Quedlinburg im Harz - Glück in der Hölle 3

Die britische Autorin Catherine Hickley kaufte sich einst eine Hausruine mitten im historischen Quedlinburg und sanierte sie von Grund auf. Freunde konnten damals nicht verstehen, warum sie sich vom Geld nicht gleich ein Haus auf Ibiza kaufte. Jetzt verstehen sie es.

Es kann sein, dass die Adresse das Reizvollste war: Hölle 3 / All mauritius images
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Autoreninfo

Die britische Autorin und Journalistin Catherine Hickley lebt seit 1997 in Deutschland. 2015 erschien ihr Buch „The Munich Art Hoard“ über die Geschichte der Sammlung Gurlitt.

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Vielleicht wäre es besser für Sie, eine Ruine zu kaufen“, sagte Rudolph Koehler. Ich lachte, aber er meinte es ernst. „Ich kann Ihnen eine zeigen.“ Es war 2008, meine zweite Reise nach Quedlinburg. Fünf Jahre zuvor hatte ich mit meinem damaligen Freund ein langes Wochenende im Harz verbracht. Wir übernachteten in Wernigerode, wanderten zum Brockengipfel, fuhren mit der Schmalspurbahn, besuchten die Tropfsteinhöhlen in Rübeland und tranken Kaffee, umgeben vom felsigen Bodetal. Wir unternahmen auch einen Ausflug nach Quedlinburg, und ich war von den winkeligen, engen Gassen aus Kopfsteinpflaster, den krummen, uralten Fachwerkhäusern, den schiefen, verfallenen Türmen und der Burg mit ihrer romanischen Stiftskirche bezaubert. Die kleine Stadt im Harz war nicht nur die Wiege der deutschen Nation, sie wurde fast 900 Jahre von Frauen regiert. Sie erweckte in mir eine Mischung aus Neugier, Heimatgefühlen und Nostalgie.

Vielleicht auch ein kleines bisschen Ostalgie. Mich verbindet eine viel längere Geschichte mit Sachsen-Anhalt als ein Wochenende. Sie geht zurück zu einer Zeit, wo es Sachsen-Anhalt noch nicht gab. In meinem rosa-roten Käfer namens Gretel fuhr ich im August 1989 von einer Nato-Militärbasis in Nordrhein-Westfalen (wo mein Vater für die Royal Air Force stationiert war) über die meistbewachte Grenze der Welt nach Halle. Dort arbeitete ich ein Jahr als Muttersprachlerin in der Abteilung Anglistik an der Martin-Luther-Universität. Als ich ankam, war Erich Honecker noch an der Macht. Als ich nach London zurückkehrte, stand die Wiedervereinigung kurz bevor.

Es konnte noch ostdeutscher werden

Dieses Jahr war ohne Zweifel das prägendste meines Lebens. Danach lebte ich in London, Budapest und der Schweiz, aber ich wollte immer irgendwann zurück nach Deutschland – nach Ostdeutschland, um genauer zu sein. Nach zwei Jahren als Politikkorrespondentin bei Bloomberg in Bonn zog ich 1999 mit der Regierung nach Berlin. Ziel erreicht? Nicht ganz. Es konnte noch ostdeutscher werden.

Es war dann auch kein Zufall, dass ich mir bei dem zweiten Besuch in Quedlinburg eine Immobilie anschaute. Ein ­Kollege in Berlin hatte von einem Freund erzählt, der sein Haus dort verkaufen wollte. Ich hatte Fotos gesehen – ein rotes Renaissancefachwerkhaus mit Schnitzereien an den Außenwänden. Für Berliner Verhältnisse war es sehr günstig; von London nicht zu reden. Es kann sein, dass die Adresse das Reizvollste war: Hölle 3.

Nach der Besichtigung ging es weiter, da Rudolph Koehler vom Architekturbüro qbatur mir noch seine Ruine zeigen wollte. Einmal die enge Gasse namens „Stieg“ entlang, dann links am Mühlgraben zum „Klink“. Das Reihenhaus war in einem miserablen Zustand – voller Pilze und anderer undefinierbarer Pflanzen. Die Rückfassade fehlte, stattdessen hing eine Folie aus Plastik herunter. Das Dach war durchlöchert; überall nur Schutt, Dreck und Staub. In der Tat eine Ruine.

Aber trotzdem etwas ganz Besonderes. Das Kellergewölbe datierte aus dem 12. Jahrhundert, und der Dachstuhl sowie die Seitenwände aus Fachwerk, Weidengeflecht und Lehm waren 600 Jahre alt. Alles denkmalgeschützt, sogar UNESCO-Weltkulturerbe, sagte mir Rudolph.

Gute Funde, weniger gute Funde

Was für ein Projekt, dachte ich – welche Gelegenheit, ein Stück Geschichte zu retten. Ich überlegte eine Woche lang, vielleicht zwei, dann kaufte ich es. Die Bauzeit betrug 18 Monate. Der Archäologe hatte eine mittelalterliche Grube im Keller entdeckt, darin einen Kamm aus Knochen und einen Würfel aus Elfenbein, beides bald 1000 Jahre alt, die nach Halle ins Museum geschickt werden mussten. Ein romanisches Kapitell aus dem 13. Jahrhundert durfte ich mit meinen Nachbarn teilen – heute steht es in einem Glasschrank zwischen unseren beiden Kellern.

Nicht alle Entdeckungen waren gut – die Straßenfassade war vom Echten Hausschwamm befallen und musste komplett ersetzt werden. Aber langsam entstand ein wunderschönes Haus mit vielen interessanten geschichtlichen Details, ein vier Meter hohes Wohnzimmer mit viel Licht. Wo die Wand nach hinten fehlte, empfahlen meine Architekten eine Verglasung. Irgendwie konnten sie die Denkmalschutzbehörden davon überzeugen. Der alte Dachstuhl konnte gerettet werden.

Viele westdeutsche Freunde hielten mich für verrückt. Dagegen waren meine Familie und Freunde aus England oder Amerika begeistert. Die Idee, dass man relativ bezahlbar ein uraltes Haus in einer wunderschönen Stadt nur drei Stunden von der Hauptstadt entfernt sanieren konnte und dass man sogar dort in der Nähe Ski fahren und in den Bergen wandern konnte, war für sie unfassbar.
In Dezember 2009 kamen meine Eltern aus England zu Besuch. Das Haus war aber leider noch nicht ganz fertig. Wir mussten im Schwimmbad duschen, da die Fliesen noch nicht gelegt waren und die Badewannen nicht installiert werden konnten. Es war minus 20 Grad, und die Tür stand ständig offen, da so viele Handwerker rein und raus gingen. Irgendwie war zu Weihnachten dann doch alles fertig. Das Haus ist urig und gleichzeitig modern. Es hat sogar eine Auszeichnung, den Architekturpreis Sachsen-Anhalt, gewonnen.

Weniger Protestantismus, mehr Heidentum

Ich bin sehr oft dort – mehr im Sommer –, manchmal mit Freunden oder Familie, manchmal allein. Ich liebe die Ruhe der Kleinstadt und kann dort ungestört arbeiten. Ich habe ein Kapitel meines Buches innerhalb einer Woche dort geschrieben. Wenn ich Pause machen will, fahre ich mit dem Bus oder der Schmalspurbahn in die Berge und wandere durch die schönen Täler oder Wälder, um den Kopf zu befreien. Ablenkung trifft man überall; ein prunkvolles Denkmal für einen renommierten Förster; die mystischen Ruinen längst vergessener mittelalterlicher Schlösser; Reste des Bergbaus – Erinnerungen an eine verschwundene Zeit, wo die Region noch Industrie hatte; zahlreiche nutzlose exzentrische Staffagenbauten, von Aristokraten des 19. Jahrhunderts mitten im Wald errichtet; die sagenumwobenen Felsformationen – wie zum Beispiel der Glockenstein, der in der Walpurgnisnacht klingen soll, um den Hexen den Weg zum Hexentanzplatz zu deuten.

Sachsen-Anhalt mag sich als Ursprung der Reformation beschreiben, aber im Harz ist die Zeit des Paganismus immer noch sehr präsent. Böse, hässliche Hexen findet man überall – auf den Dächern, in Kneipen und Cafés, auf Schildern und haufenweise in den kleinen Verkaufsbuden am Hexentanzplatz. Dort wird Walpurgisnacht noch richtig gefeiert – mit gruseligen Kostümen, Schlagermusik und viel Bier. 

Dreifache Exotin und dennoch aufgenommen

Ich kenne inzwischen so viele Menschen in Quedlinburg, dass ich kaum über den Wochenmarkt laufen kann, ohne Bekannte zu treffen. Ich werde als „die englische Schriftstellerin aus Berlin“ bezeichnet – also dreifach Exotin –, aber trotzdem fühle ich mich sehr aufgenommen.

Vor allem ist mir die quality time mit den vielen Besuchern wichtig. Die Freundinnen, die aus Berlin für eine Wanderung zur Teufelsmauer, zu den Schnarcherklippen oder zum Hexentanzplatz kommen, der Freund aus Friedrichshafen, der gerne und köstlich in meiner Küche kocht, der amerikanische Freund, der ungefähr 20-mal dort gewesen ist und sich jetzt überlegt, selber ein Haus in Quedlinburg zu kaufen. Die Familie kommt regelmäßig aus England. Mein Vater starb im Januar. Ich bin für die Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit im Haus unendlich dankbar.

Zu Silvester war ich mit acht Freunden dort. Eine westdeutsche Freundin gestand mir, dass sie von meiner Entscheidung 2008 absolut verwirrt war. Warum ein Haus in Quedlinburg sanieren, wenn man für das Geld eine Wohnung auf Ibiza kaufen könnte? Jetzt versteht sie es. 

Dieser Text stammt aus dem Reise- und Leseheft von Cicero – einer Sonderausgabe im Juni, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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