Zum Tode von Juliette Gréco - Das Leben war ein Chanson

Mit dem Tod von Juliette Gréco schaut nicht nur die große Ära des Chansons auf sich selbst zurück, es endet auch die Zeit, in der Europa noch jung war. Ein Nachruf auf eine Frau, die ein existenzielles Lebensgefühl geprägt hat.

Juliette Gréco während eines Konzerts im Jahr 2012 / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Es ist der Februar 1946. Im Méphisto, einem angesagten Club am Boulevard Saint Germain, fällt dem Philosophen Maurice Merleau-Ponty eine junge Frau auf. Sie hat pechschwarze Haare, trägt ebensolche Kleidung und übt mit ihrer lasziven Gleichgültigkeit eine erhebliche Anziehung auf den Denker aus. Ihr Name: Juliette Gréco.

Gréco lebt in diesen Monaten eher schlecht als recht von Nebenrollen in kleinen Theaterstücken. Sie hat permanent Hunger. Merleau-Ponty lädt sie zum Essen ein. Am nächsten Tag kauft sie die aktuelle Ausgabe von Les Temps Modernes, jener Zeitschrift, die Merleau-Ponty zusammen mit dem neuen Star der Pariser Intellektuellenszene Jean-Paul Sartre herausgibt. Dort liest sie den aktuellen Essay ihres neuen Bekannten: „Foi et bonne foi“. Die 19-jährige Juliette Gréco ist angekommen im intellektuellen Epizentrum der damaligen Zeit.

Jugend in Armut

Dabei hätte alles auch ganz anders kommen können. Als der Krieg 1940 Frankreich erreicht, schließt sich ihre Mutter der Résistance an und wird 1943 verhaftet. Juliette geht mit ihrer Schwester nach Paris und gerät dort ebenfalls in Gestapo-Haft. Als sie entlassen wird, wendete sie sich an den einzigen Menschen, den sie in der Millionenmetropole kennt: ihre ehemalige Französischlehrerin Hélène Duc. Die nimmt sie auf und versorgt das mittellose Mädchen mit dem Nötigsten. Nur an passender Kleidung mangelt es. Also zieht sie die Hemden, Pullover, Jacketts und Hosen der Jungs aus dem Haus an. Die sind ihr natürlich zu groß, weshalb sie Ärmel und Hosenbeine hochkrempelt. Auf den Straßen erregt sie damit Aufsehen. Ein neuer Look war geboren, die Mode einer Generation.

Von der Wohnung Hélène Ducs ist es nicht weit zu den Cafés und Kellerclubs von Saint-Germain, wo die intellektuellen Idole der Zeit leben und arbeiten: Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Albert Camus, Boris Vian, Arthur Koestler. Hinzu kommen junge amerikanische Schriftsteller und Künstler: Norman Mailer, Saul Bellow, Richard Wright und Miles Davis – mit letzterem wird Juliette Gréco im Sommer 1949 eine leidenschaftliche Affäre haben.

Sartre wird ihr Gönner

Im April 1947 eröffnet in der Rue Dauphine der Club Tabou. Für ein paar Jahre wird das Tabou so etwas wie die Herzkammer des Rive Gauche. Juliette Gréco ist von Anfang an mit dabei und beginnt hier Chansons zu singen. Sartre, der intellektuelle Pate des Viertels, ist begeistert von der jungen Frau. Er vermittelt ihr ein Zimmer im Hotel La Louisiane, wo er und de Beauvoir wohnen. Vor allem aber darf sie sich einen seiner Chanson-Texte aussuchen. Sie wählt „La rue des Blancs-Manteaux“, einen Text über die Hinrichtung von Adligen, Militärs und Bourgeoise in besagter Straße während der Französischen Revolution. Im Sommer 1950 wird die Platte aufgenommen.

Bald singt die Gréco nicht nur Texte von Sartre, sondern auch von Camus und Vian. Sie wird zur Ikone des Existentialismus als Popkultur, der mit dem Existentialismus Sartres nur am Rande etwas zu tun hat. Doch die Generation  Grécos spürt instinktiv das revolutionäre und emanzipatorische Potential von Sartres Denken und übersetzt es in Mode, in Musik, in Habitus – in einen Lifestyle.

Chansons mit Ewigkeitscharakter

Gréco reiht von nun an Erfolg an Erfolg. Es entstehen Chansons mit Ewigkeitscharakter: „Je suis comme je suis“, „Sous le ciel de Paris“, „Ne me quitte pas“ oder „Paris Canaille“. Stets schwarz gekleidet avanciert sie zum Medienstar und wird zum Symbol des Bohème-Lebens von Saint-Germain.

Anfang der 50er Jahre beginnt sie zudem eine Schauspielkarriere und arbeitet mit Regisseuren wie Henri King, John Huston oder Orson Welles zusammen. In den 60er Jahren wendet sich jedoch der Zeitgeist. Man liest nicht mehr Sartre, sondern Roland Barthes, Michel Foucault und Jaques Derrida. Das Chanson gerät aus der Mode. Und auch persönlich gerät Juliette Gréco in eine Krise. Doch sie kommt zurück, mit ihren alten Stücken aber auch mit Klassikern von Jacques Brel und Serge Gainsbourg. Ihre letzte Platte nimmt sie 2015 auf.

Als Europa jung war

Juliette Gréco war die letzte Überlebende. Die Überlebende einer Zeit, in der Europa jung war, verwegen und wagemutig. Als man sich keine Gedanken machte über das Morgen und das Übermorgen schon mal gar nicht. Als man keine Sicherheit wollte, sondern das Leben. Als man die Freiheit suchte und keine Rückversicherungen, Revolte statt Opportunismus „Il n'y a qu'aujourd'hui“ sang die Gréco in einem ihrer bekanntesten Chansons („Il n'y a plus d'après“).

Doch wie jedes gute Chanson, so enthält auch dieses eine tiefere Wahrheit. Es endet mit der Zeile: „Il n'y a plus d'autrefois“. Gestern, am 23. September 2020, ist Juliette Gréco mit 93 Jahren verstorben.
 

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