Frankfurter Paulskirche - Helle Zeiten, dunkle Tage

Die Paulskirche ist in einem schlimmen Zustand. Wo das erste deutsche Parlament tagte, regiert heute die Tristesse. Sollte man die ehemalige Kirche historisch rekonstruieren? Darüber streitet man in Frankfurt verbissen

Erschienen in Ausgabe
Soll die Paulskirche gleich aufgebaut werden – oder doch wieder ihrem klassizistischem Original nachempfunden werden? / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

So erreichen Sie Daniel Gräber:

Anzeige

Mit schwarz-rot-goldenen Flaggen, Glockengeläut und Kanonendonner wurden die ersten frei gewählten Volksvertreter 1848 in Frankfurt begrüßt. Sie zogen am 1. Mai in die Paulskirche ein, bildeten dort die Nationalversammlung, die Urzelle der deutschen Demokratie. Heute empfangen vergilbte Schautafeln im düsteren Erdgeschoss der Paulskirche Schulklassen und Touristen. Die meisten Besucher verbringen keine Viertelstunde in diesem abweisend trostlosen Nationaldenkmal. Nun muss es saniert werden, doch in Frankfurt haben noch nicht viele begriffen, welche Chance sich dadurch bietet.

An einem Sommervormittag steht Brigitte Krone vor dem Haupteingang der Paulskirche und wartet auf den Oberbürgermeister. Sie trägt ein türkisfarbenes Sommerkleid und ist dezent geschminkt. Zur Verstärkung hat sie ihren Neffen mitgebracht. Florian Schoelkens hat sein Hemd locker über der Hose hängen, die Baseballkappe falsch herum auf dem Kopf und interessiert sich sehr für historische Bauten. Der 29-Jährige hat gerade sein Studium der Kunstgeschichte abgeschlossen.

Annäherung an das klassizistische Original?

Die beiden sind Teil einer Gruppe von 30 Lesern einer Frankfurter Lokalzeitung, die eine Führung durch die Paulskirche gewonnen haben. Peter Feldmann, das sozialdemokratische Stadtoberhaupt, will mit ihnen über die Zukunft des Demokratiedenkmals diskutieren und erzählen, was ihm dabei vorschwebt. Er hat dieses Thema zur Chefsache erklärt und fordert eine breite öffentliche Debatte. Er selbst vermeidet es aber bisher, in einer wesentlichen Frage Position zu beziehen: Soll die nach dem Zweiten Weltkrieg schnell wiederaufgebaute Paulskirche so bleiben, wie sie jetzt ist, oder soll sie sich wieder dem klassizistischen Original annähern?

Im März 1944 brannte die Paulskirche im Bombenhagel aus, übrig blieb eine Ruine. Der Architekt Rudolf Schwarz wurde mit dem Wiederaufbau betraut. Man beeilte sich, weil Frankfurt damals noch die Hoffnung hegte, Hauptstadt der Bundesrepublik zu werden. Schon 1948 wurde Schwarz’ neue Paulskirche eröffnet. Mit dem 1833 eingeweihten protestantischen Kirchenraum, der später zum Parlament wurde, hatte sie nicht mehr viel gemeinsam. Die Zuschaueremporen und die sie stützenden Säulen fehlten. Der Plenarsaal war nach oben verlegt worden, zugunsten eines eingeschobenen dunklen Erdgeschosses, durch das die Besucher der Paulskirche seitdem hindurchmüssen, bevor sie auf einer seitlichen Treppe in den lichtdurchfluteten Saal hinaufsteigen. „Wir wollten damit ein Bild des schweren Weges geben, den unser Volk in dieser bittersten Stunde zu gehen hat“, erklärte der Architekt.

Die Wiege unserer Demokratie

Ein Bußgang durch die Geschichte. In der Besu­chergruppe des Oberbürgermeisters stößt dieses Konzept auf wenig Begeisterung. „Für mich hat dieser Raum den Charme der Wandelhalle in Bad Wildungen“, sagt Brigitte Krone im gedrungenen Erdgeschoss. Die anderen Teilnehmer kennen den nordhessischen Kurort offenbar, denn sie lachen. Später erzählt Krone, dass sie 35 Jahre am Frankfurter Flughafen gearbeitet habe, unter anderem in der First-Class-Lounge der Lufthansa. „Immer wieder haben mich Fluggäste gefragt, was sie sich in Frankfurt ansehen könnten, wenn sie mehrere Stunden Aufenthalt hatten“, sagt sie. „Natürlich habe ich auch die Paulskirche empfohlen, die Wiege unserer Demokratie. Aber wenn diese Fluggäste zurückgekommen sind und ich sie gefragt habe, wie es war, waren sie enttäuscht. Ich habe in all den Jahren keinen Einzigen erlebt, der sagte, die Paulskirche habe ihn berührt. Dieser Ort lässt die Menschen kalt.“

Auch Peter Feldmann ist die Paulskirche zu kalt. Er wünscht sich mehr Leben, will sie für verschiedene gesellschaftliche Gruppen öffnen, erklärt er seinen Zuhörern. „Ob das die Mieterbewegung ist, die Schülerbewegung oder unsere Seniorenbewegung, die haben alle hier ihren Platz“, Kunstpause, „noch nicht.“ Feldmann fährt fort: „Ich sage immer, die Stadt gehört den Menschen. Da kann es nicht sein, dass ausgerechnet das Symbol der Demokratie ausschließlich für Preisverleihungen und die sogenannte Stadtgesellschaft da ist. Sondern es ist wirklich für alle da. Indem wir das durchsetzen, machen wir die Frankfurter Paulskirche auch wieder zu einer Frankfurter Paulskirche, mit der Betonung auf Frankfurt.“ Die sogenannte Stadtgesellschaft, das sind für ihn jene einflussreichen Kreise, die sich gerne auf Empfängen treffen.

Pragmatisches Baudezernat

Dann geht es die Treppe hinauf in den Plenarsaal. Er strahlt sterile Nüchternheit aus. Ringsherum an den weiß gestrichenen Wänden des ovalen Raumes hängen die Flaggen der 16 Bundesländer, der Stadt Frankfurt und der Bundesrepublik. Sie sind vergilbt. „Dieser Fahnenschmuck ist von vorvorgestern“, bemängelt Feldmann. „Das könnte man mal neu machen. Ich finde, auch die Farbe ist nicht besonders frisch. Auch diese Reihenbestuhlung: Die ist komplett festgeschraubt, in den Stein rein. Wenn man hier mal was diskutieren wollte oder irgendwelche Gruppensituationen, das geht gar nicht.“ Er redet über ein Demokratiezentrum, das er neben der Paulskirche bauen will. Seine 30 Gäste sitzen in den festgeschraubten Stuhlreihen und hören ihm aufmerksam zu. Doch eines erfahren sie nicht: Was will Feldmann über die Innenausstattung hinaus an der Paulskirche verändern? Um die Rekonstruktionsfrage drückt er sich. Vielleicht liegt es daran, dass sich die schwarz-rot-grüne Magistratskoalition bereits festgelegt hat. CDU, SPD und Grüne wollen die Nachkriegs-Paulskirche erhalten und sie nur technisch erneuern. Aber was soll dann die breite, offene Debatte, die Feldmann in Frankfurt führen will?

Für die technische Sanierung der Paulskirche ist bislang nicht der Oberbürgermeister zuständig, sondern Jan Schneider. Der 38-Jährige ist Vorsitzender der Frankfurter CDU und leitet als Stadtrat das Baudezernat. Er ist Jurist und muss nun dafür sorgen, dass in der wachsenden Stadt Frankfurt genug Kindergärten und Schulen entstehen. Die anstehende Erneuerung der Paulskirche betrachtet er ähnlich pragmatisch. „Hätte man das Dach erneuern müssen, hätte sich die Frage einer Rekonstruktion womöglich gestellt“, sagt Schneider. „Doch inzwischen ist klar, dass der Zustand des Daches deutlich besser ist als befürchtet. Daher ist aus baulicher Sicht nicht zu erklären, warum wir den Zustand von 1848 wiederherstellen sollten.“ Zumal die heutige Paulskirche für die erfolgreiche Demokratie nach dem Nationalsozialismus stehe. „Ich wüsste nicht, weshalb man ein Gebäude rekonstruieren sollte, das an eine gescheiterte Demokratie erinnert.“

Gescheitert an der Machtlosigkeit

Gescheitert ist die Nationalversammlung an ihrer eigenen Machtlosigkeit. Im September 1848 lieferten sich die Abgeordneten in der Paulskirche erbitterte Redeschlachten. Es ging um die Annexion Schleswigs durch Dänemark und den erzwungenen Waffenstillstand von Malmö. Mit 257 zu 236 Stimmen hat das Parlament diese Kapitulation des Deutschen Bundes am 16. September akzeptiert. Zwei Tage später entlud sich der Zorn darüber auf Frankfurts Straßen. Radikale Demokraten wollten die Paulskirche stürmen, es kam zu blutigen Straßenschlachten. Zwei Abgeordnete der Nationalversammlung, Hans von Auerswald und Fürst Felix von Lichnowsky, wurden vor den Stadttoren von den Aufständischen ermordet. Das Militär konnte den Septemberaufstand niederschlagen, die reaktionären Kräfte wurden dadurch gestärkt.

Am 30. Mai 1849 tagte das erste deutsche Parlament zum letzten Mal in der Paulskirche. Es flüchtete nach Stuttgart und wurde dort am 18. Juni gewaltsam aufgelöst. So blieb die in Frankfurt beschlossene Reichsverfassung zunächst nur Papier. Doch die ihr zugrunde liegenden Ideen lebten weiter. Der Geist der Paulskirche, ausgedrückt in den „Grundrechten des deutschen Volkes“, bildete die Basis der Weimarer Verfassung und des heutigen Grundgesetzes. „Gescheitert, grauenhaft und im eigentlichen Sinne des Wortes höllisch gescheitert sind diejenigen, die sich diesen Grundrechten in den Weg gestellt und die Ideen von 1848 unterdrückt haben“, schreibt der Zeit-Journalist Benedikt Erenz, „das wilhelminische Kaiserreich und das NS-Regime.“

In der „Neuen Altstadt“

Erenz hat im Oktober 2017 ein klug argumentierendes Plädoyer für die Paulskirche veröffentlicht. Ihm geht es um eine behutsame architektonische Rückbesinnung. Und er betont die nationale Verantwortung für die Zukunft des Nationaldenkmals. Den Frank­furtern allein, so der Tenor des Textes, sollte man die Paulskirche nicht überlassen. Erenz beendet seinen Artikel mit konkreten Forderungen für einen Umbau: „Im Inneren sollte endlich wieder der parlamentarische Raum erfahrbar werden. Dazu sollten vor allem die Emporen, in moderner Form, in den Saal zurückkehren. Denn hier saß das Volk. Hier saßen wir, die Bürgerinnen und Bürger, erstmals in unserer Geschichte als Souverän im deutschen Haus.“

Diese Sätze zitiert Mathias Mund begeistert. Der glatzköpfige Mann mit listig blitzenden Augen ist Fraktionsvorsitzender der Bürger für Frankfurt (BFF). Die Mitglieder dieser konservativen Wählervereinigung haben sich bereits erfolgreich für den Wiederaufbau mittelalterlicher Fachwerkhäuser am Römerberg eingesetzt. „Neue Altstadt“ wird dieses Viertel nun genannt. Jetzt kämpfen sie für die „Neue Paulskirche“ – oder die alte, wie man es eben sieht. Einige Tage, bevor der Oberbürgermeister durch den Saal führt, steht Mund an der Seite und blickt auf die leeren schwarzen Stuhlreihen vor dem steinernen Rednerpult auf dem steinernen Podest. „Mein Verständnis von Demokratie repräsentiert dieser Raum nicht“, sagt er. „Hier treffen sich die Eliten und blicken aufs Volk hinab. In der Paulskirche von 1848 war es genau andersherum.“ Von den Zuschaueremporen aus hätten Frauen den Herren Abgeordneten zugerufen, wie sie abstimmen sollten. Selbst wählen oder gar gewählt werden durften sie damals noch nicht.

Festgefahrene Stadtpolitik

Den symbolträchtigen baulichen Zustand der Vorkriegs-Paulskirche wollen Mund und seine Mitstreiter wiederherstellen. „Es muss keine originalgetreue Rekonstruktion sein. Es geht uns nicht darum, dass jedes Ornament und jedes Detail nachempfunden wird. Aber die Säulen und die Emporen sind für die Pauls­kirche von zentraler Bedeutung. Sie verkörpern das historische Plenum.“ In der Stadtverordnetenversammlung haben die BFF einen Architektenwettbewerb beantragt, der auch für „moderne Neuinterpretation“ offen sein soll. Aber es ist äußerst unwahrscheinlich, dass ihr Antrag eine Mehrheit findet.

Wenn die Idee einer Neugestaltung der Paulskirche sich je durchsetzen sollte, dann wird dies nur durch Druck von außen geschehen. Die Stadtpolitik selbst ist in dieser Frage zu festgefahren. Aber wer weiß, vielleicht kommt der Druck schneller als gedacht. Und vielleicht wird es ein äußerst sanfter, verbunden mit einem Geldsegen, dem sich Frankfurt schwer entziehen kann.

Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat das Zeit-Plädoyer gelesen. Im März antwortete er mit einem Gastbeitrag: „2023 jähren sich die demokratische Revolution und die Nationalversammlung zum 175. Mal. Warum hat Deutschland nicht den Ehrgeiz, die Paulskirche bis dahin zu einer modernen Erinnerungsstätte für die Demokratie zu machen? Ein authentischer Ort, der an Revolution, Parlamentarismus und Grundrechte nicht nur museal erinnert, sondern zu einem Erlebnisort wird, der Wissen, Bildung und Debatte verbindet? Eigentümerin der Paulskirche ist die Stadt Frankfurt. Aber so wie dort 1848 für ganz Deutschland Geschichte geschrieben wurde, so ist heute die Zukunft der Paulskirche auch eine Aufgabe, mit der wir Frankfurt nicht ganz allein lassen sollten.“

Unterstützung aus dem Kanzleramt

Zuvor war Anfang des Jahres Oberbürgermeister Feldmann bei Steinmeier in Berlin. Von diesem Treffen unter Genossen erzählt Feldmann seinen Zuhörern während der Führung. „Also, ich war meinen Lebtag noch nicht im Schloss Bellevue“, beginnt er die Anekdote. Das Gespräch mit dem Bundespräsidenten sei ganz gut verlaufen. „Irgendwann kam dann die Frage: Was wird’s denn kosten, Peter?“ – „Na ja, es wird schon ein zweistelliger Millionenbetrag“, habe er vorsichtig geantwortet, sagt Feldmann. Steinmeier habe daraufhin etwas irritiert geguckt, doch dann sei das Gespräch freundlich und nett weitergegangen. Auf dem Weg nach draußen sei ihm ein Staatssekretär hinterhergerannt. „Wir verstehen zwar, dass ihr bescheiden seid. Aber die Summe macht auch was“, habe der gesagt. Erst da habe Feldmann verstanden, dass dem Bundespräsidenten das Pauls­kirchen-Projekt nicht zu teuer, sondern zu billig erschien.

Steinmeier selbst kann zwar nicht entscheiden, wie viele Millionen der Bund übernehmen wird. Das ist Sache des Bundestags. Aber sein Wort hat Gewicht. Außerdem habe auch das Kanzleramt bereits Unterstützung signalisiert, sagt Feldmann.

In Frankfurt stößt das Berliner Interesse nicht nur auf Begeisterung. Baudezernent Schneider sagt: „Wenn der Bund bereit ist, Mittel zur Verfügung zu stellen, freue ich mich sehr. Nur sollten wir uns die Hoheit über die Paulskirche nicht aus der Hand nehmen lassen. Sie ist mit dem Dom das bedeutendste Bauwerk Frankfurts.“

Mehr Pathos für Frankfurt

Anderen Frankfurtern wie Brigitte Krone, ihrem Neffen Florian Schoelkens oder Mathias Mund, die von dem nüchternen Nachkriegsbau nicht viel halten, käme sanfter Druck aus Schloss Bellevue und Reichstag eher gelegen. Das in Frankfurt mit heiligem Ernst vertretene Argument, eine sich an das klassizistische Original anlehnende Neugestaltung „würde den unguten Eindruck erwecken, man wolle an die ganz alten Zeiten anknüpfen und den Zivilisationsbruch vergessen machen, der die Stadt und die Paulskirche in Trümmern aufgehen ließ“ – so die Frankfurter Allgemeine Zeitung –, scheint in der Hauptstadt bisher nicht zu verfangen.

Auch Kunstgeschichtsabsolvent Schoelkens geht darauf am Ende des Rundgangs ein. „Ich verstehe nicht, wie man in einer Stadt wie Frankfurt auf die Idee kommen kann, dass die Rekonstruktion einzelner Gebäude den Zweiten Weltkrieg unvergessen machen könnte. Da muss man doch nur einmal über die Zeil laufen“, sagt er. Seine Tante pflichtet ihm bei: „Frankfurt würde etwas mehr Pathos guttun.“

Dieser Text ist in der September-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

Jetzt Ausgabe kaufen

 

 

Anzeige