Mode und Stil der Zeit - Innen schlicht, außen technisch

Den Stil einer Zeit anhand von Mode zu erkennen ist in den vergangenen Jahrzehnten schier unmöglich geworden. Egal ob Salz, Shampoos oder Fastfood: Alles wird individualisierbar. Ist innere Schlichtheit daher der neue, unsichtbare Zeitstil?

Ausgemustert: An der Technik werden Zeitstile erkennbar / dpa
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Stefan aus dem Siepen ist Diplomat und Schriftsteller. Von ihm erschien zuletzt im Verlag zu Klampen „Wie man schlecht schreibt. Die Kunst des stilistischen Missgriffs“. (Foto: © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de)

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Zu Beginn eine Quizfrage: Wie viele Salzsorten gibt es in einem deutschen Supermarkt zu kaufen – eine, zwei oder drei? Antwort: über ein Dutzend! Der Kunde darf zwischen Fluorsalz, Ursalz, Steinsalz, Rauchsalz, mediterranem Biosalz, Atlantik-Meersalz sowie Himalaya-Kristallsalz wählen – um nur die gängigsten Sorten zu nennen. Die Deutschen sind nun einmal keine langweiligen Einheitsmenschen, sondern ihr (Salz-)Individualismus ist hoch entwickelt! Auch andere Regale im Supermarkt legen diesen Befund nahe, zum Beispiel das für Shampoos: Es gibt sie mit Zutaten wie grünem Tee, Macadamianuss, Bier, Kiwifrucht, Naturmolke, Koffein … Da sollte für jeden Haartyp etwas dabei sein.

Ein Berliner Schuhgeschäft wirbt mit dem Spruch: „Jetzt hier deinen Traumschuh gestalten; aus 20 Farben Wunschfarbe festlegen.“ Wer könnte der Versuchung widerstehen, sich seinen unverwechselbaren Individualschuh zu schaffen? Kreatives Selbermachen ist auch sonst im Kommen. In vielen Restaurants dürfen die Kunden ihr eigenes Essen zusammenstellen, zum Beispiel einen Burger aus 45 verschiedenen Zutaten. Fast Food wird zum Unikat – rechnerisch ergeben sich Millionen von Kombinationsmöglichkeiten. Mach dein Ding! Und wenn’s nur ein Dinkelburger mit Sojachicken und Teriyakisauce ist.

Wandelnde Individualismen

Sieht man sich alte Fotografien an, auf denen Menschen aus den dreißiger, den fünfziger, den siebziger Jahren abgebildet sind, erkennt man zuverlässig den Stil der Zeit: Kleidung, Haarschnitt und Gesichtsausdruck verbinden sich zu einer deutlichen Eigenart. Nicht so leicht ist es, den Stil des Jahres 2020 zu erkennen. Auf der Straße sieht man tausend Individualismen, die sich nicht zu einem Gesamttyp addieren, jeder folgt dem eigenen Geschmack oder Ungeschmack, führt seine ästhetische Privatmeinung spazieren. Dieses Phänomen gibt es schon länger: Das Straßenbild von 1980 sah wenig anders aus als das von 2010. Wer sich heute im Stil der fünfziger Jahre kleidet, fällt auf wie ein bunter Hund; im Stil der Neunziger oder Zehner kann er sich nicht kleiden, denn den hat es nie gegeben.

Seltsam: Wenn man sich mit den Superindividualisten unterhält, gewinnt man manchmal den Eindruck, dass sie wenig entwickelte Persönlichkeiten sind, einem ungefähr-immer-gleichen Typus angehören. Zwar hat der Turnschuh, den sie tragen, bestimmt ein unverwechselbares Design, und vermutlich haben sie ihr Shampoo selbst zusammengestellt; doch was sie sagen, besteht aus nicht gerade vielen Zutaten, und die Kombinationsmöglichkeiten sind gering. Könnte es sein, dass sie ihre Eigenständigkeit von innen nach außen verlagert haben? Gäbe es also doch einen Zeitstil, allerdings einen unsichtbaren: die innerliche Schlichtheit?

Technik als letzte Bastion

Alle blicken auf gleich aussehende Smartphones, schmücken ihr Heim mit gleich aussehenden Flachbildschirmen, bewegen sich in gleich aussehenden Autos. Na, also! Dem Durcheinander sind doch Grenzen gesetzt: Die Technik erweist sich als die letzte Bastion stilistischer Einheitlichkeit, sorgt für das ästhetische Signum der Zeit. Zugleich unterliegen ihre Formen einer steten Wandlung: Das Handy von 1995 war groß und klobig, sah aus wie ein Funksprechgerät, und niemand würde es mit dem Smartphone der jüngsten Fortschrittsstufe verwechseln. Im Kino hat das technische Design geradezu Signalfunktion angenommen: Dass ein Film nicht 2015, sondern 1980 spielt, erkennt der Zuschauer an der Form der Computerbildschirme. Woran auch sonst?
 

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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