Nietzsche in China - Denn ein Übermensch kennt keine Trauer

Friedrich Nietzsche ist in China der Philosoph der Stunde, für liberale Freibeuter wie für orthodoxe Sachstandswahrer. Das Riesenreich sucht mit ihm Orientierung. Eindrücke einer Reise nach Schanghai

Erschienen in Ausgabe
Helmut Heit sieht Nietzsche als radikalen Denker der Unterschiede und des Unterscheidens / Fotos: Chi Yin Sim
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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China ist ein Baukran. Sind Häuser, 30 Stockwerke und höher, die es vor einem Jahr nicht gab, sind Autobahnen, die Viertel zerteilen, die es vor fünf Jahren nicht gab, sind Menschen, Menschen, Menschen. China, das ist auch das brummende, feixende, kollernde Lachen des Herrn Sun und das fragende Lächeln von Frau Zhou. Und Konfuzius, Laotse und Nietzsche, Apple und Benetton und C&A, auch sie sind China, auch über ihnen schwebt Klebreis in süßen Lüften. Zukunft wird gedacht, gemacht, gemocht. Vor den Taten kommen die Gedanken, vielleicht nirgends ist dieser Zusammenhang fester gefügt. Was also denkt China? Ich machte mich auf nach Schanghai – auf den Spuren jenes Einzelgängers, in dessen Denken das kleine, schwierige Wörtchen „ich“ so oft wie bei keinem Philosophen sonst erscheint. Mit Nietzsche lässt sich nichts kollektivieren.

Die 30-Millionen-Metropole erwirtschaftet mit 414 Milliarden Dollar jährlich mehr, als es ganz China im Jahr 1990 tat. China ist, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, die zweitstärkste Wirtschaftsmacht der Welt. Die Frage, woraus Morgen gemacht sein wird, lässt sich ohne die Frage, woraus China heute schon gemacht ist, nicht beantworten. Da ringen, wie seit 2500 Jahren, die Zeitgenossen Meister Kong und Lao Zi und also Konfuzianismus und Daoismus miteinander. 

„Halte treulich die Mitte!“

Auf den Philosophen mit dem Hammer, der von sich behauptete, Dynamit zu sein, und der den immoralischen Imperativ hinterließ, „Du solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden“, lässt sich kein Staat bauen. Auf Konfuzius gewiss. Deshalb wurde die Rückkehr zu Kong Zi, dem Denker der Ordnungen, in den Rang einer Staatsdoktrin erhoben. Unter Mao war er verfemt, schändeten die Roten Garden 1966 sein Wohnhaus und sein Grab, „nieder mit dem Alten Kong!“ Der seit 2012 amtierende Staatspräsident Xi Jinping hingegen würzt seine Reden derart oft mit Zitaten des Weisen, dass 2015 ein Buch erscheinen konnte mit den schönsten Gedanken von Konfuzius und anderen klassischen chinesischen Autoren aus Reden des Präsidenten, von diesem selbst erklärt. Der Philosoph der Mitte kehrt auf roten Teppichen zurück ins Reich der Mitte, verkündet: „Halte treulich die Mitte!“

Der Park am Hongkou-Stadion von Schanghai ist heute ein Spielplatz für die Kleinen, eine Bühne für die Großen, eine Ruhebank dem Rest. „Wie sie mir lang und müde wird, meine wunderliche Seele!“, ließ Nietzsche seinen seltsamen Propheten Zarathustra reden, doch die Müdigkeit derer, die hier auf Bänken am Wasser träumen, dösen, schnarchen, ist von anderer Art. China ist ein öffentlicher Raum, weil das Private kostet. Gerade im teuren Schanghai sind die Wohnungen klein und dicht belegt. So singt man im Freien, macht ein Nickerchen und treibt Sport, streitet und versöhnt sich im Freien. Drei Herren bilden eine Combo und spielen laut auf, Kinder paddeln im Bassin in winzigen blauen und roten Plastikbooten. Frauen haben im großen Teich nebenan größere Boote gemietet, ziehen ihre Runden und lachen hinüber zu den Bänken mit den Schlafenden. Von Lu Xun, dem „chinesischen Nietzsche“, gibt es keine Fotos mit lächelndem Gesicht.

Nietzsche als chinesischer Universalphilosoph 

Nach Lu Xun ist der Park benannt, in dessen Schatten gerade eine Zweihundertschaft reiferer Stadtbürger mit wachsender Inbrunst singt. Noten- und Textblätter werden herumgereicht, drei Akkordeonisten treiben die Melodie voran, ein Dirigent inmitten des Kreises ermuntert zu mehr Dynamik. Beim Crescendo fließen Tränen der Ergriffenheit. Sangen sie das alte Revolutionslied: „In China entsteht endlich ein Mao“? Könnte ein solches auch Nietzsches, des Ästheten, Hoffnung erfüllen auf „ein Vormittagslied, so sonnig, so leicht, so flügge, dass es die Grillen nicht verscheucht – dass es die Grillen vielmehr einlädt, mit zu singen, mit zu tanzen“? War der Vater von Frau Zhou dabei? Sie wohnt nebenan, ihr Vater kommt gerne hierher. Stumme Zeugen der Sangeslust sind Balzac, Goethe und Dante. Sie und ein Dutzend weiterer Statuen, leicht überlebensgroß, zeugen von der Neugier der Chinesen auf die Welt. 40 Schritte weiter links lädt das Shanghai Lu Xun Museum in sein gekühltes Inneres. Lu Xun starb am 19. Oktober 1936 in Schanghai. Ohne ihn könnte Herr Sun vermutlich nicht vom Nietzsche-Fieber reden, das China erfasst habe. Wieder einmal.

Bereits 1986 erreichten ein Sachbuch über „Nietzsche an der Jahrhundertwende“ fünf Auflagen innerhalb eines Jahres und ein Sammelband mit Nietzsches „Ausgewählten ästhetischen Schriften“ einen Absatz von 100 000 Exemplaren – in zwei Monaten. „Und also sprach Zarathustra“ wurde bisher 19-mal ins Chinesische übertragen, derzeit entstehen drei Übersetzungen von Nietzsches Gesammelten Werken parallel. „Wahnsinn“, nennt Herr Sun das, später, in seinem Arbeitszimmer an der Tongji-Universität. „Wahnsinn!“ Dann lacht er tief und kollernd, als polterten, holperten, stolperten in seiner Brust Giganten zu Tale, und greift zur Zigarette. Herr Sun, Zhouxing mit Vornamen, raucht fast so viel, wie Lu Xun es tat, der auf Fotos eine Zigarette in Händen hält, mal mit, mal ohne Spitze. Warum ist Nietzsche auf dem besten Weg, ein chinesischer Universalphilosoph des 21. Jahrhunderts zu werden? Drückt sich darin mehr aus als das traditionell große Interesse der Chinesen an deutscher Kultur? Goethe wurde, so die Übersetzerin Nora Bartels, nach dem Ende der Kaiserzeit zum „beliebtesten, meistgelesenen und meistübersetzten ausländischen Dichter in China“. Soll heute mit dem Einzelkämpfer und Systemzertrümmerer Nietzsche die Lunte gelegt werden an den Staatskommunismus? 

Der Königsberger Chinese

Friedrich Nietzsche hielt nicht viel von China. Er diffamierte Immanuel Kant als Königsberger Chinesen, der die „letzte Entkräftigung des Lebens“ betrieben habe. Eine „armselige Chineserei“ schalt er die Auffassung, der Mensch solle gut werden, altruistisch, ein Herdentier. Vielleicht werde Europa dereinst „Chinesen hereinholen: und diese würden die Denk- und Lebensweise mitbringen, welche sich für arbeitsame Ameisen schickt“, Ruhe, Betrachtsamkeit, „asiatische Dauerhaftigkeit“. Etwas Gutes sei an den Chinesen, fabulierte der Denker; sie seien „dauerfähiger als der Europäer“. Und „warum sollen wir nicht am Menschen zu Stande bringen, was die Chinesen am Baume zu machen verstehen – dass er auf der einen Seite Rosen, auf der anderen Birnen trägt?“ Der berühmt-berüchtigte nietzscheanische Züchtungsgedanke hat auch chinesische Abgründe. Andererseits gab Nietzsche den Chinesen eine Flammenschrift wider den dominierenden Konfuzianismus und dessen Ordnungslehre an die Hand. 

Damit wären wir bei Lu Xun, der 1909 bei seiner Rückkehr aus Japan Nietzsche mit in die Heimat brachte. Teils ins klassische, teils ins moderne Chinesisch hatte Lu Xun Teile des „Zarathustra“ übersetzt. Wenn Nietzsche Anpassung, Bescheidenheit, „Zufriedenheit in der Verkleinerung des Menschen – eine Art Stillstands-Niveau des Menschen“ mit dem Schlagwort „höheres Chinesentum“ zusammenfasst, gibt er ein Zerrbild des Konfuzianismus wieder, dem Lu Xun unter den Bedingungen des spätkaiserzeitlichen China nur zustimmen konnte. Lu Xun sah in Nietzsche einen Vorkämpfer für Freiheit und Individualismus, einen „Zerstörer der Fahrbahn“.

Unterwürfigkeit und Fügsamkeit 

Im blitzblank geputzten Museum ist zu lesen von Lu Xun, einem „treuen Sohn der chinesischen Nation“. Sein berühmtes, nietzscheanisch inspiriertes Prosagedicht „Wilde Gräser“ wird auf einer Leinwand visualisiert, „aus dem Schlamm des Lebens, unbeachtet, wie er am Boden liegt, wachsen nicht hohe Bäume, sondern wilde Gräser. Die Schuld daran trage ich.“ Nebenan zeigt ein Comicfilm den Dichter in den Kulissen seines Wirkens, gegenüber wird er in einer Figurengruppe kon­fuzianisiert: Lu Xun, dozierend, im Kreis der Schüler, die schweigend lauschen. Meister Kong, Kong Zi, gilt als „wohl der größte Lehrer der Menschheitsgeschichte“, der Konfuzianismus will „die Vater-Sohn-Beziehung auf das ganze Spektrum sozialer Beziehungen anwenden“ – erklärt Michael Schuman, Sinologe und China-Korrespondent des Time Magazine, in seinem Buch „Konfuzius“. Ob eine rein dozierende Pose dem Nietzsche-Jünger Lu Xun entspricht? „Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt“, mahnt Zarathustra.

Meister Kong war Staatsdiener, Kanzler und oberster Richter in Lu in der heutigen Provinz Schandong, und soll Unbotmäßigkeiten nicht nur mit erbaulichen Sprüchen zu tadeln gewusst haben. „Für Konfuzius“, schreibt Michael Schuman weiter, „konnte nur ein mächtiger Kaiser effektiv herrschen.“ Laut einem zeitgenössischen Schüler „besteht unseres Meisters Lehre nur in Loyalität und Bescheidenheit“. Das hört, so Schuman, heute eine „repressive Regierung“ gerne, „um einer ungebildeten Bevölkerung einzureden, Chinas größter Weiser erwarte von ihnen, dass sie unterwürfig und fügsam sind, damit die von oben aufgezwungene ‚Harmonie‘ nicht gestört wird“.

Konfuzianische Lizenz 

Hinzu kommt eine vermutlich in der Volksrepublik folgenreichere Idee. Ich hörte sie auf dem Campus der Tongji-Universität, im Vormittagsglanz, auf einem roten Holzsteg, unter dem Wasser träge treibt, von dicht gesetzten Bäumen und Sträuchern gesäumt, im Rücken einer weiß lackierten Teestube nach Art eines Wartehäuschens auf einem Weltraumbahnhof. Als Spezialität wird Frozen Yogurt gepriesen, dem die wie Schüler aussehenden Studenten tüchtig und giggelnd zusprechen, sofern das Display ihrer Smartphones ihnen Zeit lässt. Sollten die Chinesen je „am Menschen zu Stande bringen“, was sie laut Nietzsche „am Baume zu machen verstehen“: Es werden Menschen mit drei Händen sein, damit drei Smartphones gleichzeitig gehalten werden können.

Helmut Heit, Mitherausgeber der Nietzsche-Studien und seit knapp zwei Jahren Professor am Institut für Europäische Philosophie und Kultur der Tongji-Universität, erklärt mir auf dem Campus die konfuzianische Lizenz zum Eingriff in die gesellschaftliche Ordnung und den Lauf der Natur durch Technik und Kultur. „Alles in der Menschenwelt“, fasste der Pekinger Philosoph Hong Han-ding diesen Gedanken zusammen, „sollte sich den Menschen selbst verdanken.“ Nietzsche, sagt Heit, machte sich über die „Verbesserer der Menschheit“ lustig. Insofern war Nietzsche Daoist, Herold des Einzelnen, Warner vor Pragmatismus und Aktionismus, ausscherend aus jeder Herde. 

„Das ist alles Schicksal“

Viele Deutsche haben Spuren in Schanghai hinterlassen. Der Gutzlaff Tower von 1865, benannt nach dem evangelischen Missionar Karl Friedrich August Gützlaff, ist mit seinen 40 Metern Höhe angesichts der Neubauten ringsum am Ufer des Flusses Huangpu zum schlanken Zwerg geschrumpft. Als Treffpunkt für Liebespaare, die in der Öffentlichkeit Händchen halten, nie sich küssen, muss ihm um die Zukunft nicht bange sein. Chansonnier Stephan Sulke wurde, nachdem seine Eltern aus Berlin geflohen waren, 1943 in Schanghai geboren. Den Ruf wie Donnerhall, den die Tongji-Universität genießt, gäbe es ohne ihre deutschen Gründer um Marinearzt Erich Paulun nicht, die sie 1907 als „Deutsche Medizinschule für Chinesen in Shanghai“ ins Leben riefen. Schanghais ozeanische Kultur ist ins Offene gerichtet. China hat man, derart weit im Osten, immer im Rücken.

Wie wird es Helmut Heit ergehen? Dem 1970 im katholischen Emsland geborenen Mann, der durch Nietzsche-Forschungen dazu beitragen soll, die internationale Sichtbarkeit Schanghais zu erhöhen? Das begehrte Dilthey-Stipendium der Volkswagenstiftung nutzte er, um von 2006 bis 2014 an der FU Berlin über Nietzsches Wissenschaftsphilosophie zu forschen, zu lehren. Dort sprach ihn eine Studentin an: Ob er Lust habe, nach Schanghai zu kommen, jemanden wie ihn könne man gut gebrauchen. Die Übersetzung von Nietzsches Gesammelten Werken durch Sun Zhouxing und dessen Mitarbeiter hatte schon begonnen. „Das ist alles Schicksal“, würde zu diesem Werdegang Frau Zhou sagen, die zwischen 1998 und 2003 in Marburg an der Lahn so perfekt Deutsch lernte, dass sie es heute unterrichten kann. Sie besucht Heits Kurs über „Jenseits von Gut und Böse“.

Der charismatische Lehrer

Heit sieht Nietzsche als radikalen Denker der Unterschiede und des Unterscheidens, als „scharfsinnigen Diagnostiker der Moderne“, der Mut mache zum Selberdenken und ewig neugierig halte: „Auf die Schiffe, ihr Philosophen. Es gibt noch Welten zu entdecken, und mehr als eine!“ Heit bestieg zwar nicht das Schiff zum Fluss Huangpu, doch den Jet nach Schanghai. Die „ungeheure Popularität“ Nietzsches in China liege auch am dunklen, poetischen Stil, gerade im „Zarathustra“. Das schätze man hier sehr. Zumal dieses Buch „für alle und keinen“ in Form eines aus dem Konfuzianismus vertrauten pädagogischen Gesprächs geschrieben sei. Ein charismatischer Lehrer sei dieser Zarathustra, der freilich scheitere.

Beides sei den Chinesen vertraut: die Stufung von Lehrern und Schülern und dass der Weise sich nicht durchsetze. Verlustängste kehrten da wieder, Erinnerungen an die Niederlagen in den Opiumkriegen, an Besatzer und eine ungerechte Behandlung nach dem Ersten Weltkrieg. Kein Wunder, dass Lu Xun und die Vierter-Mai-Bewegung mit dem „Übermenschen“, dem programmatischen Einzelnen, erst gegen die Qing-Dynastie, dann gegen die japanische Okkupation zu Felde zogen. Doch die „Idee des heroischen Idealismus“ überfordere systematisch, „ich bin nicht der Übermensch – und warum soll ich es auch versuchen?“ Sagt Helmut Heit.

Vierter-Mai-Bewegung? Nie gehört? So ging es mir auch. Ich fühlte mich ertappt, als ich bei dem Philosophen Hong Han-ding las: „Schaut man sich an, was der Westen von chinesischer Geistigkeit weiß, so ist es immer noch sehr wenig. (…) Schaut man sich an, was China vom Westen und der Welt weiß, so ist es beträchtlich mehr.“ Doch nicht verzagen, Professor Sun nur fragen. Die Vierter-Mai-Bewegung fällt zusammen mit dem ersten Nietzsche-Fieber von 1919 bis 1921, als in rascher Folge rund 20 Artikel über Nietzsche erschienen. Lu Xun hatte im April 1918 seine wirkmächtigste, von Nietzsche beeinflusste Erzählung „Das Tagebuch eines Verrückten“ vorgelegt, eine Parabel auf China als Volk von „Menschenfressern“, von Unterdrückern und solchen, die sich unterdrücken lassen: „Ein jeder möchte Menschen fressen und lebt dabei in der Angst, von anderen gefressen zu werden. Voller Argwohn schaut jeder in des anderen Gesicht.“

Sun inhaliert deutsche Geistesgeschichte

Damit Schluss sei mit dieser Angstherrschaft, demonstrierten am 4. Mai 1919 über 3000 Studenten in Peking auf dem Tiananmen-Platz gegen den Versailler Vertrag, mit dem die Regierung chinesische Interessen verraten, da sie der Abtretung ehemals deutsch verwalteter Gebiete (Kiautschou) an Kriegsverlierer Japan zugestimmt hatte. Der Westen schien den Demonstranten ebenso korrumpiert wie die eigene Nomenklatura. Eine Parole lautete: „Nieder mit dem Antiquitätenladen des Konfuzius!“ Der nietzscheanische Gestus stand Pate, die Mahnung, „man ziehe, was in der Rumpelkammer steht, nicht wieder hervor. Das Wiederkäuen muß aufhören (...). Man muß neue Fragen stellen können, wenn man neue Antworten haben will.“

Der 4. Mai 1919 gilt als Beginn des modernen Chinas. Und die Bewegung, sagt Sun nach dem Klickklack seines Feuerzeugs, verfestigte das Bild von Nietzsche als einem antitraditionalistisch eingestellten Individualisten. Der 53-jährige Sun Zhouxing ist nicht nur Institutsleiter und Nietzsche-Übersetzer – „wir machen eine strenge, eine philosophische Übersetzung“ –, sondern auch Herausgeber der chinesischen Gesamtausgabe von Martin Heidegger. Seine Publikationsliste ließe den ameisenfleißigsten deutschen Kathederphilosophen erblassen. Von 1999 bis 2001 war er Gastprofessor an der Universität Wuppertal. Sun inhaliert deutsche Geistesgeschichte.

Aufklärungsbewegung noch nicht vollendet

Das zweite Nietzsche-Fieber fällt in Suns Studentenzeit: „1980 studierte ich Geologie an der Zhejiang-Universität. Wir lasen Sartre, Freud, Nietzsche, um uns von einer vorherrschenden, sehr strengen Ideologie zu befreien.“ Man entdeckte Nietzsche als Ästheten im Rahmen dieser gescheiterten zweiten intellektuellen Aufklärungsbewegung, die sich ihren Hoffnungen hingab bis zum, wie es offiziell heißt, „Zwischenfall“ vom 4. Juni 1989, abermals auf dem Tiananmen-Platz. „Man hat versucht, durch einen Umweg, im Namen der ästhetischen Freiheit und Befreiung, die Freiheit des Geistes und die Befreiung des Individuums zu erreichen.“ So steht es in einem Vortrag Suns, gehalten 2013 in Berlin, demnächst gedruckt zu lesen: „China muss zum dritten Mal aufgeklärt werden. In China muss die Aufklärungsbewegung, die in der Vierter-Mai-Bewegung wie in der Aufklärung in den 1980er-Jahren immer noch nicht vollendet worden ist, fortgesetzt werden. Dementsprechend ist es auch notwendig, den Prozess der politischen Demokratisierung zu beschleunigen.“

Nicht jeder sieht es so. Auch zu anderen Zwecken greift man zu Nietzsche. War dieser nicht Verächter der Demokratie, dieser „Entfesselung von Faulheiten, von Müdigkeiten, von Schwächen“, Lobredner einer herrschenden Elite, Verteidiger der Unwahrheit? „Weder Manu, noch Plato, noch Konfuzius, noch die jüdischen und christlichen Lehrer haben je an ihrem Recht zur Lüge gezweifelt.“ Insofern können, auf Nietzsche gestützt, die von Sun „Mao-Linke“ genannten neokonfuzianischen Denker zu „einer immer konservativeren politischen Position“ gelangen. Das Linke ist in China das Orthodoxe und insofern das Konservative. Der Intellektuelle Liu Xiaofong, der seit 2007 Nietzsches Werke übersetzt, sprach sich 2013 für einen differenzierten Blick auf Mao aus. Die „westliche Aufklärung“ sei an den Exzessen der Kulturrevolution schuld, sie habe „die natürliche Tugend zerstört“. Sun hält eine solche Auffassung für „wirklich erschreckend“. Er verteidigt die Aufklärung gegen ihre Verächter, gegen und mit Nietzsche. Dieser sei im politischen Sinn ein Antiaufklärer, unter philosophischem Aspekt jedoch ein Aufklärer gewesen.

Unerträglicher Amoralismus und Mitleidlosigkeit

Der Riss, der durch Nietzsche geht, reißt China entzwei. Marxistische Sachstandswahrer berufen sich ebenso auf ihn wie liberale Freibeuter. Er ist geistige Wegzehrung für unterschiedliche Wege. Auch an Suns Institut gibt es verschiedene Perspektiven. Zhao Qianfan übersetzt Adorno und Walter Benjamin neben Nietzsche und macht sich für einen ehrlichen Blick auf die Geschichte stark. In jeder Tradition gebe es „Dunkles und Negatives“, dem dürfe auch China sich stellen. An Nietzsche beeindrucke ihn die Erkenntnis, dass die Wahrheit manchmal dunkel und grausam sei – und der Mut, selbstkritisch zu denken. Zhao Qianfan, knapp 40-jährig, stammt aus der Provinz Fujian, 600 Kilometer südlich von Schanghai. Er zitiert Rilke, eine Zeile, die in seinem Bekanntenkreis von Mund zu Mund gehe, in makellosem Deutsch, sacht, sanft, leise: „Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.“

Andere Lehren trug Zhaos 34-jähriger Kollege Yu Mingfeng davon. Er habe Nietzsche zunächst nicht gerne gelesen. Dieser Amoralismus, diese Mitleidlosigkeit, unerträglich. Doch die Melancholie, die aus Rilkes Zeilen spricht, ist seine Lebenshaltung nicht. Wenn Zhao Qianfan das asketische Prinzip des Denkens verkörpert, dann Yu Mingfeng das zupackende. Er hat einen konstruktiven Blick auf Traditionen. „Sofern Philosophie mit Selbsterkenntnis zu tun hat, muss sich ein Philosoph hauptsächlich mit der eigenen Tradition beschäftigen, mit der Welt, mit der er groß geworden ist.“ So habe es Nietzsche mit Antike und Christentum gehalten; beide musste er verstehen lernen. Auch habe er Nietzsche, dem „Zarathustra“, die Erkenntnis entnommen, dass man sich durch Geschichten der Wahrheit nähern könne, mit ihr spielen müsse, „so es sie gibt“. Konfuzius, der große Geschichtenerzähler, habe es nicht anders gemacht. Und was sind Chinas Traditionen heute? „Nicht nur Konfuzius und Laotse, auch Modernität und Kapitalismus sind für uns moderne Chinesen mittlerweile Tradition. Das ist alles auch chinesisch; chinesisch geworden. Und darum: Nietzsche!“

Städteplanung boomt 

So landen Gespräche über Nietzsche oft bei Meister Kong, wie vieles im derzeitigen China. Das Riesenreich, dem der Wandel Programm scheint, braucht eine nachholende Reflexion. Mal ist Nietzsche der, der Sand ins technische Getriebe streut, der Verlangsamer und Ich-Artist; mal der, der dem Westen den Spiegel vorhält, der Aufklärungskritiker und Ordnungsdenker; mal der, dessen Selbststeigerungskonzepte und Überbietungsfantasien die Unmoral dynamisieren, der Beschleuniger und Verflüssiger. Da nichts so boomt wie die Städteplanung, der in Schanghai ein Museum gewidmet ist, die Urban Planning Exhibition Hall, wird sich auf diesem Feld entscheiden, woraus Morgen gemacht sein wird: aus welchen Häusern, welchen Plätzen, welchen Straßen. „Und mag doch alles zerbrechen, was an unseren Wahrheiten zerbrechen – kann! Manches Haus gibt es noch zu bauen! Also sprach Zarathustra.“

Vorm Gutzlaff Tower legen die Abendfähren ab. Herr Sun muss nach Hause, um sich über seine „Zukünftige Philosophie“ zu beugen, „Nietzsche und die Postmetaphysik“. Frau Zhao, gebürtig in Schanghai, bekräftigt, wie rasch sich ihre Heimatstadt in den letzten Jahren gewandelt habe, sauberer, schöner geworden sei, um den Preis verordneter Abrisse freilich. Helmut Heit erinnert sich an die beiden Chinesen von der Commerzbank, die ihn mit Fragen löcherten nach einem Nietzsche-Vortrag. Irgendwer sagt im Hotel: „China ist kein liberaler Staat, aber er funktioniert.“

Dem Gast aus der Ferne dunkelt der ozeanische Himmel. Zum letzten Mal kriecht süße Luft in die Kleider. Auf den Hochhäusern tanzen die Sterne.

 

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