigung erfolgte über den Artikel 23 GG – den sogenannten „Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland“ – und der Artikel 146 GG wurde lediglich um einen Zusatz erweitert, um dann auf Druck der SPD in der Verfassung zu bleiben. Seither also steht er da – für Juristen allenfalls eine „funktionslose Norm“, für falsche Propheten Quell unerschöpflicher Propagandaschlachten, und für nicht wenige Ostdeutsche Phantomschmerz einer amputierten Hoffnung. 

Nichts ist besser als das Grundgesetz

Denn auch das gehört mit zur Geschichte um Artikel 146 GG, die Ballweg mit seiner Rede vermutlich sehr bewusst zum Klingen gebracht hat: Es hat im Jahr 1990 nicht Wenige gegeben, die von einem gemeinsamen Neubeginn zwischen Ost- und Westdeutschen über den Umweg einer gemeinsamen und neu zu formulierenden Verfassung geträumt hatten. Der jüngst verstorbene SPD-Politiker Hans-Joachim Vogel etwa hatte noch im Jahr der Wiedervereinigung davor gewarnt, Ostdeutschland lediglich als ein „herrenloses Territorium“ zu betrachten. Doch als der letzte Vorsitzende des Ministerrates der DDR Hans Modrow die Frage nach einer neuen Verfassung für ein wiedervereinigtes Deutschland ins Spiel gebracht hatte, hatte er dafür vor allem im Westen Unverständnis geerntet: „Etwas Besseres als das Grundgesetz gibt es nicht“, soll da etwa der damalige bayrische Ministerpräsident Max Streibl entgegnet haben.

Es scheint diese Wunde zu sein, die sich immer wieder neu entzündet, wenn nur irgendein Demagoge darauf drückt. Ballweg scheint das mit einkalkuliert zu haben – gerade hier, auf der Straße des 17. Juni in Berlin. Und so war ihm der Beifall gerade der vielen ostdeutschen Demonstranten sicher, als er versprach, was er nicht halten konnte – und was heute, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, auch niemand mehr braucht. Es gibt keinen Grund dafür, das Grundgesetz in Frage zu stellen – weder historisch und schon gar nicht formaljuristisch.

Wählen statt stürzen

Wer es dennoch tut, der setzt auf eine Art Leerlaufhandlung enttäuschter Bürger. Da reicht es dann schon, von einem sogenannten „Merkel-Regime“ zu fabulieren, um einen historischen Wiederholungszwang in Gang zu setzen. Indes, die jetzige Regierung ist nicht das Regime der untergegangenen DDR, sie ist aus freien und demokratischen Wahlen hervorgegangen, Wahlen, wie sie etwa der Artikel 38 GG zusichert. Wenn Michael Ballweg daran etwas ändern möchte, muss er nicht die Verfassung stürzen – in diesem Land kann auch er sich frei zur Wahl stellen.
 

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