Nürnberger Prozesse - „Death by hanging“

Bei den Nürnberger Prozessen waren die Hauptkriegsverbrecher des NS-Regimes angeklagt. Erstmals wurden dort die Repräsentanten einer Diktatur zur Rechenschaft gezogen. Vor 75 Jahren, am 16. Oktober 1946, wurden in Nürnberg die Todesurteile vollstreckt.

Die Angeklagten vor dem internationalen Militärgericht hören die Verlesung der Anklageschrift bei der Eröffnung des Nürnberger Kriegsverbrecher-Hauptprozesses am 20. November 1945 / dpa
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Ulrike Moser ist Historikerin und leitet das Ressort Salon bei Cicero.

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Es ist kurz vor ein Uhr morgens, als die Riegel der Zellentür des früheren Außenministers Joachim von Ribbentrop zurückgeschoben werden. Ein Oberst verliest das Urteil. Dann werden Ribbentrop die Hände auf den Rücken gebunden. Die vergangenen Tage waren erfüllt vom Hämmern und Sägen, das durch den Gefängnisbau zu hören war. In der Turnhalle auf dem Gelände des Nürnberger Gefängnisses haben Häftlinge drei Galgen errichtet, nun wird Ribbentrop von zwei Militärpolizisten die 13 Stufen zu der Hinrichtungsstätte hinaufgeführt. Sie stellen ihn auf die Falltür und binden seine Füße zusammen. Als Ribbentrop gefragt wird, ob er noch etwas sagen möchte, antwortet dieser: „Gott schütze Deutschland, Gott sei meiner Seele gnädig! Mein letzter Wunsch ist, dass Deutschland seine Einheit wiederfindet, dass eine Verständigung zwischen Ost und West zustande kommt und Frieden in der Welt regieren möge.“ Das sagt der Mann, der den perfiden Hitler-Stalin-Pakt ausgehandelt hat, der Hitler den Angriff auf Polen ermöglichte.

Es ist der 16. Oktober 1946, der Tag, als der Prozess des Internationalen Militärtribunals gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher, die Führungselite des NS-Staates, mit der Hinrichtung der zum Tode verurteilten Angeklagten endgültig endet. Es war der erste Versuch, die Repräsentanten einer Diktatur persönlich zur Rechenschaft zu ziehen.

Bereits auf der Konferenz in Teheran im November 1943 beraten US-Präsident Franklin D. Roosevelt, der britische Premierminister Winston Churchill und der sowjetische Staatschef Josef Stalin darüber, wie deutsche Kriegsverbrechen bestraft werden sollen. Noch während die Nationalsozialisten über weite Teile Europas herrschen, beginnen die Alliierten, Dokumente über deutsche Kriegsverbrechen zu sammeln. Seit Kriegsende fahnden sie nach Kriegsverbrechern. Am 8. August 1945 unterzeichnen 23 Staaten ein Abkommen, das die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofes vorsieht. Vier Anklagepunkte sind vorgesehen: Verschwörung gegen den Frieden, Vorbereitung und Führung eines Angriffskriegs, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit. Zum Ort der Verhandlung wird das im Krieg schwer beschädigte Nürnberg bestimmt. Ein symbolischer Ort: Hier hatten die Nationalsozialisten ihre Rassegesetze verabschiedet, hier hatte die NSDAP ihre pompösen Reichsparteitage inszeniert.

Erhöhte Sicherheitsvorkehrungen und ein rigides Überwachungssystem

Schon seit Anfang August werden die Angeklagten aus den von den Amerikanern „Ashcan“ und den Briten „Dustbin“ (beides bedeutet „Mülleimer“) bezeichneten „Prominentenlagern“ Mondorf-les-Bains in Luxemburg und Schloss Kransberg bei Frankfurt am Main grüppchenweise in das Nürnberger Untersuchungsgefängnis gebracht. Der Angeklagte Martin Bormann, Leiter der Parteikanzlei und Sekretär Hitlers, ist verschollen. Rudolf Heß, einstiger „Stellvertreter des Führers“, trifft als letzter ein, er wird aus London eingeflogen. Die zurückliegenden Jahre hat er sich in britischer Gefangenschaft befunden.

Die Gefangenen erwarteten erhöhte Sicherheitsvorkehrungen und ein rigides Überwachungssystem, befürchteten doch die Amerikaner, dass der eine oder andere Häftling noch kurz vor Beginn des Prozesses Selbstmord begehen könnte. Nicht zu Unrecht: Robert Ley, einst Leiter der Deutschen Arbeitsfront, entzieht sich dem Gerichtsverfahren durch Suizid. Es gelingt ihm, sich mit dem abgerissenen Saum eines Handtuchs in seiner Nürnberger Zelle zu strangulieren.

Am 20. November 1945, fünf Monate nach Kriegsende, beginnt im Gerichtssaal 600 des Nürnberger Justizpalastes die mit Spannung erwartete erste Sitzung des Internationalen Militärtribunals. „Man mag sich beim Anblick dieser armseligen Gestalten, wie sie hier als Gefangene vor uns sind, kaum vorstellen, mit welcher Macht sie als Nazi-Führer einst einen großen Teil der Welt beherrscht und fast die ganze Welt in Schrecken gehalten haben.“ Mit diesen Worten eröffnet der amerikanische Chefankläger Robert Jackson das Verfahren.

Alle erklären sich für nicht schuldig

Angeklagt sind ursprünglich 24 Personen. Robert Ley ist tot, Martin Bormann verschollen, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach ist senil und nicht mehr verhandlungsfähig. So müssen sich schließlich 21 Angeklagte persönlich für ihre Taten verantworten. Unter ihnen Reichsmarschall Hermann Göring, unter Hitler Wirtschaftsminister und Luftwaffenchef, Julius Streicher, der als Herausgeber des Propagandablatts „Stürmer" die Bevölkerung gegen Juden und Oppositionelle aufgehetzt hatte. Ebenso angeklagt sind Joachim von Ribbentrop sowie Albert Speer, Hitlers wichtigster Architekt, der als Rüstungsminister die Waffenproduktion auf Kosten von Millionen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern massiv gesteigert hatte.

Während es Göring zunächst genießt, wieder im Rampenlicht zu stehen, zeigt Heß eine provozierende Gleichgültigkeit, indem er vor laufenden Kameras Groschenromane wie „Loisl, die Geschichte eines Mädchens“ liest. Alle aber erklären sich „im Sinne der Anklage für nicht schuldig“. Die an sie gerichtete Mahnung von Jackson, sich der ihnen gewährten Chance würdig zu erweisen, dass die Siegermächte nicht Rache üben, sondern ihre Feinde dem Richterspruch des Gesetzes übergeben, verhallt.

Das Verfahren wird weltweit verfolgt, wegen der Prominenz der Angeklagten und dem überwältigenden Ausmaß der ihnen vorgeworfenen Verbrechen. Das Pressekorps umfasst zeitweise 250 Personen aus 20 Nationen. Unter den Beobachtern befinden sich so prominente Namen wie Ernest Hemingway, John Steinbeck, Alfred Döblin, Erich Kästner, Willy Brandt und der spätere DDR-Geheimdienstchef Markus Wolf. Sie alle sorgen dafür, dass die Berichte aus dem Gerichtssaal um die Welt gehen. Und die Bilder: der sich demonstrativ gelangweilt gebende Göring neben dem nervösen Hess auf der dicht gedrängten Anklagebank. Davor die Verteidiger, dahinter stehen die uniformierten Wachmannschaften mit ihren weißen Helmen. Gegenüber der Richtertisch mit den acht Senatsmitgliedern, jeweils zwei aus den USA und der Sowjetunion, aus Frankreich und Großbritannien.

Zwar steht die Ermordung der europäischen Juden nicht im Zentrum des Prozesses, nimmt aber dennoch großen Raum ein. Auf Grundlage ihrer vorläufigen Ermittlungen kommen die Staatsanwälte zu dem erschütternden Befund, dass „nur Reste der jüdischen Bevölkerung Europas“ den nationalsozialistischen Terror überlebt haben.

Verantwortung abschieben

Ab Mitte Februar 1946 legten die sowjetischen Ankläger zahlreiche schockierender Dokumente vor, darunter Berichte über die Exhumierungen in Babi Yar und über die die Konzentrations- und Vernichtungslager von Majdanek und Auschwitz. Anders als die anderen Anklageteams laden die Sowjets auch drei Holocaust-Überlebende vor Gericht. Es ist vor allem der Bericht des Polen Samuel Rajzman, durch den das Gericht erstmals von den Funktionen und Abläufen in den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“ erfährt, ein Tarnname für die systematische Ermordung aller Juden und Roma des Generalgouvernements im besetzten Polen in den drei Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Wegen seiner unterschiedlichen Tätigkeiten im Lager Treblinka schätzt der Zeuge, dort seien täglich zwischen Zehn- und Zwölftausend Menschen vergast worden. (Insgesamt betrug die Zahl der Opfer, die dort zwischen Juli 1942 und August 1943 ermordet wurden, an die 900.000 Personen.)

Im Laufe der Monate fügten sich die in Nürnberg präsentierten Beweismittel, zahllose Dokumente und Zeugenaussagen, zu einem entsetzlichen Bild. Es wird deutlich, dass der nationalsozialistische Massenmord an den europäischen Juden ein Menschheitsverbrechen von einzigartiger Größe war.

Wenige Wochen vor der Urteilsverkündung erhalten die Angeklagten am 31. August 1946 die Gelegenheit zu einer letzten Erklärung. Wer gehofft hatte, die Gerichtsverhandlung hätte einen Läuterungsprozess bewirkt, Einsicht in die eigene Schuld, Reue, vielleicht Scham, wird eines besseren belehrt. Obwohl jeder einzelne Angeklagte durch Unmengen von Materialien seiner Mitwisserschaft und Mittäterschaft an schwersten Verbrechen überführt ist, erklären sich ausnahmslos alle für unschuldig. Die meisten versuchen, die Verantwortung abzuschieben, flüchten sich wie Göring, der sich als erster erklärt, auf die himmelschreiende Ausrede, sie seien verführte und benutzte Opfer von Hitler und Himmler gewesen. Doch die Richter bleiben auch unbeeindruckt, als Göring versicherte, er habe „die furchtbaren Massenmorde aufs schärfste“ verurteilt. Man kennt inzwischen seine am 31. Juli 1941 erteilte Ermächtigung an Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, die „Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflussgebiet in Europa“ zu organisieren. Julius Streicher, der als Herausgeber der antisemitischen Zeitung „Der Stürmer“ gegen Juden gehetzt hatte, versucht gar, von einem Missverständnis zu sprechen: „Wenn in einigen Artikeln meines Wochenblattes ‚Der Stürmer‘ von einer Vernichtung oder Ausrottung des Judentums gesprochen wurde, so waren dies scharfe Gegenäußerungen gegen provozierende Auslassungen jüdischer Schriftsteller.“

Keine pauschalen Schuldurteile

Tatsächlich kann man in Nürnberg bereits alle Phrasen hören, die in den Nachkriegsjahren den Deutschen der Entschuldung und als Selbstentlastung dienen: die Dämonisierung von Hitler und Himmler, den beiden mächtigsten Parteiführern, der „tragische deutsche Idealismus“, die „missbrauchte soldatische Treue“, die „unpolitische Beamtenpflicht“.

Ende August 1946 ziehen sich die Richter der vier Alliierten zur Urteilsberatung zurück. Fast zwei Monate benötigen sie, um sich auf die Urteile zu einigen. Streit gibt es etwa über die Art der Hinrichtung. Erschießen oder erhängen? Schließlich einigen sich die Richter auf Erhängen. Nach einem erschöpfenden Verhandlungsmarathon von insgesamt 218 Verhandlungstagen, an denen mehr als 5.000 Beweisdokumente vorgelegt und 240 Zeugen gehört wurden waren, geben die Richter am 30. September und 1. Oktober 1946 das Urteil bekannt. Die Spannung ist gewaltig, die Pressetribüne vollbesetzt. Hermann Göring wird als erster aufgerufen: „Diese Schuld ist einmalig in ihrer Ungeheuerlichkeit. Für diesen Mann lässt sich in dem ganzen Prozessstoff keine Entschuldigung finden.“ Der Gerichtshof spricht den Angeklagten Göring nach allen vier Punkten der Anklageschrift schuldig. Das Urteil: „Death by hanging“, Tod durch den Strang. Insgesamt werden zwölf Angeklagte zum Tode verurteilt, darunter, neben Göring und Ribbentrop, Wehrmachtschef Wilhelm Keitel, Hans Frank, Hitlers Statthalter in Polen, und in Abwesenheit Bormann. Drei Angeklagte, unter ihnen Heß, werden zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Die anderen erhalten befristete Freiheitsstrafen, abzusitzen im Gefängnis Berlin-Spandau. Bei Speer sind es 20 Jahre. Drei Angeklagte werden freigesprochen. Das Gericht fällte keine pauschalen Schuldurteile. Die Angeklagten erhielten, was sie ihren Opfern versagten, ein rechtsstaatliches Verfahren.

Nach dem Urteilsspruch übernimmt der Alliierte Kontrollrat die Häftlinge in seine Verantwortung. Einige der Todeskandidaten stellen Gnadengesuche, die von den Alliierten abgelehnt werden. Hermann Göring beantragt, militärisch ehrenvoll vor einem Erschießungskommando zu sterben, was ebenfalls abgelehnt wird. Obwohl während des gesamten Prozesses vor jeder Zelle Tag und Nacht ein Posten gestanden hat, gelingt es Göring, eine Kapsel mit Zyankali in seine Zelle zu schmuggeln. Er zerbeißt die Giftkapsel am Nachmittag des 15. Oktober und stirbt wenige Stunden vor dem Hinrichtungstermin.

Ribbentrop, der als erster unter dem Galgen steht, wird eine schwarze Kapuze über den Kopf und ein Strick um den Hals gelegt. Anwesend sind je ein amerikanischer, britischer, französischer und sowjetischer General. Acht Journalisten und einige Ärzte. Das deutsche Volk repräsentieren symbolisch der bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner und der Nürnberger Oberstaatsanwalt Meistner.

Die Falltür ist zu klein

Der Henker, der den Mechanismus der Falltür auslöst, ist der texanische Master-Sergeant John C. Woods. Obwohl er bereits weit über 300 Hinrichtungen durchgeführt hat, gibt es bei der Hinrichtung Ribbentrops und weiterer Todeskandidaten mehrfach Probleme. Die Falltür ist zu klein. Mehrer Verurteilte schlagen mit dem Kopf auf den Rand der Luke und verletzen sich schwer. Die Fotos, die später gemacht werden, zeigen blutige Hingerichtete. Zudem ist die Fallhöhe zu gering berechnet worden. Das Genick der Fallenden bricht nicht, so dass sie durch den Strick langsam erwürgt werden. Bei Ribbentrop dauert der Todeskampf 15 Minuten. Zu lange, um auf die nächste Hinrichtung zu warten. Deshalb wird bereits Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, zum zweiten Galgen geführt. Er ruft „Alles für Deutschland“, bevor sich die Falltür öffnet. Julius Streicher, der vierte Todeskandidat, verliert die Nerven und schreit immer wieder „Heil Hitler“. Alfred Rosenberg, Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, stirbt stumm, als einziger hat er geistlichen Beistand abgelehnt.

Am Morgen des 17. Juni fahren Lastwagen der US-Armee vor dem Krematorium des Münchner Ostfriedhofs vor. In den Särgen, die sie abliefern, liegen angeblich gefallene amerikanische Soldaten. Tatsächlich sind es die Leichen der Hingerichteten, die verbrannt werden sollen. Ihre Asche wird anschließend an einer geheim gehaltenen Stelle in einem Nebenfluss der Isar verstreut. Unter allen Umständen soll vermieden werden, dass eine Wallfahrtsstätte für Nazis entsteht.

Der Prozess vor dem Internationalen Militärtribunal, das nur dem Namen nach ein Militärgericht war, stellte einen wichtigen Schritt bei der Weiterentwicklung des Kriegsvölkerrechts und des humanitären Völkerrechts dar. „Nürnberg ist eben nicht das Ende, sondern der Anfang des neuen Rechtsdenkens in der Welt“, kommentierte ein Schweizer Korrespondent die Urteilsverkündung. „Es muss sich in den Regierungen und in den Völkern erst neu verwurzeln, es muss wachsen und sich in die Tiefe und Breite entwickeln.“

Tatsächlich aber erhielten die bei dem Nürnberger Prozess geschaffenen Standards danach keine verpflichtende Verbindlichkeit. Zudem weigerten sich die Großmächte, das Völkerstrafrecht bei eigenen Menschenrechtsverletzungen anzuwenden. Es dauerte mehr als 50 Jahre, bis die internationale Gemeinschaft eine rechtliche Institution schuf, um Kriegsverbrechen und Völkermord zu verfolgen und zu bestrafen: 2002 nahm der Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag seine Arbeit auf. Zwar sind ihm inzwischen mehr als 120 Staatenbeigetreten, wichtige und einflussreiche Länder sind aber nicht darunter, Russland etwa, China, die USA, Indien oder Israel.

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