150 Jahre Postkarte - „Wohn-, Schlaf- und Telefonzimmer - alles da!“

Vor 150 Jahren unterzeichnete Otto von Bismarck eine Verordnung zur Einführung der Postkarte. Seither schreibt man sich nicht nur in Deutschland skurrile Grüße aus der Sommerfrische.

Historische Postkarten im Sommer 2020 / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Was läge näher als eine Geburtstagskarte; ein Gruß auf Pappe mit Spruch oder Bild. 150 Jahre sind schließlich Grund genug für ein postalisches Ständchen, auch wenn die Verbindung nicht immer zum Besten stand: „150 Jahre sind es wert, dass man dich besonders ehrt, deshalb wollen wir dir sagen, es ist schön dass wir dich haben!“ Und das eben schon seit jenem Sommer 1870, dem annus iubilaeus als Otto von Bismarck, damals noch Ministerpräsident in Preußen, eine Verordnung zur Einführung der „Correspondenzkarte“ unterzeichnete. Seither ist die einseitig beschriebene Post- oder Ansichtskarte zu einer Art Messenger-App des Industriezeitalters geworden, zum schnellen Gruß von fernen Ländern und vertrauten Menschen. 

Dabei war die Zeit, in der man die Postadressen seiner Freunde und Nachbarn noch wie aus dem Effeff hersagen konnte, um ihnen mit wenigen Worten von großen Urlaubsabenteuern zu berichten, eigentlich ein rechter Graus. Allein die Anrede war Anstrengung. Während einem die Sonne von Capri allmählich in den Golf von Neapel entglitt, saß man beim fünften Primitivo und rang mit den Grenzen seiner Sprache: Mein Herz, Liebe Eltern, Werter Anhang und Anverwandte. Jedes Wort eine Überwindung; jedes Weißfeld eine unerbittliche Provokation. Wie geht es Dir? Caro Saluti! Was soll man schon schreiben? 

Kalbsbraten mit Kartoffeln

Vielleicht hätte ein Blick in ein gutes Buch geholfen, um beim Abarbeiten unumstößlicher Reisepflichten, wenn nicht einen Musenkuss, so doch ein Mindestmaß an Inspiration zu bekommen. Der Schriftsteller Jurek Becker etwa, zeitlebens ein mehr als leidenschaftlicher Kartenschreiber, soll seiner Frau Christine verteilt über die gemeinsam verbrachte Lebensspanne von elf Ehejahren gut 400 Ansichtskarten geschrieben haben. Einen ganzen Plastiksack voller Karten soll Becker, Autor des Buches „Jakob der Lügner“, unterm heimischen Schreibtisch gehütet haben: Eine Lesereise hier, ein Urlaub dort, und immer ein anderes Motiv, eine innovative Anredeformel: Du blaues Wunder! Du heller Wahnsinn! Manchmal aber auch: Du wunder Punkt!

Nun reicht es natürlich nicht bei jedem Kartenschreiber aus dem Stand zum Post-Poeten, auch ist nicht jeder Gruß Capriccio oder eine wohlklingende literarische Miniatur. Selbst Profis können zuweilen mehr als fade fabulieren: „Es wird dich doch liebe Ottla interessieren, dass ich in dem Hotel zum Ross auf der anderen Seite einen Kalbsbraten mit Kartoffeln und Preiselbeeren, hierauf eine Omelette gegessen und dazu und hierauf eine kleine Flasche Apfelwein getrunken habe. Unterdessen habe ich mit dem vielen Fleisch, das ich bekanntlich nicht zerkauen kann, teilweise eine Katze gefüttert, teilweise nur den Boden verschweinert. Dein Franz“

Einfachheit und Kürze

Essen gut, Wetter schön, Befinden prächtig! Und das bei Kafkas wie bei Familie Müller, Meyer, Mustermann. Manch großer Geist ist an der kleinen Karten schon verzweifelt: „Liebe Hippel - so sieht es hier aus. Wohn-, Schlaf- und Telefonzimmer - alles da!“, schrieb etwa Kurt Tucholsky anno 1916 an seine Schwester Ellen, genannt Hippel. Eine Karte wie ein Musterbrief. Denn genauso hatte man sich das vorgestellt: Die Postkarte sollte die Kommunikation direkt und ohne Umschweife garantieren: „Die jetzige Briefform gewährt für eine erhebliche Anzahl von Mitteilungen nicht die genügende Einfachheit und Kürze“, so 1865 auf der 5. Konferenz des Postvereins der spätere Generalpostdirektor Heinrich von Stephan. Dem war das Falten konventioneller Briefbögen, die Anwendung des Kuverts sowie das Aufkleben der Briefmarken um diese Zeit zu viel geworden; doch da es mit Ausnahme des 1857 eingeführten Telegramms noch keine Kurznachrichtendienste gab, schlug von Stephan die Einführung eines kleinen Postblattes mit zuvor eingestanzter Marke vor.

Diese sollte indes noch fünf Jahre auf sich warten lassen, veränderte dann aber jegliche Vorstellung von Schreiben und Reisen. Während nördlich von Inn und Donau – ganz als wäre es schon das Jahr 2020 – Bedenken in Sachen Postgeheimnis und Datenschutz aufkamen, preschte Österreich-Ungarn 1869 schon einmal vor: Auf Anregung des Ökonom Emanuel Hermann, der die Wortanzahl auf den von ihm vorgeschlagenen „Correspondenzkarten“ eigentlich auf zwanzig begrenzt haben wollte, brachte die kaiserlich-königliche Post im Oktober das neue Medium an den Start.

5 Pfennig Porto

Ein Jahr später dann, pünktlich zur Sommerfrische 1870, folgte Deutschland mit entschiedenen Schritten nach. Für gerade einmal 5 Pfennig sollte man hier fortan seine auf einem kleinen Stück Pappe niedergeschriebenen Urlaubsgrüße durch das ein Jahr später gegründete Kaiserreich schicken. 

So weit also, so günstig, wäre da nicht das Problem mit der Sprache geblieben. Das aber wurde nie wirklich ausgeräumt, weshalb die meisten Touristen wohl längst auf Messenger-Dienste und Selfies umgestiegen sind: Ich vor dem Louvre. Ich am Grand Canyon, Ich. Ich. Ich. Ein Bild sagt eben mehr als zwanzig Worte. Da ist es kein Wunder, dass der Markt für den analogen Schnellgruß von Jahr zu Jahr kleiner wird. Wurden 2006 noch 225 Millionen Postkarten quer durch die Republik befördert, so waren es 2018 nur noch 155 Millionen, Tendenz fallend. Aussterben indes wird die Postkarte vermutlich nie. Wer wollte am Ende nicht eben doch einen handschriftlichen Liebesgruß wie diesen von Jurek Becker bekommen: Du alte Brummfiedel. Heute sind wir den halben Tag durch Hawaii gefahren, und es hat irrsinnig geregnet.... Ich liebe dich trotzdem. Ist doch komisch.“

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