Pädagogik - Klimaschutz im Klassenzimmer

Fridays For Future oder moralistische Identitätspolitik: Egoistisch verfochtene Partikularinteressen untergraben das Gemeinwohl. Dieses gesellschaftliche Übel hat inzwischen auch auf die Schule abgefärbt. Statt einen Schutzraum zu bieten, wird sie zur Bühne für kleine Aktivisten.

Mobbing in der Schule hat zugenommen, jetzt auch mit politisch korrekter Begründung / dpa
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Autoreninfo

Rainer Werner unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er verfasste das Buch „Fluch des Erfolgs. Wie das Gymnasium zur ,Gesamtschule light‘ mutiert“.

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Wenn ein Klassenleiter mit seiner Klasse die Ziele des nächsten Wandertags besprechen möchte, sollte er sich auf eine hitzige Diskussion gefasst machen. Vorschläge, die in früheren Zeiten noch zogen – Schloss, Burg, Kloster –, stoßen heute eher auf Desinteresse: Diesen Angeboten fehlt der Eventcharakter. Immer häufiger trifft die Lehrkraft auch auf Schüler, die aus Überzeugung alles Mögliche ablehnen. „Meine Eltern haben gesagt, dass ich so etwas nicht darf“, lautet die Begründung. Das christliche Kloster könnte muslimische Schüler verletzen; der Klettergarten im Stadtwald stößt bei Schülern auf Ablehnung, die Bäume für beseelte Lebewesen halten und den einschlägigen Bestseller dazu gelesen haben; der Besuch des Zoologischen Gartens geht nicht, weil sich einige Schüler für PETA oder Vier Pfoten engagieren. Auch die Suche nach dem passenden Restaurant zur Mittagsstärkung gleicht einem Hindernislauf. Es muss vegetarische, vegane, laktosefreie Kost anbieten, die zudem auf naturidentische Aromastoffe verzichtet. In Ernährungsfragen sind manche Schüler so versiert, als hätten sie bei Foodwatch ein Praktikum absolviert.

Mobbing gegen Schwache und Andersdenkende

Auch der Umgang der Schüler untereinander ist rauer geworden. Mobbing hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Der PISA-Studie von 2017 zufolge war in Deutschland jeder sechste Schüler im Alter von 15 Jahren davon betroffen. Jeder Dritte gab damals zu Protokoll, in der Schule Angst vor Gewalt, Ausgrenzung und Stigmatisierung zu haben. Wenn Schüler sich in der Schule nicht mehr angstfrei bewegen können, werden sie am Lernen gehindert. Die seelischen Wunden tragen an der Verschlechterung der Schülerleistungen, die die Schulen in den letzten Jahren zu verzeichnen hatten, sicher eine Mitschuld.

Das Profil der Schüler, die andere mobben, ist von der Psychologie bestens erforscht. Den meisten Tätern geht es darum, Macht über andere auszuüben. Sie genießen es, Mitschüler zu kontrollieren und zu unterwerfen. Wenn andere vor ihnen Angst haben, fühlen sie sich stärker. Neben diesen Tätern aus Schwäche gibt es aber auch noch solche, die anderen ihre Meinung aufzwingen wollen, weil sie diese für die einzig richtige halten. Seit die Klimapolitik quasi-religiöse Züge angenommen hat, fühlen sich schon Heranwachsende im Recht, Mitschüler, denen sie ökologische Gleichgültigkeit unterstellen, zu drangsalieren.

Ausgrenzung hat viele Gründe

Der Psychologe Gordon Neufeld hat den Unterschied zwischen der Sphäre des Elternhauses und der Schule treffend charakterisiert: „Eltern können Kindern das geben, was sie einander nicht geben können: die Freiheit, sie selbst zu sein, im Kontext liebevoller Akzeptanz.“ Wenn Kinder in die Schule kommen, treten sie aus dieser Sphäre des vertrauensvollen Aufgehoben-Seins heraus und werden Teil einer Großgruppe von bis zu 30 Kindern, in der sie ihren Platz finden müssen.

Wie in jeder Gruppe geht es bei den Binnenkämpfen in einer Schulklasse um Rangfolge, Akzeptanz, Anführer-Rollen, Freund- und Feindschaften. Oft herrscht psychischer „Krieg“. Ausgrenzungen verlaufen entlang jugendtypischer Kriterien: Unsportlichkeit, Hochbegabung („Streber“), Kleidungs- und Musikstil, soziale oder ethnische Herkunft. Kinder und Jugendliche finden immer Gründe, andere zu stigmatisieren, sie als nicht zur Gruppe gehörig zu brandmarken. Diese Mechanismen zu erkennen und ihnen – soweit es geht – entgegenzuwirken, ist eine der wichtigsten Aufgaben der Lehrkräfte. Sich ihr entziehen zu wollen, wäre töricht, weil man dann riskierte, dass einem die Klasse gänzlich entgleitet. Lernen ist nur in einer angstfreien Atmosphäre möglich. Deshalb ist die Arbeit am friedlichen Miteinander in der Schulklasse auch ein Beitrag zu erfolgreichem Lernen.

Als Lehrer gewinnt man bei Diskussionen über banale Fragen wie die Gestaltung eines Hoffestes oder eines Wanderausflugs den Eindruck, Schüler seien keine unbeschwerten Jugendlichen mehr, die – den Zwängen des Erwachsenseins enthoben – die goldene Jugendzeit genießen. In ihrer altklugen Art wirken sie wie die Verfechter der Anliegen Erwachsener. In der Schule bilden sich all die Sonderinteressen ab, die unsere Gesellschaft fragmentieren. Die „distinktiven Lebensstile“, die Andreas Reckwitz in seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ beschreibt, werden schon von Heranwachsenden virtuos zur Schau gestellt. Eine solche Form der Selbstdarstellung tut der Schule nicht gut, weil sie ausgrenzend wirkt und dadurch den Gemeinsinn einer Schulklasse untergräbt. Ihr Zusammenhalt muss leiden, wenn sich Schüler nur schwer mit Mitschülern vertragen, denen sie unterstellen, sich nicht um das Weltklima zu sorgen, Plastikberge in den Meeren nicht schrecklich zu finden oder Eltern zu haben, die ihren Golf-Diesel unverdrossen weiterfahren.

FFF als Motor der Entsolidarisierung

Auch die Bewegung Fridays for Future hat die Schülerschaft gespalten. An den Freitagsstreiks nahmen fast ausschließlich Gymnasiasten aus bildungsbürgerlichen Familien teil. Dass ihnen viele Lehrer mit Wohlwollen begegneten und die Registrierung der Fehlzeiten sehr locker handhabten, hat viele Schüler gegen die Bevorzugung der FFF-Aktivisten aufgebracht. Sie konnten nicht nachvollziehen, weshalb ein Unterrichtsversäumnis aus politischen Gründen zu Milde führt, während Fehlzeiten aus persönlichen Gründen streng nach Gesetz geahndet werden. Es ist in der Tat problematisch, wenn die Schulgesetze der Länder, die ein Streikrecht für Schüler nicht vorsehen, durch einen Schülerstreik unterlaufen werden können, weil er das Wohlwollen der Politik genießt. Dass die damalige Justizministerin Katarina Barley (SPD) den FFF-Streik „großartig“ fand, mutet fahrlässig an. Was wäre, wenn irgendwann andere politische Akteure, die dem politischen Mainstream nicht genehm sind, die Bühne betreten und die Schüler zum Streik aufrufen? Braucht die Schule bald eine Ethik-Kommission, die die Schülerstreiks nach „pädagogisch wertvoll“ und „verwerflich“ sortiert? Die Politisierung der Schule hat ihr, wie die deutsche Geschichte lehrt, nie gutgetan. Wir sollten den Anfängen wehren.

Im Regionalfernsehen können Jugendliche live erleben, wie egoistische Interessen verfochten werden. Wenn im Kiez einer Großstadt auf einer Brachfläche ein Neubau errichtet werden soll, melden sich „besorgte“ Bürger zu Wort, die beredt und sachkundig Auskunft darüber geben, bei dem Areal handele es sich um ein schützenswertes Biotop, das auf keinen Fall bebaut werden dürfe. Hier lebe die Zauneidechse und brüte das Braunkehlchen, die beide auf der Roten Liste der bedrohten Arten stehen. Dass das Grundstück jahrelang als illegale Mülldeponie herhalten musste, hat die Naturfreunde freilich nicht gestört. Keiner hat Hand angelegt, um Kühlschränke und Matratzen aus dem „Bio-Habitat“ zu entfernen. Das Motiv ihrer Besorgnis ist leicht zu durchschauen. Nach dem Sankt-Florian-Prinzip wehren sie sich gegen Neubauten vor ihrer Haustür. Selbst in einem schicken Kiez wohnend, missgönnen sie anderen Bewohnern dasselbe Privileg. Für Schüler ist dies ein lebendiger Anschauungsunterricht in Egoismus.

Kampfzone für Gruppenidentitäten

An vielen Fronten vertreten Bürgerinitiativen solche Anliegen. Um ihren egoistischen Charakter zu kaschieren, werden sie moralisch, gerne auch ökologisch, aufgeladen. Politik ist zu einer Kampfzone für Gruppenidentitäten und Sonderinteressen geworden, die das Gemeinwohl untergraben. Dasselbe bewirkt eine Identitätspolitik, die sich an ethnischer, kultureller, religiöser, geschlechtlicher Diversität festmacht. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sieht in dieser Tendenz eine Gefahr für den Zusammenhalt der Gesellschaft, ja für die Demokratie. In seinem Buch „Identität“ vertritt er die These, dass die Identitätspolitik, die vom linksliberalen Mainstream in den westlichen Demokratien verfolgt wird, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zersetze. Jede marginalisierte Gruppe dränge sich mit ihrer Opferidentität so in den Fokus, dass der gesellschaftliche Konsens bedroht sei. Gleichheit, die alte Losung aus der Französischen Revolution, sei heute Gleichstellung; Freiheit trete fast immer als Freiheit zur Besonderheit auf. Demokratie verlange aber die Zustimmung zum Allgemeinen, zum großen Ganzen. Als Lehrer fühlt man sich wie der Hase im Grimm‘schen Märchen: auf verlorene Posten. Wenn man glaubt, den Klassenzusammenhalt wieder einmal gefestigt zu haben, kommt der nächste Gruppenegoismus um die Ecke und reißt das solidarische Miteinander wieder ein. Wenn Schüler sich dem Austausch von Argumenten verweigern, weil sie in ihrer politischen Identität gefangen sind, stößt der Auftrag der Schule, den mündigen Bürger zu erziehen, an seine Grenzen.

In einem Zeitschriftenbeitrag schlägt der Augsburger Pädagogikwissenschaftler Klaus Zierer vor, den „Unterricht (…) mit mindestens 25 Prozent an Schlüsselproblemen unserer Zeit“ auszurichten. Darunter versteht er „soziale Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit aus ökologischer, ökonomischer und sozialer Sicht, Demokratisierung sowie Krieg und Frieden.“ Aus Erfahrung weiß ich, wie politische Vorgaben dieser Art in konkretes Unterrichtsgeschehen übersetzt werden. Der unter dem Aktualitätszwang stehende Chemielehrer wird dann nicht mehr die Grundlagen der Chemie vermitteln, sondern den Schülern erklären, wie ihr persönlicher CO2-Fußabdruck das Weltklima schädigt. Unterricht wird dann zur Bühne für politischen Aktivismus, der die Schüler spaltet und entzweit. Der emeritierte Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz kritisierte solche politiknahen Unterrichtsinhalte, die sich vom Fundament der Wissenschaft entfernen, als „Schulungskurse für Political Correctness“. Was der heutigen Schule nottut, wäre die Rückbesinnung auf ihre Kernkompetenz. Am Gymnasium ist das seit jeher die Einübung in wissenschaftliches Denken. Das wäre die beste Gewähr dafür, dass die Schüler Verführern aus der politischen Arena mit wachem Verstand begegnen könnten.

Vereinzelung durch eine Unterrichtsmethode

Zu allem Überdruss hat seit einigen Jahren ein didaktisches Prinzip an Boden gewonnen, das den Zusammenhalt der Schüler von innen her untergräbt: das individualisierte Lernen. In der Gemeinschaftsschule ist die Aufteilung der Schüler nach ihren Begabungen aufgehoben. Da in den heterogenen Klassen ein vernünftiger Klassenunterricht nicht mehr möglich ist, soll das „individualisierte Lernen“ das Unterrichtsgespräch ersetzen. Jeder Schüler arbeitet einen auf sein Leistungsvermögen abgestimmten Lernplan ab. Dabei hat das Verstehen aus eigener Kraft Vorrang vor der Erläuterung durch den Lehrer. Da dieses Lernprinzip vor allem den guten Schülern nützt, gehen Eltern leistungsschwächerer Schüler damit kritisch ins Gericht. In Internetforen beklagen sie ein „Rattenrennen“ um die ersten Plätze, die zu einer neuen Form von Stigmatisierung – einige sprechen von „perfider Selektion“ – geführt habe. Verstörend ist, dass ausgerechnet die Parteien, denen das Menschliche in der Schule und das soziale Wohlergehen der Schüler so sehr am Herzen liegt, einer Pädagogik das Wort reden, die die Vereinzelung in der Klasse und die Separierung der Schüler in „gut“ und „schlecht“ fördert. Die schülerzugewandten Lernmethoden entpersonalisieren den Unterricht und berauben ihn seiner wichtigsten Produktivkraft: der affektiven Lehrer-Schüler-Beziehung.

Die Schwächung, ja Auflösung des Klassenverbandes durch das individuelle Lernen kommt einem Kulturbruch gleich. Die Klasse ist für die Schüler nicht nur Lernort, sie ist auch Ort der sozialen Auseinandersetzung, der Selbstbehauptung und Rollenerprobung. Und sie ist Schutzraum vor den Zumutungen rabiater Lehrer, schulischer Dramen oder persönlicher Krisen. Welchem Erwachsenen hat sich „seine“ Schulklasse nicht ins Gedächtnis eingegraben? Wem ist „seine“ Klasse nicht als der Ort vor Augen, in dem man Jahre seines jungen Lebens an der Seite von Freunden und Kameraden zugebracht hat? Diesen Ort preiszugeben, um eine zur heiligen Kuh erklärte Schulform – die Gemeinschaftsschule – verwirklichen zu können, ist eine pädagogische Ursünde. Schlimmer noch: Es ist ein unsozialer Akt, weil er den Kindern einen wichtigen Schonraum raubt und sie als Einzelwesen auf sich selbst zurückwirft. Wir sollten die Klasse als Organisationsform der Schüler unbedingt verteidigen. Der darin eingeübte Gemeinsinn ist unverzichtbar für das soziale Miteinander, auf das unsere Demokratie angewiesen ist.

 

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