Moderne Demokratien - Die Eliminierung des Schicksals

Kolumne: Grauzone. Der Glaube an das Schicksal hat heute ausgedient. Der moderne Mensch ist seines eigenen Glückes Schmied. Diese naive Verdrängung des Undenkbaren macht westliche Gesellschaften aber auch anfällig und verwundbar

Kampf gegen das Schicksal: Eine Mitarbeiterin der Nürnberger Tafel verteilt Essen an Bedürftige / picture alliance
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Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Über Jahrtausende bestimmte das Schicksal das Leben der Menschen. Es begegnete ihnen in Gestalt von Göttinnen wie Tyche oder Fortuna, als Fatum, Kismet oder Vorsehung. Es war grausam, unberechenbar und willkürlich, es konnte erheben und vernichten. Und nur selten war es gerecht. 

Der Mensch der Moderne jedoch glaubt nicht mehr an das Schicksal. Denn der moderne Mensch ist seines eigenen Glückes Schmied. Zumindest meint er das. Also verwirklicht er sich selbst, aus eigenem Entschluss und aus eigener Kraft. Wer sich aber permanent selbst erschafft, frei und emanzipiert, für den ist die Vorstellung des Schicksalhaften ein Skandal. Das Schicksal ist der Feind jeder Emanzipation.

Demokratien bändigen das Schicksal

Also haben moderne Wohlfahrtsgesellschaften das Schicksal entsorgt: Der Sozialstaat fungiert als Schicksalsexorzist. Für individuelle Niederlagen und Fehlentwicklungen ist nun nicht mehr das Fatum verantwortlich, sondern die Gesellschaft. Und auch als historische Kategorie hat das Schicksal ausgedient. Denn aus der Geschichte, so das unhinterfragbare Dogma, muss man lernen können. Was aber sollte man aus dem Schicksal lernen? 

Daher ist es nur konsequent, dass auch der Gedanke, eine Wahl könne schicksalhaften Charakter haben, etwas aus der Mode gekommen ist – zumindest wenn man der neusten Umfrage aus dem Hause Allensbach Glauben schenken mag.

Nur 19 Prozent der befragten Bundesbürger, so die Demoskopen vom Bodensee, halten die kommende Bundestagswahl für eine Schicksalswahl. Damit setzt sich ein Trend fort. 2009 hielten 16 Prozent und 2013 13 Prozent der Befragten die anstehenden Wahlen für schicksalhaft.

Nun war die Verbindung von „Schicksal“ und „Wahl“ schon immer etwas bizarr. Denn eine demokratische Wahl ist alles andere, sicher aber nicht schicksalhaft. Im Gegenteil: Politmythologisch betrachtet, sind Demokratien der Versuch der Schicksalsbändigung. Wo früher die Willkür Einzelner herrschte und der Zufall der Geburt, waltet nunmehr die Prosa der Abstimmung. Anstelle des Schicksals mahlen die Mühlen der Ministerialbürokratie, der Ausschüsse und Arbeitsgruppen.

Risikofreies Paradies

Modern sein bedeutet, das Schicksal aus allen Lebensbereichen zu verbannen. So hat der Mensch der westlichen Welt sich mittels moderner Medizin, technischem Fortschritt, sozialen Sicherungssystemen und Versicherungen aller Art ein risikofreies Paradies geschaffen. In einer solchen Gesellschaft ist die Vorstellung einer „Schicksalswahl“ obsolet.

Die Schattenseite: Die Bürger der westlichen Wohlfahrtsstaaten sind nicht mehr schicksalsfähig. Sie unterliegen der Illusion, alles sei machbar, alles sei zu moderieren, auszugleichen oder sonst wie zu lösen. Abhanden gekommen ist der Sinn für das Kontingente und das Unabwendbare. So gesehen ist Merkels berühmtes Diktum „Wir schaffen das“ nur das Motto einer Gesellschaft, die tatsächlich glaubt, dem Schicksal enthoben zu sein und, solange man nur vernünftig handelt, alle Probleme irgendwie lösen zu können.

Diese naive Verdrängung des Undenkbaren gepaart mit dem ebenso blauäugigen Glauben an die Lösbarkeit aller wesentlichen Probleme macht westliche Gesellschaften aber auch anfällig und verwundbar – ganz einfach weil sie verlernt haben, sich das Unvorstellbare vorzustellen. Entsprechend begreifen sich die westlichen Wohlstandsgesellschaften als schicksalsimmun und halten sich für ewig und unzerstörbar. Ein fataler Irrtum, wie nicht zuletzt die Migrationskrise in Erinnerung gerufen hat. 

Wiegen in falschen Sicherheiten

Zeiten, die weder das Schicksal noch Schicksalswahlen kennen, sind glückliche Zeiten. Die große Zustimmung zur aktuellen und zukünftigen Regierungschefin zeigt das. Doch die bräsige Selbstzufriedenheit, die darin zum Ausdruck kommt, ist ein Alarmzeichen

Wir wiegen uns in falschen Sicherheiten. Natürlich ist nichts schicksalhaft in dieser Welt. Das Fatum gibt es nicht. Doch Leichtsinn und Selbstgefälligkeit zerstören jede Wachsamkeit und unterminieren die Fähigkeit, Risiken rechtzeitig wahrzunehmen – und als solche zu benennen. Es wäre ein historischer Witz, wenn die Eliminierung des Schicksals das Schicksal der westlichen Welt besiegeln würde.

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