Therapie mit Drogen - Im Rausch zur Liebe

Auf der ganzen Welt werden Behandlungen erforscht, die bestimmte Drogen in der Psychotherapie einsetzen. Manche Substanzen, die jahrzehntelang kriminalisiert waren, gelten plötzlich als Wundermittel gegen Depression, Trauma oder Sucht. LSD & Co. kommen wieder – diesmal als Hilfe fürs Leben.

Erschienen in Ausgabe
Eine Dosis Psilocybin in einem zeremoniellen Kelch im Johns Hopkins Bayview Medical Center in Baltimore / Matt Roth
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Autoreninfo

Thomas Lindemann ist studierter Psychologe, Buchautor, Journalist und Musiker. Er lebt in Berlin.

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Mit 19 hatte Martijn Schirp schon gelernt, seine Gefühle perfekt zu verstecken. Der Mann aus Amsterdam lernte in seiner WG das Pokern, wurde schnell außergewöhnlich gut. Bald warf er das Studium hin, reiste von Turnier zu Turnier, hatte immer Geld und reichlich Partys. Und dann stand Schirp eines Tages in Las Vegas bei der World Series, der WM des Poker, war gerade Platz 102 von 7500 Teilnehmern geworden – und fühlte nichts. „Ich trank, ich war eigentlich spielsüchtig, hatte kaum Zugang zu meinen Gefühlen, meinen Körper fühlte ich auch nicht recht“, sagt er. Er nahm das Preisgeld, fuhr in ein Kloster im Himalaya, danach zu einem Schamanen am Amazonas. „Die westliche Welt kennt nichts in dieser Art. Das sollten wir ändern.“

Heute, zehn Jahre später, leitet Schirp das Synthesis-Institut, das er vor zwei Jahren gründete. Den ersten Ort Europas, der legale psychedelische Retreats anbietet – bisher nur für Gesunde, bald auch als Therapie bei psychischen Störungen. Wer sich hier behandeln lässt, isst Magische Trüffel, die in Holland legal sind und das psychoaktive Psilocybin enthalten. Mit Kopfhörer, entspannender Musik und Augenbinde verbringen die Patienten danach sechs bis acht Stunden in dem Zustand, den der Zauberpilz auslöst. Nach dieser Reise nach innen folgt immer Gesprächstherapie. Ein solches Retreat, drei Tage, in einem modernen Haus in der Natur bei Amsterdam, kostet rund 2500 Euro. Was Schirp tut, ist eine kleine Revolution: Drogen werden in der Psychotherapie eingesetzt. Ernsthaft, kontrolliert, und immer ist ein Arzt in der Nähe.

Psychedelische Psychotherapie

Eine neue Form der Psychotherapie erobert gerade die Welt. Was wie ein Märchen aus der Hippiezeit klingt, ist heute ganz ernste Wissenschaft. Mehr als 100 Studien weltweit erforschen den Einsatz von MDMA (Ecstasy), Ketamin, LSD oder Psilocybin in der Therapie. Wie die Therapie heißt, kristallisiert sich erst heraus. Vermutlich: Psychedelische Psychotherapie. An der Charité heißt die neue Abteilung Pharmakopsychotherapie. Auch andere private Institute neben Synthesis bieten diese, soweit sie legal ist, schon oder bald an – etwa die US-amerikanische Organisation MAPS oder in Berlin die MIND-Foundation der Mediziner Andrea und Henrik Jungaberle. 

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Bisher werden schwere psychische Störungen behandelt, vor allem Depression und die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), an der zum Beispiel viele Soldaten nach Kriegseinsätzen leiden. Weil diese Störungen bisher kaum behandelbar waren, ist die Fachwelt schon begeistert. Das Magazin Nature schrieb kürzlich davon, „wie Ecstasy und Psilocybin die Psychiatrie auf den Kopf stellen“, sogar die New York Times konstatierte: „Die psychedelische Revolution kommt.“

Westliche Drogengeschichte

Eigentlich ist die Geschichte der psyche­delischen Drogen in der westlichen Welt schnell erzählt: Im Frühling 1943 entdeckt der Schweizer Chemiker Albert Hofmann das LSD. In den Fünfzigern findet und beschreibt der Bankier und Privat-Pilzforscher R. Gordon Wasson in Mexiko den bewusstseinsverändernden Magic Mushroom, es ist dann wieder Albert Hofmann, der 1959 den Wirkstoff Psilocybin aus diesen Pilzen isoliert. (Zauberpilze wachsen in Europa übrigens seit Jahrhunderten, auch ihretwegen hat die katholische Kirche die Hexenkultur so blutig vernichtet. Hofmann und Wasson mussten erst nach Mexiko, um die Pilze neu zu entdecken.) 

Die Substanzen sind in der Welt – und dann kommen die Sechziger, die Jugend der USA entdeckt ihren eigenen Ritus: den „Trip“. US-Präsident Richard Nixon verachtet die psychedelische Kultur, startet seinen „War on Drugs“, und ab 1971 ist alles vorbei. LSD und Psilocybin werden verboten, die psychiatrische Forschung damit auch. Und die westliche Welt zieht mit. Deutschland erlässt 1972 das Betäubungsmittelgesetz. Selbst im liberalen Holland, wo der Psychiater Jan Bastiaans das LSD gegen die furchtbare Traumatisierung der Kriegsüberlebenden einsetzt – er nennt ihre Krankheit das „KZ-Syndrom“ –, ist in den Achtzigern Schluss. Bewusstseinsverändernde Substanzen sind in Europa kriminalisiert.

Behandlung mit MDMA

Heute erst ändert sich wieder etwas. Die Johns-Hopkins-Universität in Baltimore und das Imperial College in London haben ganze Abteilungen zum Thema, Harvard gründet gerade eine, die Berliner Charité und die Universität Mannheim forschen auch. Und ein Mann kämpft seit 48 Jahren auf eigene Faust für die Therapie mit Psychedelika: Rick Doblin. Der Unternehmer und Politologe stritt in den Achtzigern vor Gericht dafür, dass MDMA, der Hauptbestandteil der Partydroge Ecstasy, für Therapien legal bleibt – und scheiterte. Dann gründete er sein Unternehmen MAPS (Multidisciplinary Associaction for Psychedelic Studies). Und jetzt, im März, hat es den ersten Patienten mit MDMA behandelt. In Holland. Einen Polizisten aus den USA. 

Doblin möchte, sobald die Behandlungen legalisiert sind, im großen Stil Therapeuten ausbilden und die Behandlung anbieten. „Es wird Hunderte Therapiezentren geben, auch in Europa. Für Behandlungen mit Ketamin, für MDMA, für Psilocybin. Kliniken für psychedelische Therapie.“ 

Eine neue Perspektive

Ich spreche mit Doblin über Zoom, er sitzt im Hawaii­hemd in seinem Studierzimmer in Boston, umgeben von Tausenden Papieren zum Thema. Er lacht immer wieder und hört nicht auf, Tipps zu geben, mit wem man noch reden müsse. Ein freundlicher Mann mit der Ausstrahlung eines Gewinners. Alles fügt sich. Oder? Hatten wir das mit den Psyche­delika alles nicht schon einmal? Haben die Hippies und Freaks der Sechziger nicht geglaubt, je mehr Drogen man nimmt, umso besser? „Das war ein großer Fehler“, gibt Doblin zu. „Heute geht es vor allem um die begleitende Therapie, die Integration. Die Substanz ist nicht die Therapie. Das ganze Setting ist die Therapie.“ Und die USA sind wieder einmal führend. Das Land, das der Welt einst die Drogenprohibition gebracht hat, hebt sie nun nach und nach wieder auf.

Allerdings zieht Europa langsam nach, auch hier gibt es Pläne, Therapiezentren aufzubauen. „Wir werden moderne Tempel bauen“, sagt Martijn Schirp. „Für wissenschaftlich fundierte und begleitete psychedelische Erfahrungen. Aber auch für die mysteriöse Erfahrung, wer wir sind, als Einzelne und als Menschheit.“ Schirp möchte die Trennung zwischen der esoterischen Szene und der Wissenschaft aufheben. „Bei uns gibt es Ärzte, Psychologen, Atemarbeiter, Mediations-Coaches, spirituelle Energieheiler. Diese Welten müssen einander nicht widersprechen.“ Offenbar kommt die Idee an. Zurzeit bildet sein Institut 60 Therapeuten der Zukunft aus, für das nächste Jahr möchte er 200 aufnehmen – aber schon jetzt haben sich 1700 beworben.

Als das US-Magazin Psychedelic Invest im Mai eine Liste der „100 Most Influential People in Psychedelics“ veröffentlichte, stand auf Platz 40 eine Frau, die jahrelang als Journalistin gearbeitet hatte: Anne Philippi. Ende 2019 gründete sie „The New Health Club“ – zunächst war ihr Projekt ein Podcast, in dem sie mit den Größen der Szene sprach, inzwischen ist es eine umfassende Lifestyle-Plattform für Psychedelika, die eine neue Sicht auf mentale Gesundheit bietet. „Interessierte und Patienten sollen unabhängige Informationen bekommen und eines Tages die richtige legale Therapie finden“, erklärt sie. „Dabei werden wir helfen.“

Die Börse lauert schon

Mit ihrem Mitgründer Christoph Haberbauer sammelt sie Investorengelder ein und baut ihre Firma aus – unter anderem mithilfe von APX, dem Start-up-Investor von Axel Springer und Porsche. Selbst klassische Unternehmen interessieren sich inzwischen für das psychedelische Business. Das Angebot von „The New Health Club“ ist vermutlich weltweit einzigartig, die 44 Folgen des Podcasts sind schon jetzt der umfassendste Überblick über die Welt der fundiert eingesetzten Psychedelika. Das kleine Start-up könnte also zur ersten großen Informationsquelle zu dem Thema aufsteigen. Der Gast der ersten Podcast-Folge, ganz am Anfang: der deutsche Starinvestor Christian Angermayer, der diese Szene enorm vorantreibt.

Dessen eigenes Unternehmen Atai Life Sciences, das ein Pharmagigant für Psychedelika werden will, steht schon unmittelbar vor dem Börsengang. Schon im Herbst vermeldete es, 125 Millionen Dollar Investorengelder eingesammelt zu haben. An der Börse ist das (gerade erst beginnende) Geschäft mit psychedelischer Therapie sowieso der neueste Hype. Die Unternehmen Compass Path­ways oder Mind Medicine wurden gerade in den Nasdaq aufgenommen. Beflügelt werden sie alle von ständig neuen Jubelnachrichten aus dieser Welt: MAPS beginnt gerade in den USA die erste sogenannte Phase-III-Studie über MDMA als Medikament gegen die posttraumatische Belastungsstörung. Wenn eine solche Studie abgeschlossen wird, ist meist bald danach auch die Behandlung legal. 

Langsame Fortschritte

„Mit Drogenmissbrauch hat das ja alles nichts zu tun“, erklärt Martijn Schirp. „Die Substanzen, die in der Therapie funktionieren, machen nicht süchtig und sind nicht giftig. Sie tragen das Potenzial in sich, dass man zum Kern unnötigen Leidens vorstößt.“ Und dann erklärt er noch weiter, wie er den spirituellen Aspekt seiner Arbeit sieht: „Psilocybin kann auch ein Gefühl des Zusammengehörens, der Gemeinschaft und der Liebe geben.“ Hippies, Religiöse und Wissenschaftler hätten eben je eigene Sprachen, die aber seien alle auf ihre Weise berechtigt. 

Allerdings kommt auch aus der harten Wissenschaft immer mehr Zuspruch. Das Londoner Imperial College hat gerade an zwei Versuchsgruppen Psilocybin gegen Escitalopram getestet, ein häufig verschriebenes Psychopharmakon. Escitalopram wirkt gegen Depression, aber es hat auch einige Nebenwirkungen. Kopfschmerzen und Übelkeit vor allem, aber auch Erektionsschwierigkeiten und ein allgemeines Nachlassen der Libido sind häufig – immerhin bei Menschen, die doch ihre Lebensfreude gerade wiederfinden wollen. Das Ergebnis der Londoner Studie: Psilocybin ist dem herkömmlichen Mittel ebenbürtig.

Deutsche Forschung

In Deutschland laufen derzeit zwei ähnliche Studien, an der Berliner Charité und am Universitätsklinikum Mannheim. Auch in Deutschland geht es um Psilocybin, den Wirkstoff aus den Magic Mush­rooms. „Wir wollen herausfinden, ob Psilocybin zur Behandlung der therapieresistenten Depression sicher und wirksam ist“, sagt Malte Klar. Der Psychologe führt, gemeinsam mit dem Psychiater Dimitris Repantis, die Studie an der Charité am Campus Benjamin Franklin durch. „Wenn es sicher ist, also keine gravierenden Nebenwirkungen hat, und wirksam ist, also mindestens ähnlich gut wirkt wie andere Methoden, dann wird es zur Zulassung eingereicht.“ Auch er betont: „Die Substanz hilft nach unserer Vermutung nicht nur gegen Depression, sondern darüber hinaus haben die Menschen mit ihr auch eine sinnstiftende Erfahrung.“ 

Wie das genau wirkt, wird noch erforscht. Eine neurophysiologische Hypothese sagt, das „Default Mode Network“ im Gehirn werde abgeschaltet. So nennen Neurologen das Netzwerk im Gehirn, das für das Ich-Erleben zuständig ist, in spirituellen Kreisen würde man sagen: das Ego. „Wenn jemand depressiv ist, fühlt er sich quasi gefangen in seinen Gedanken. Psilocybin wäre ein Türöffner aus dem Gefängnis der Depression“, erklärt Klar. Im Jahr 2022 ist eine Folgestudie mit mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmern geplant, das ist dann die erste deutsche Phase-III-Studie – danach wird das Medikament zur Zulassung eingereicht. Wenn die Ergebnisse es zulassen.

Selbsttherapie

Psilocybin sei „weniger gefährlich als Cannabis“, sagt Klar jetzt schon, „weil es nicht süchtig macht. Nimmt man es mehrmals hintereinander ein, wirkt es einfach nicht mehr.“ Das gängige Vorurteil, Psilocybin könne eine latent vorhandene Psychose zum Ausbruch bringen, ist wissenschaftlich kaum belegt. Trotzdem werden Interessierte von den Berlinern vorher genau geprüft, und wer diesbezüglich ein erhöhtes Risiko hat, darf weder jetzt mitmachen noch in Zukunft, wenn die Behandlung legal wird.
An den Universitäten wird seit mindestens 20 Jahren die Frage heiß diskutiert, welche der zahllosen Formen von Psychotherapie die beste ist. Die psychedelische Therapie hat eine Antwort: Hier therapiert der Patient sich auch ein wenig selbst.

„Minimalinvasiv“ nennt Malte Klar von der Charité seine therapeutische Haltung. „Vertrauen – loslassen – offen sein, das ist quasi das Mantra, das wir allen mitgeben. Und wenn fordernde Gedanken und Gefühle aufkommen, ist die Leitidee: Hinein und hindurch! Also das Gegenteil von Vermeidung oder Bekämpfung.“ 

Der Therapeut nur Begleiter

Hier wie fast überall ist das Setting: Kopfhörer auf den Ohren, Schlafmaske auf den Augen, und die Therapeutin sitzt oft stundenlang einfach nur dabei. Die behandelte Person steigt in ihren eigenen Prozess ein und meldet sich, wenn sie Hilfe braucht. „Es geht um Selbstheilungskräfte durch eine psychedelische Erfahrung, nicht so sehr um eine gezielte Intervention des Therapeuten“, sagt Klar. Ein Psychotherapeut wäre in diesem Selbstbild eher ein Wegbegleiter, der die Hand seiner Reisenden halten kann, hinterher auch da sein, um zu sprechen. Aber Heilung geschieht in der Person selbst, sie kommt wie ein Geschenk – alle gehen durch ihre Probleme hindurch, sobald sie bereit sind. 

„Die Maske fallen lassen und verletzlich sein – darum geht es uns“, sagt auch Martijn Schirp von Synthesis. Inzwischen hat die Forschung gezeigt, dass genau das Heilung erzeugt. Und die westliche Welt steckt in einer großen Krise der seelischen Gesundheit. „Wir fühlen uns allein und vereinzelt“, sagt Schirp. „Wir brauchen wieder das Gefühl, einen Sinn des Lebens zu haben.“

Patient 1 begeistert

Es ist dabei nicht so, dass jetzt allerlei Drogen einfach legalisiert würden. Sie werden immer nur für die Therapie ganz bestimmter Probleme – vor allem Depression und Trauma – und nur im kontrollierten therapeutischen Setting erlaubt. Aber: Dass die Gesellschaft nun die heilende Wirkung von MDMA oder Psilocybin kennenlernt, ist ein Erdbeben in der Welt der Medizin und Psychologie.

Am Ende der Recherche zu diesem Thema klingelt das Telefon, und Sarko Gergerian aus Massachusetts ist dran. Der Polizist war im April der Erste, der legal die Behandlung mit MDMA erfahren hat, er ist der Patient Nummer eins dieser neuen Art von Psychotherapie. „Als die Wirkung begann, habe ich zwei Dinge gefühlt“, erzählt er. „Eine große, mich und alles umfassende Liebe. Und Dankbarkeit. Für meine Familie, meine Kollegen, für diese Therapie.“ Gergerian ist armenischer Abstammung, seine Vorfahren haben das Trauma von Verfolgung und Völkermord erfahren müssen. „Durch die Substanz habe ich entdeckt, dass sehr viel tiefe Traurigkeit in mir ist. Aber gleichzeitig hatte diese Traurigkeit mich nicht in der Hand. Ich konnte sie fühlen und damit leben – zum ersten Mal.“ 

Der Mann, der seit zehn Jahren Polizist ist, möchte sich nun selbst ausbilden lassen – und genau diese Therapie seinen Kollegen im Dienst zukommen lassen. „Damit können wir so vielen helfen, und Menschen vor dem Selbstmord retten. Die Welt muss von dieser Therapieform erfahren!“

 

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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