Modellierer Dirk Brockmann - Der Rock ’n’ Roller

Als Modellierer für Infektionskrankheiten erklärt Dirk Brockmann die Pandemie. Vor allem aber geht es ihm darum zu zeigen, wie wild, wie magisch Physik sein kann.

Dirk Brockmann lehrt an der Humboldt-Universität im Fachbereich Biologie / Julia Steinigeweg
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Autoreninfo

Ulrike Moser ist Historikerin und leitet das Ressort Salon bei Cicero.

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Und das soll Rock ’n’ Roll sein? Ausgerechnet Physik? Eine Disziplin für Nerds. Lästiges Pflichtfach in der Schule. Doch wenn Dirk Brockmann anfängt, über Albert Einstein und seine Relativitätstheorie zu sprechen, darüber, wie dieser das Gerüst der newtonschen Mechanik zum Einstürzen brachte und durch eine neue Weltsicht ersetzte, über diesen Mut und diese Radikalität, dann wird verständlich, wenn er sagt, „das ist etwas ganz Un-Nerdiges, das ist Rock ’n’ Roll!“

Mit der Physik ist das trotzdem so eine Sache bei Brockmann. Er hat theoretische Physik und Mathematik studiert. Und dann in den USA als Professor Mathematik gelehrt. Wobei er über sich sagt: „Ich bin zu 100 Prozent Physiker.“ Mathematik ist Handwerk. Und zitiert dann, nun ja, eindrücklich den amerikanischen Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman: „Physics is to math what sex is to masturbation.“ Physik verhält sich zu Mathe wie Sex zur Selbstbefriedigung.

Walter White der „Komplexitätswissenschaft“

Es ist ein wintergrauer Nachmittag in Berlin. Auf dem Campus Nord der Humboldt-Universität sind nur wenige Studenten unterwegs. Seit Brockmann 2013 einen gemeinsamen Ruf der Hochschule und des Robert-Koch-Instituts (RKI) erhalten hat, lehrt er in der Hauptstadt – im Fachbereich Biologie.

Brockmanns markanter Kopf lässt an den des Drogen köchelnden Chemielehrers Walter White aus der Serie „Breaking Bad“ denken. Er spricht ungewöhnlich klar und irritierend distanziert, selbst wenn er von der Leidenschaft für seine Forschung redet. 
Wenn Brockmann gefragt wird, was denn nun eigentlich sein Spezialgebiet ist, sagt er „Komplexitätswissenschaft“ oder „komplexe Systeme“. Es geht darum, in Phänomenen der Natur und der Gesellschaft, die sehr kompliziert erscheinen, einfache Regeln, fundamentale Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. Und um „Brücken zwischen vermeintlich unverwandten Gebieten und Phänomenen“, wie er in seinem Buch „Im Wald vor lauter Bäumen – unsere komplexe Welt besser verstehen“ schreibt. 

Die Suche nach der Gesetzmäßigkeit

Etwa wenn man Nachzeichnet, wie sich die Augen in Sakkaden, schnellen und ruckartigen Bewegungen, über ein Bild oder ein Buch bewegen, dann gleichen diese scheinbaren Krickelkrakel-Linien auf verblüffende Weise den Strecken, die Albatrosse auf Futtersuche bei ihren kilometerlangen Flügen über den Ozean zurücklegen. Oder den Wanderungen brasilianischer Klammer­affen. Offenbar liegt hier ein fundamentales Gesetz zugrunde. Warum entwickeln Stare, eine La-Ola-Welle im Stadion, Phantomstaus oder die Meinungsbildung in sozialen Netzwerken ein Schwarmverhalten, ohne dass es eine Instanz gäbe, die das Ganze lenkt? Wie ist der Zusammenhang zwischen Infektionskrankheiten und dem globalen Flugverkehr?

Warum synchronisieren sich Tausende Glühwürmchen in den Wäldern von Malaysia, die eben noch ein Durcheinander von Lichtblitzen ausgesendet haben? Und warum lässt sich das mit dem tosenden asynchronen Applaus am Ende eines Konzerts vergleichen, der innerhalb kürzester Zeit in ein synchrones Klatschen übergeht? Worin ähneln sich Ökosysteme, Nervensysteme und Finanzmärkte? „Die Tatsache, dass es überhaupt Gesetzmäßigkeiten gibt, das ist ja eigentlich etwas total Wildes, ja Magisches“, sagt Brockmann.

Nebenbei noch Corona

Sie zu erforschen, sie zu entdecken, heißt aber auch, die traditionellen fachlichen Grenzen vorsätzlich zu übertreten. „Die Komplexitätswissenschaft ist ihrem Wesen nach antidisziplinär“, sagt Brockmann. Das bedeutet, nicht sesshaft zu werden, nicht Experte zu sein für ein fest umrissenes Gebiet, nicht Gelehrter. Brockmann versteht sich eher als „Nomade, der von Insel zu Insel hüpft“. Als einer, der auf Reisen geht, hinausfährt mit dem Schiff und schaut, was es zu entdecken gibt. „Ich glaube, das ist eine Frage der Persönlichkeit und der Neugier, immer neue Themen zu suchen, von denen man noch gar nichts versteht“, sagt Brockmann. Und damit auch das Wagnis einzugehen, grandios zu scheitern.

Wenn man denn den Hafen verlassen kann. Seine Tätigkeit als Modellierer für Infektionskrankheiten am RKI hat seine Forschungen in den Hintergrund treten lassen. Dazu kommen Talkshows, Interviews, in denen er die Pandemie und ihren Verlauf erklärt. „Ich bin coronamüde“, sagt er. Gerne würde er wieder aufbrechen, sich neuen Forschungen widmen. Zeigen, dass nicht Konkurrenz und Kampf, sondern Kooperation die Regel in der Natur ist. Wie etwa bei Flechten, ein Lebensverbund aus einer Pilzspezies und einer Algen- oder einer Cyanobakterienart.

Der dunkle Campus ist jetzt menschenleer. Wäre der Berliner Winter nicht so trostlos trübe, Brockmann würde jetzt auf seine alte Yamaha, Baujahr 1979, steigen. Rock ’n’ Roll eben.

Dieser Text stammt aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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