Philosoph Slavoj Zizek - „Die Perversion ist die verborgene Vorderseite der Macht“

Im dritten Teil seines Essays über Ernst Lubitsch schreibt Slavoj Zizek über Doppeldeutigkeiten beim Rauchverbot, beim Militär, in Filmklassikern und in der katholischen Kirche

Haben sie es getan oder nicht? Humphrey Bogart und Ingrid Bergman in „Casablanca“ / picture alliance
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Autoreninfo

Slavoj Zizek, Jahrgang 1949, ist einer der bekanntesten Philosophen der Gegenwart. Der in Ljubljana geborene Denker war 1990 in Slowenien Präsidentschaftskandidat. Seit Anfang 2007 ist er International Director des Birkbeck Institute for the Humanities an der University of London. Hegel, Marx und Lacan haben seine Werke maßgeblich beeinflusst. Er bezeichnet sich als eurozentrischen Marxisten.

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Ist Ernst Lubitschs Ansatz in unserer heutigen Zeit nicht an seine Grenze gekommen? Wir erfahren mehr und mehr, dass das, was für Lubitsch noch ein Witz war, jetzt einfach im realen (politischen und ideologischen) Leben in die Tat umgesetzt wird. Erinnern Sie sich an den Film „Sein oder Nichtsein“ und an Oberst Erhardts legendären Spruch „Wir machen die Konzentration, die Polen sind zuständig für das Lagern“ – könnte der heutige Manager, der die Politik der Austerität befürwortet, nicht etwas Ähnliches sagen? „Wir machen die Politik, die gewöhnlichen Leute sind für die Austerität zuständig“? Vielleicht funktioniert die Art der Lubitsch-Witze nur, solange wir noch über liberale Heuchelei spotten können – aber was bleibt uns in unserer Zeit, in der sich die Macht brutal ausbreitet und die liberal-humanitär-demokratische Maske fallen lässt? Man ist fast versucht zu sagen: Bring uns diese heuchlerische Maske zurück!

Lubitsch wäre jedoch bewusst gewesen, dass ein solches direktes „Fallenlassen der Masken“ immer eine Fälschung ist. In den „revolutionären“ sechziger Jahren war es Mode, die Perversion gegen den Kompromiss der Hysterie zu verteidigen: Ein Perverser verletzt direkt die gesellschaftlichen Normen, er macht offen, wovon ein Hysteriker nur träumt oder als Symptome mehrdeutig artikuliert. Mit anderen Worten bewegt sich der Perverse effektiv über den Meister und sein Gesetz hinaus, während der Hysteriker seinen Meister nur auf zweideutige Weise provoziert, was auch als Forderung nach einem authentischeren, wahren Meister gedeutet werden kann... Gegen diese Ansicht betonten Sigmund Freud und Jacques Lacan konsequent, dass Perversion, weit davon entfernt, subversiv zu sein, die verborgene Vorderseite der Macht ist: Jede Macht braucht Perversion als ihre inhärente Transgression, die sie aufrechterhält. 

Ein Aschenbecher als Metapher für unsere Zwangslage

In einem Hotel in Skopje, in dem ich vor kurzem übernachtet habe, fragte meine Begleiterin, ob das Rauchen in unserem Zimmer erlaubt sei. Die Antwort, die sie von der Person an der Rezeption erhielt, war einzigartig: „Natürlich nicht, das ist gesetzlich verboten. Aber Sie haben einen Aschenbecher im Zimmer, das ist also kein Problem.“ Dies war nicht die letzte unserer Überraschungen: Als wir den Raum betraten, stand tatsächlich ein Glasaschenbecher auf dem Tisch, und auf seinem Boden war ein Bild gemalt: eine Zigarette, umgeben von einem großen Kreis mit einer diagonalen Linie darüber, also ein Verbotszeichen.  Es war also nicht das übliche Spiel in toleranten Hotels, wo sie einem diskret zuflüstern, dass, obwohl es offiziell verboten ist, du vorsichtig rauchen kannst, an einem offenen Fenster stehend oder so. Der Widerspruch (zwischen Verbot und Erlaubnis) wurde offen angenommen und damit aufgehoben, als inexistent behandelt, das heißt, die Botschaft lautete: „Es ist verboten, und hier ist eine Anleitung, wie man es macht.“ Vielleicht bietet diese Geschichte über den Aschenbecher also die bester Metapher für unsere ideologische Zwangslage heute. 
Erinnern Sie sich an die Debatten über Folter – war die Haltung der US-Behörden nicht so etwas wie: „Folter ist verboten, und hier ist eine Anleitung zum Waterboarding“?

Perverse üben aus, wovon Hysteriker träumen

So funktionieren Armeen. Ich erinnere mich an einen ähnlichen Vorfall aus meinem Militärdienst. Eines Morgens, er war die erste Unterrichtstunde im internationalen Militärrecht, sagten sie uns neben anderen Regeln, dass es verboten sei, auf Fallschirmjäger zu schießen, während sie noch in der Luft sind, also bevor sie den Boden berührt haben. In einem glücklichen Zufall ging es in unserer nächsten Stunde um das Schießen, und derselbe Offizier brachte uns bei, wie man einen Fallschirmjäger in der Luft anvisiert (wie man beim Zielen darauf achten sollte, mit welcher Geschwindigkeit und in welche Richtung er fliegt, welche Stärke der Wind hat und so weiter. Als einer der Soldaten den Beamten den Widerspruch zwischen dieser Lektion und dem, was wir gerade vor einer Stunde gelernt hatten, ansprach, entgegnete der Offizier mit einem zynischen Lachen: „Wie kannst du so dumm sein? Verstehst du nicht, wie das Leben funktioniert?“ Ein solches Verfahren, also die direkte und offene Ausführung dessen, was das Gesetz verbietet, kennzeichnet die Perversion. Es gilt, dass Perverse ausüben, wovon Hysteriker nur träumen, das heißt „alles ist erlaubt“ in der Perversion, ein Perverser verwirklicht offen alle verdrängten Inhalte – und dennoch ist, wie Freud betont, die Repression nirgends so stark ist wie in ihrer  Perversion, eine Tatsache, die in unserer spätkapitalistischen Realität mehr als bestätigt wird, in der die totale sexuelle Freizügigkeit nicht eine Befreiung verursacht, sondern Angst und Impotenz oder Frigidität.

Also, um auf Lubitsch zurückzukommen, was ist, wenn seine berühmte Indirektheit durch dieselbe Einsicht gestützt wird, wie die, dass perverse direkte Umsetzung des verdrängten Inhalts der stärksten Repression gleichkommt? Gerade wenn wir uns den dreckigsten Fantasien unseres Geistes zu öffnen scheinen, bleibt der wirklich traumatische Punkt verdrängt. Ist Lubitschs Indirektheit nicht auch durch die Zensur des Hays-Code bedingt? Theodor W.  Adorno schrieb irgendwo, dass ein wirklich guter Film allen Regeln des Hays-Code folgen würde, allerdings nicht um dem Gesetz zu gehorchen, sondern aus einer immanenten Notwendigkeit – und genau das tut Lubitsch.

Die Codes von „Casablanca“

Ein exemplarischer Fall, wie diese Regeln funktionieren, findet sich in der bekannten kurzen Szene nach drei Vierteln des Films „Casablanca“: Ilsa Lund (Ingrid Bergman) kommt zu Rick Blaines (Humphrey Bogarts) Zimmer, um die Transitbriefe zu bekommen, mit denen sie und ihr Ehemann, der Widerstandskämpfer Victor Laszlo, Casablanca zuerst nach Portugal und dann nach Amerika entkommen wollen. Nachdem sie zusammengebrochen ist und sagt: „Wenn du wüsstest, wie sehr ich dich liebe, wie sehr ich dich immer noch liebe“, sehen wir eine Umarmung von ihr und Blaine in Nahaufnahme, die sich dann auflöst zu einer dreieinhalbsekündigen Sequenz, in der wir den Flughafenturm bei Nacht sehen und einen Suchscheinwerfer, ehe auch die sich wieder auflöst  zu einer Einstellung von außerhalb des Fensters von Ricks Zimmer, wo er steht, nach draußen schaut und eine Zigarette raucht. Er geht in den Raum und sagt: „Und dann?“ Dann erzählt sie ihre Geschichte weiter. Die Frage, die sich hier sofort stellt, ist natürlich: Was ist dazwischen passiert, während der dreieinhalbsekündigen Einstellung des Flughafens –  haben sie es getan oder nicht? Der Film ist nicht einfach zweideutig; er erzeugt vielmehr zwei sehr klare, obwohl sich gegenseitig ausschließende Bedeutungen – sie taten es, und sie taten es nicht.

Es gibt eine Reihe kodifizierter Signale, dass sie es getan haben, und dass die dreieinhalbsekündige Einstellung für einen längeren Zeitraum steht (die Auflösung des leidenschaftlich umarmenden Paares signalisiert normalerweise diese Handlung nach dem Ausblenden; die Zigarette danach ist das Standardsignal der Entspannung nach dem Akt; bis zur vulgären phallischen Konnotation des Turms). Es gibt aber parallel eine Reihe von Zeichen dafür, dass sie es nicht getan haben, dass dreieinhalb Sekunden, in denen wir den Flughafenturm sehen, der echten Zeit entsprechen (das Bett im Hintergrund ist nicht zerwühlt; die gleiche Unterhaltung scheint ohne Pause weiterzugehen). Während der Film auf der Ebene seiner oberflächlichen Erzähllinie vom Betrachter als die strengsten moralischen Codes einhaltend gesehen werden kann, bietet er gleichzeitig den feinfühligeren Zuschauern Hinweise, eine alternative, sexuell viel mutigere Erzähllinie zu entwerfen. So funktioniert Ideologie im klassischen Hollywood: Nichts wird total unterdrückt, alles kann gezeigt werden, solange es bestimmten Codes folgt (Wenn jemand bemerkt, dass ein Typ nach Parfum riecht, heißt das, er ist schwul, und so weiter).

Die gefährliche Macht der katholischen Ideologie

Im späteren Hollywood wurde dieses Spiel der inhärenten Überschreitung sehr viel komplexer. Erinnern Sie sich an die vielleicht wirkmächtigste Szene von „Meine Lieder – meine Träume“: Als Maria von der Familie von Trapp ins Kloster zurückkehrt, unfähig, mit ihrer sexuellen Hingezogenheit zu dem Baron von Trapp umzugehen, kann sie dort keinen Frieden finden, da sie sich immer noch nach dem Baron sehnt. In der denkwürdigen Szene bestellt die Mutter Oberin Maria zu sich und rät ihr, zu der Familie von Trapp zurückzukehren und zu versuchen, ihr Verhältnis zum Baron zu klären. Sie verkündet diese Botschaft in dem seltsamen Lied „Climb every mountain!“ („Besteige jeden Berg“). Dessen überraschendes Motiv lautet: Mach es! Geh das Risiko ein und versuche zu tun, was dein Herz begehrt! Und lasse dich nicht von Kleinigkeiten vom Weg abbringen! Der Mensch, von dem man erwarten würde, Abstinenz und Entsagung zu predigen, entpuppt sich als der Agent der Treue zum eigenen Verlangen.

Als „Meine Lieder – meine Träume“ in den späten sechziger Jahren im (noch sozialistischen) Jugoslawien gezeigt wurde, war diese Szene – die drei Minuten dieses Liedes – der einzige Teil des Films, der zensiert und herausgeschnitten wurde. Der anonyme sozialistische Zensor zeigte damit sein tiefes Gespür für die wirklich gefährliche Macht der katholischen Ideologie: Weit davon entfernt, die Opferreligion, die Entsagung des irdischen Vergnügungen zu verkörpern (im Gegensatz zur heidnischen Bejahung des Leidenslebens), bietet das Christentum eine verschlagene List, sich unseren Wünschen zu hinzugeben, ohne den Preis dafür zahlen zu müssen, das Leben ohne Angst vor Verfall und den lähmenden Schmerzen zu genießen, die uns am Ende aller Tage erwarten. Heute, wo in der katholischen Kirche immer wieder Fälle von Pädophilie auftauchen, kann man sich leicht eine neue Version der Szene aus „Meine Lieder – meine Träume“ vorstellen: Ein junger Priester nähert sich dem Abt und beichtet, dass er immer noch von Sehnsüchten gepeinigt wird und fordert eine weitere Bestrafung; der Abt aber antwortet mit einem Lied: „Besteige jeden kleinen Jungen ...“

Übersetzung: Constantin Wißmann

Dies ist der dritte Teil des Essays von Slavoj Zizek. Den ersten Teil lesen Sie hier, den zweiten hier. Fortsetzung folgt

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