PISA-Studie - Bildung im post-gebildeten Zeitalter

Kolumne: Grauzone. Früher wurde Bildung als Weg zur Selbstfindung verstanden. Ziel der Weltanschauungskrieger von OECD, IEA und der Bertelsmann-Stiftung ist jedoch die Heranzüchtung konformer Generationen

Der moderne Mensch des Post-Bildungs-Zeitalters darf kein eigenständiges Subjekt sein / picture alliance
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Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Diese Woche war es wieder mal so weit. Die OECD veröffentlichte ihre neue PISA-Studie. Und wie bei einem Pawlowschen Reflex wiederholte sich das alte, ermüdende Ritual: so genannte Bildungsexperten, Wirtschaftsvertreter, Politiker und Repräsentanten einschlägiger Verbände riefen den Bildungsnotstand aus und mahnten einmal mehr Bildungsoffensiven an.

In welche Richtung diese Reformen zu gehen haben, ist dabei auch schon klar: mehr Digitalisierung, mehr Ganztagsschulen, mehr frühkindliche „Bildung“, mehr Inklusion, mehr internationale Vergleichbarkeit, mehr internationale Standards – willkommen bei den Ideologen der schönen neuen Bildungswelt.

Mit Bildung hat das alles natürlich rein gar nichts zu tun. Bildung wäre sogar äußerst hinderlich bei dem Ziel, das eigentlich verfolgt wird. Denn nicht der gebildete Mensch soll am Ende dieser Bildungsbemühungen stehen, sondern der konforme, der nivellierte, der international und global verwertbare Mensch. Humboldt würde sich im Grabe umdrehen.

Emanzipation und Selbstbestimmung ausgeschlossen

Die OECD, man verdrängt es hierzulande geradezu systematisch, ist kein Verein feinsinniger Humanisten zum Erhalt abendländischer Bildungstraditionen, sondern die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Nun spricht weder etwas gegen wirtschaftliche Zusammenarbeit noch gegen deren Entwicklung. Problematisch wird es aber dann, wenn diese zum alleinigen Kriterium schulischer Ausbildung gemacht werden und eine Bildungsideologie verbreitet wird, die unter dem Deckmäntelchen von Chancengleichheit und sozialer Mobilität nichts anderes hervorbringt als den für den internationalen Arbeitsmarkt genormten und weltanschaulich angepassten Schulabgänger.

Denn nicht um Emanzipation und Selbstbestimmung des Individuums geht es den Weltanschauungskriegern von IEA (International Association for the Evaluation of Educational Achievement), OECD oder Bertelsmann-Stiftung. Vielmehr sollen Generationen heranerzogen werden, die das billige Versprechen universaler beruflicher Verwertbarkeit als Freiheit fehldeuten und ihre Gefangenschaft in der Logik von Flexibilität und Assessment als Emanzipation.

Kulturell entwurzelte Funktionserfüller

Bildung, die ihren Namen verdient, ist dabei eindeutig hinderlich, denn sie könnte zu falschen Gedanken in den Augen der OECD verführen. Als Bildung noch Bildung war, wurde sie als Weg verstanden, mit dem das Individuum zu sich selbst findet. Der bürgerliche Bildungsroman erzählt davon. Doch genau um dieses freiheitliche und humanistische Ideal geht es den Netzwerkern und Lobbyisten einer angeblichen zeitgemäßen Bildungspolitik mitnichten.

Konsequenterweise wird Bildung uninterpretiert zum Beherrschen technischer Fähigkeiten und dem Erwerb nichtiger Kompetenzen. Bildung, die einmal gleichbedeutend mit historischem Wissen war, mit der umfangreichen Kenntnis literarischer, künstlerischer und philosophischer Traditionen, wird als nutzlos, ja schädlich wahrgenommen, weil sie den Menschen eine kulturelle Identität vermittelt, die seiner Verfügbarkeit auf einem globalisierten Markt austauschbarer Arbeitskräfte entgegensteht.

Der moderne Mensch des Post-Bildungs-Zeitalters darf kein eigenständiges Subjekt sein, das um die differenzierende Prägekraft unterschiedlicher Kulturen und Überlieferungen weiß. Gefragt ist vielmehr der historisch und kulturell entwurzelte Funktionserfüller, der kritiklos und begeistert fit ist für den Umgang mit den jeweils neuen Technologien, deren devote Beherrschung als lebenslanges Lernen schöngeredet wird.

Vom Aussterben des Bildungsbürgers

Bildung war einmal eine Waffe, die sich das aufstrebende Bürgertum im Kampf gegen die herrschenden Ideologien seiner Zeit, gegen Klerus und Adel schuf, weil sie den Geist frei machte und unabhängig, da sie einen kritischen Blick ermöglichte auf das Hier und Jetzt und seine angeblichen Alternativlosigkeiten.

Doch Bildung, das war einmal. Noch leben Menschen – erzogen und groß geworden in einem Schulsystem, das aus Sicht moderner Bildungsideologen rückständig und in jeder Hinsicht verwerflich war – die wirklich über Bildung verfügen.

Das Privileg unserer Generation ist es, dass wir solche Menschen noch kennen lernen durften. Aber selbst das wird bald vorbei sein. Welch ein enormer, welch ein trauriger Verlust. Doch keiner wird gebildet genug sein, um ihn zu bemerken. Auch das ist eine Lösung.

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