Rückgewinnung der Demokratie - Dezentralisiert euch!

Es spricht nichts dagegen, sich die post-neoliberale Ordnung Europas als eine neo-nationale vorzustellen – gewissermaßen als eine zeitgemäß erneuerte europäische Kleinstaaterei. Denn nur ein in eine internationale Friedensordnung eingebetteter, souveräner Nationalstaat ist wirklich demokratisierbar.

Demonstranten protestieren im Mai 2018 auf den Straßen von Paris gegen die Reformpolitik von Frankreichs Präsident Macron / dpa
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Autoreninfo

Wolfgang Streeck ist Soziologe und war bis 2014 Direktor am Max-Planck-Inst­i­tut für Gesellschaftsforschung.

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Staatensystem und Staatlichkeit stecken heute zwischen Globalismus und Demokratie, zwischen „oben“ und „unten“ fest. Bestrebungen zu weiterer neoliberaler Zentralisierung stoßen auf Forderungen nach lokaler Selbstbestimmung, mal von links, mal von rechts, schwer auszusortieren, immer aber „von unten“, wobei der populäre Widerstand gegen den elitären Globalismus sich um eine Verteidigung des Nationalstaats und der in ihm potentiell gegebenen populär-demokratischen Einflusschancen sowie um Zweifel an deren Verlagerbarkeit „nach oben“ herum organisiert.

Eine „Überwindung“ des Nationalstaats zugunsten internationaler Organisationen oder globalisierter oder regionalisierter Superstaatlichkeit würde auf die Errichtung einer Experten- oder Marktherrschaft, oder beider zugleich, hinauslaufen und eine Rückgewinnung demokratischen Einflusses auf die kapitalistische Ökonomie auf lange Zeit unmöglich machen.

Globalismus-Verbündete

Der Kampf gegen den neoliberalen Zentralismus findet unter erschwerten Bedingungen statt. Wie schon in der Zwischenkriegszeit berühren sich „rechte“ autoritäre mit „linken“ egalitären Gegenbewegungen, wenn es um die Verteidigung des Nationalstaats als Ort des Schutzes gegen die gesellschaftszerlegende Volatilität von Märkten und relativen Preisen geht. In der Gegenwart der zweiten, erweiterten und überarbeiteten Auflage des Kampfes gegen den Marktliberalismus kommt erschwerend hinzu, dass die neoliberalen Globalisierer Verbündete in der grün-linken postindustriellen Mitte der Gesellschaft gewonnen haben, die sich vor dem selbstregulierenden Weltmarkt weniger fürchten als vor dem regulierenden Nationalstaat, der ihnen als nach außen tendenziell aggressiv und nach innen tendenziell diktatorisch erscheint.

Die dem zugrunde liegende, sich als kosmopolitisch missverstehende Weltsicht, die sie mit den Globalisten teilen, schwächt die Verteidiger egalitär-umverteilender Politik, deren klassische Artikulationskanäle überdies gegenwärtig durch Identitätspolitik und Kulturrevolutionen aller Art verstopft sind.

Politische Blockade

Die neoliberale Hegemonie stößt auf Widerstand, die sogenannte Globalisierung ist ins Stocken geraten, und die seit langem schwelende Krise des Staatensystems und seiner westlich geprägten internationalen Ordnung verlangt nach Entscheidungen. Der Marsch in eine staatlich entpolitisierte, politisch gegen demokratische Politik immunisierte globale politische Ökonomie steckt fest, und die Suche nach einer Alternative zu dem, für das es angeblich keine Alternative gibt – nach einer Neubegründung von Politik unterhalb eines Globalismus, für den Politik nur als staatlich betriebene Freisetzung von Marktkräften möglich sein soll –, hat begonnen.

Die gegenwärtige politische Blockade hat eine lange Vorlaufzeit. Charakteristisch für diese waren unter anderem eine kontinuierliche Schrumpfung politischer Parteien mit Zukunftsprogrammen und Gestaltungswillen, klassisch sozialdemokratischer und kommunistischer wie auch im herkömmlichen Sinn konservativer Provenienz, ein dramatischer Rückgang der Mitgliedschaft in Parteien und Gewerkschaften, eine weithin sinkende Wahlbeteiligung und ein wachsender Anteil der Abstimmenden, die ihre Entscheidung buchstäblich erst in der Wahlkabine treffen. Zugleich ging das Vertrauen in die etablierten, als staatsnah wahrgenommenen Medien ebenso zurück wie deren Reichweite und wuchsen Zweifel an Repräsentativität und Effektivität demokratischer Institutionen.

Neue politische Spieler

So kam es zur Bildung neuartiger Parteien und sozialer Bewegungen, die die herrschende politische Ordnung, zu der sie demonstrativ nicht gehören wollen, von außen „im Namen des Volkes“ in Frage stellen; in nicht wenigen Ländern hat dies dazu geführt, dass die Wahlbeteiligung wieder zugenommen hat. Ein gemeinsames Thema, von Trump bis Sanders, von den Gelbwesten bis La France insoumise, von Syriza über Lega und Cinque Stelle bis hin zur AfD, ist ein empfundener Kontrollverlust nationalstaatlicher Politik, von dieser gewollt oder erlitten: in Bezug auf die soziale Lage breiter Schichten der Bevölkerung, den regio­nalen Zusammenhalt, die Entwicklung von Einkommen, Beschäftigungschancen und sozialer Sicherheit, die staatlichen Grenzen, den Erhalt hergebrachter Lebensweisen, den Schutz vor Gewalt von innen wie von außen, die Zukunft im Allgemeinen.

All dies addiert sich zu einer politischen Legitimationskrise, in der ein zähes Ringen um nicht weniger begonnen hat als um die konstitutiven Grundlagen der politischen Ordnung: die Natur und den Zuschnitt politischer Gemeinschaften und ihrer gegenseitigen Beziehungen, das Verhältnis zwischen Politik und Märkten, zwischen kollektiven und individuellen Interessen und Werten sowie die legitimen Ansprüche von Gesellschaften an ihre Mitglieder und umgekehrt.

Reaktion auf den Neoliberalismus

Die ratlose Stagnation normaler Politik in den demokratischen Nationalstaaten des heutigen Kapitalismus ist, so meine These, ein Resultat des Scheiterns des globalistisch-neoliberalen Gesellschaftsentwurfs, in den westlichen Gesellschaften dramatisch deutlich geworden in der Krise von 2008 und den auf sie reagierenden populären Forderungen nach Wiederherstellung politischer Kontrolle über die soziale und wirtschaftliche Entwicklung durch „das Volk“.

Solange unklar ist, wie ein Nachfolgeregime für den steckengebliebenen neoliberalen Internationalismus aussehen und durchgesetzt werden könnte, liegt es nah, die gegenwärtige Situation als die eines Interregnums zu beschreiben.

Patt zwischen „oben“ und „unten“

Das postneoliberale Interregnum lässt sich als unentschiedener Zwischenstand – als vorläufiges Patt – in einem Tauziehen zwischen den Eliten der neoliberalen Koalition beschreiben, die einen Durchbruch „nach oben“ suchen, in Richtung auf eine weltpolitisch geeinte, einheitlich regierte Weltökonomie, und von ihnen aufgescheuchten, von den neuen „Populisten“ – Separatisten, Nationalisten usw. – vertretenen Kräften, die sich von einem Ausbruch nach unten mehr Mitsprache über ihr Leben in Gegenwart und Zukunft erhoffen. 

Zwei Themen stehen dabei im Mittelpunkt: die wirtschaftliche Funktionalität und der moralische Wert der beiden alternativen, um Kompetenz und Kompetenzen wetteifernden Ebenen politischen Handelns und institutionalisierten Regierens, global die eine und nationalstaatlich die andere. Beide Themen sind eng mit Fragen der Möglichkeit und Wünschbarkeit von Demokratie als Organisationsprinzip moderner Gesellschaften und der Demokratisierbarkeit moderner Politik verknüpft und werden durch diese Verknüpfung emotional hoch aufgeladen.

Technokratie gegen Dezentralisierung

Die nach oben, in die Weltgesellschaft strebenden Globalisten halten demokratische Entscheidungsprozesse für grundsätzlich ungeeignet, adäquate Antworten auf die „Komplexität“ weltweit vernetzter sozialer und wirtschaftlicher Systeme zu finden, und wollen sie deshalb entweder durch technokratische Behörden wie den Internationalen Währungsfonds – in Europa die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank – oder durch ein „freies Spiel der Marktkräfte“ beziehungsweise ein abgestimmtes Nebeneinander beider ablösen.

Die einen Ausweg nach unten suchenden „Populisten“ dagegen setzen auf eine Dezentralisierung von Staats- und Regierungssystemen und einen Rückbau der Globalisierung, mit dem Ziel einer Wiederherstellung demokratischer Selbstregierung und Selbstbestimmung – eine Ambition, die von den Globalisten, wenn nicht von vornherein für unmoralisch, dann wegen der „von unten“ angeblich undurchschaubaren weltweiten Interdependenzen und externen Effekte für unrealistisch erklärt wird.

Nachhaltige Ordnung

Nur durch Dezentralisierung, so meine These, können umfassende Ordnungen nachhaltig bestehen, und selbst Normen mit universellem Geltungsanspruch müssen in ihrem Vollzug, der immer nur Vollzug unter besonderen Bedingungen sein kann, unterschiedlich interpretiert werden können, schon deshalb, weil kein allgemeiner Gesetzgeber die gegenwärtige Komplexität der realen Welt zu erfassen, geschweige denn die zukünftige zu antizipieren vermag. Die Wahl zwischen Groß- und Kleinstaaterei, zwischen Integration und Differenzierung von Staatensystemen, ist unter den Bedingungen der kapitalistischen politischen Ökonomie von heute eine Wahl zwischen Globalismus und Demokratie beziehungsweise der Möglichkeit von Demokratie. Beides zusammen, Globalismus und Demokratie, ist nicht im Angebot, ebenso wenig wie Demokratie ohne Nationalstaaten.

„Kleinstaaterei“ als Überwindung der Stagnationskrise des Neoliberalismus benötigt eine unterstützende internationale Ordnung. Eine Auflösung des postneoliberalen Patts nach unten verlangt deshalb eine Abkehr von der internationalen Ordnung der Hyperglobalisierung, die nicht mehr sein konnte als ein auf Macht statt auf Regeln gegründetes Imperium. Unter den gegenwärtigen globalen Bedingungen, mit den USA als absteigender und China als aufstrebender globaler Hegemonialmacht, scheint eine solche Abkehr zumindest in der europäischen Weltregion möglich.

Ein Hoch auf den Kleinstaat

Voraussetzung wäre allerdings, dass die Europäische Union daran gehindert wird, die in Gang befindliche Lockerung ihrer Zentralisierung nach innen durch Militarisierung ihrer Beziehungen nach außen aufzuhalten oder rückgängig zu machen. Gelingt dies, und das ist nicht ausgeschlossen, könnte gerade Europa von den Vorteilen verteilter (Klein-)Staatlichkeit profitieren. Zu ihnen gehört, dass kleine Staaten anders als große nicht dazu neigen, andere Staaten, nah oder fern, zu überfallen; dass Dänemark Norwegen angreift, um sich dessen Ölreserven zu sichern, ist ebenso unwahrscheinlich, wie dass Portugal in Afghanistan einmarschiert, um dem islamischen Fundamentalismus im Namen der allgemeinen Menschenrechte ein Ende zu bereiten.

Von kleinen Ländern kann im Gegenteil erwartet werden, dass sie ein Völkerrecht entschieden unterstützen, das staatliche Souveränität respektiert und stärkt, einschließlich beispielsweise des Rechts von Staaten, ihren Bürgern entgegen allfälligen Auflagen des Internationalen Währungsfonds die Nutzung amerikanischer Kreditkarten zu untersagen. Großstaaten dagegen tendieren dazu, Möglichkeit und Wertigkeit von Souveränität herunterzuspielen, ihre eigene ausgenommen, und sind ständig versucht, sich aus der internationalen Rechtsordnung auszuklinken und ihr nationales Recht und internationalistisches Berechtigungsgefühl (die USA als „the indispensable nation“, Barack Obama) an die Stelle des Völkerrechts zu setzen.

Entglobalisierung aus Notwendigkeit

Was die wirtschaftliche Seite angeht, insbesondere die anhaltende Krise des westlichen Kapitalismus, so gibt es mittlerweile erstaunlich weitgehende Überlegungen über Entglobalisierung, Regionalisierung, ja sogar „verantwortlichen“ oder „progressiven“ Protektionismus. Einiges spricht dafür, dass die Wachstumskrise des global finanzialisierten Kapitalismus, zusammen mit der Globalisierungskrise durch und nach Corona, eine erneute Hinwendung zu den lokalen und kommunalen, wenn nicht gar kommunitaristischen Grundlagen wirtschaftlichen Handelns nicht nur ermöglicht, sondern geradezu erfordert, vom Aufbau egalitärer verteilter Arbeitsqualifikationen über die Rekonstruktion fairer Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Beziehungen (in der Nachfolge des „demokratischen Korporatismus“ der Nachkriegszeit) bis hin zu den institutionellen und physischen Infrastrukturen wirtschaftlicher Prosperität und der Bereitschaft, für sie aufzukommen.

Insoweit als die Wachstums- und Akzeptanzkrise des finanzialisierten Kapitalismus auch auf die Unstetigkeit eines hochmobil gewordenen Kapitals zurückgeht, könnte demokratische Dezentralisierung darüber hinaus eine Suche nach weniger mobilen Formen von Eigentum und Kapital ermutigen, etwa genossenschaftlicher oder kommunaler Art, deren paradoxes Ergebnis so etwas wie eine expandierende sozialistische Ergänzung des Kapitalismus sein könnte. Eine solche Suche wäre innerhalb des rigiden Binnenmarktregimes der derzeitigen Europäischen Union nicht möglich.

Europäische Erneuerung

Siebzig Jahre Frieden zwischen den westeuropäischen Nationalstaaten und Jahrzehnte liberaler, lange auch sozialer Demokratie sollten die Vermutung rechtfertigen, dass Nationalstaaten auch ohne Gebietsansprüche nach außen und autoritäre Regime nach innen existieren können. Meiner Meinung nach spricht nichts dagegen, sich die postneoliberale Ordnung Europas als eine neonationale vorzustellen: als eine zeitgemäß erneuerte europäische Kleinstaaterei, zwischenstaatlich mit horizontaler Kooperation statt vertikaler Autorität, konföderal statt imperial, eine Ordnung, die das ererbte institutionelle Gebäude der europäischen Nationalstaaten nutzt, um die europäischen Gesellschaften aus ihrer Unterwerfung unter die Anpassungszwänge globaler kapitalistischer Märkte zu befreien.

Meine These ist: Ein in eine internationale Friedensordnung eingebetteter, souveräner, nicht zu großer Nationalstaat ist das einzige politische Gebilde, das demokratisierbar ist, also verpflichtet werden kann, die Interessen nichtelitärer Bevölkerungsmehrheiten mittels Rückbettung seiner politischen Ökonomie in die sie tragende Gesellschaft zur Geltung zu bringen.

 

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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