Jahresbericht des Deutschen Presserats - Das Vertrauen in die Presse ist brüchig geworden

2020 haben sich die Beschwerden beim Deutschen Presserat verdoppelt. Das lag unter anderem an Massenbeschwerden wie im Fall Hengameh Yaghoobifarah, aber auch an dem Unmut über die Corona-Berichterstattung. Das Vertrauen der Bürger in die Presse ist brüchig geworden. Das ist Grund zur Sorge.

Handschuhe schützen vor der anderen Meinung / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Die gute Nachricht zuerst: Die Meinungsfreiheit in der deutschen Presselandschaft ist allen Unkenrufen zum Trotz nicht in Gefahr. Zu diesem Urteil muss kommen, wer den gestern veröffentlichten Jahresbericht des Deutschen Presserates für das Jahr 2020 aufmerksam gegen den Strich liest. Denn der erste Eindruck könnte vielleicht ein anderer sein: Noch nie war die Zahl der Beschwerden, die bei der freiwilligen Selbstkontrolle der deutschen Verleger- und Journalistenverbände einging, so hoch wie im Corona-Jahr 2020.  Insgesamt 4.085 Einzelbeschwerden sind in den vergangenen zwölf Monaten beim Deutschen Presserat eingegangen, nicht wenige davon haben sich auf dieselben Interviews, Reportagen oder Kommentare bezogen. Zum Vergleich: Im Jahr zuvor waren es gerade einmal 2.175 Beschwerden, 2016 und 2017 lag die Zahl der Beschwerdeeingänge sogar unter 2.000.

Dabei ist die gewachsene Zahl der Meldungen zunächst gar nicht verwunderlich, denn es gab viel, über das man sich 2020 – ob nun zu Recht oder zu Unrecht – hätte beklagen können: Da war die taz-Kolumne „All cops are berufsunfähig“ von Hengameh Yaghoobifarah, die gleich 382 Einzelbeschwerden auf sich vereinte, da war der vertrauliche WhatsApp-Chat des einzigen überlebenden Jungen im Fall der mehrfachen Kindstötung in Solingen, der später von mehreren Zeitungen veröffentlicht wurde, und da war natürlich Corona – die Maßnahmen, die Widersprüche und die Proteste. Kein Ereignis dürfte für mehr Aufsehen und Erregung unter den Leserinnen und Lesern deutscher Zeitungen, Magazine und Online-Medien gesorgt haben als der Ausbruch des neuartigen Corona-Virus‘ im chinesischen Wuhan und die daraus folgende weltweite epidemische Lage.

Die meisten Beschwerden wurden abgewiesen

Gleich 581 Leserinnen und Leser haben den Presserat daher im vergangenen Jahr um eine Einschätzung zu Presse und Online-Berichten rundum die Corona Pandemie gebeten. Mal ging es um eine vermutete Verletzung der Sorgfaltspflicht, mal um unterstellte Diskriminierung oder um eine angebliche Verletzung der Menschenwürde. Doch gut 80 Prozent der vom Presserat behandelten Corona-Beschwerden wurden als unbegründet bewertet und zogen somit keinerlei Rügen oder Missbilligungen nach sich. Das galt sowohl für Beschwerden über Berichte, in denen Teilnehmer von Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen als „Verschwörungstheoretiker“ oder „Corona-Leugner“ bezeichnet wurden als auch für Artikel, bei denen Leserinnen und Leser eine zu reißerische Berichterstattung oder eine zu plakative Überschrift monierten. Den größten Teil dieser Beschwerden wies der Presserat als offensichtlich unbegründet zurück.

Die Meinungsfreiheit also ist gesichert – und das nicht, obwohl es derart viele Kontroversen und Irritationen gegeben hat, sondern gerade weil es sie gegeben hat. Die vielen Beanstandungen belegen nämlich zunächst nur, dass die Deutungshoheit über Ereignisse und Sachverhalte auch weiterhin bei jedem Einzelnen liegt – und somit auch bei den einzelnen Journalistinnen und Journalisten. Deren Lesart und Kommentierung mag zwar im Einzelfall Missfallen und Verdruss hervorgerufen haben, wichtig aber ist zunächst und einzig, dass sie frei und ohne nachweisbare Einflussnahme geschrieben worden ist. „Welche Deutung von Ereignissen richtig oder falsch ist, darüber kann und soll eine Freiwillige Selbstkontrolle nicht entscheiden“, so der Deutsche Presserat in seinem Jahresbericht.

Vermischung von Journalismus und Werbung

Worüber er indes entscheiden sollte – und dies 2020 auch immer wieder getan hat –, sind Klagen über die Vermischung von redaktionellen Inhalten und Werbung, über nachweisbare Interessenkonflikte von Journalisten oder unautorisierte Veröffentlichungen von Fotos oder Namen. All das hat es im vergangenen Jahr immer wieder gegeben, so dass die Zahl der ausgesprochenen Rügen 2020 auf 53 angestiegen ist (2019 waren es noch 34 Rügen) und es zudem 76 Missbilligungen und 133 Hinweise gegeben hat. Die meisten Rügen wurden dabei gegen Boulevardzeitungen verhängt, gefolgt von Zeitschriften und Regionalzeitungen.

Ist also eigentlich doch alles gut in der deutschen Presselandschaft? Ja und nein, möchte man salomonisch meinen. Denn abgesehen davon, dass es natürlich beunruhigend ist, wenn die Grenzen zwischen Journalismus und Marketing 2020 noch einmal poröser geworden sind, so horcht man ebenso auf, wenn das Vertrauen zwischen den Redaktionen und den Leserinnen und Lesern weitere Brüche bekommen hat: Die meisten Personen nämlich, die sich zum Thema Corona an den Presserat gewandt haben, hätten angeblich Zweifel am Wahrheitsgehalt der Berichterstattung geäußert. 

Mitwirkung an der Meinungsbildung

Einen Journalisten kann dieser Zweifel nicht kalt lassen. Nicht nur, weil der Zweifler in diesem Fall ja sein bester Kunde ist. Nein, vor allem sollte er wissen, dass er eben auch nur ein Deuter unter anderen Deutern ist. Er mag im Idealfall vielleicht die fundiertere Recherche auf seiner Seite haben, vor unangebrachter oder gar falscher Einschätzung einer politischen oder sozialen Lage aber schützt die ihn notfalls nicht. Die Presse soll, so heißt es in §3 der Landespressegesetze, an der Meinungsbildung mitwirken. Das heißt aber nicht, dass sie die einzige Meinung im Lande abbildet. Journalistinnen und Journalisten sollten sich das bewusst machen. Leserinnen und Leser auch.
 

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