Mitgefühl - Ist Egoismus sozialer als sein Ruf?

Egoismus gilt als große Schwäche und zentrales Merkmal des menschlichen Charakters. Aber stimmt das? Kann in einer Gesellschaft, in der sich Menschen stark mit Opfern identifizieren, Egoismus überhaupt das Kernproblem sein?

Hat der Mord eines achtjährigen Jungen den gesellschaftlichen Egoismus bestärkt? / picture alliance
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Matthias Heitmann ist freier Publizist und schreibt für verschiedene Medien. Kürzlich hat er das Buch „Entcoronialisiert Euch! Befreiungsschläge aus dem mentalen Lockdown“ veröffentlicht. Seine Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de.

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Zwei Tage nach dem grauenhaften Verbrechen am Frankfurter Hauptbahnhof stand ich nachmittags an Gleis 7. Hatte es tags zuvor am Rande der von der Bahnhofsmission organisierten Andacht noch einige hitzige Wortgefechte gegeben, so waren diese nun einer eher stillen Trauer gewichen. Viele Menschen hielten auf ihrem Weg durch die Bahnhofshalle an dem Blumenmeer kurz an, manche legten Blumen ab, kaum einer redete, jeder war irgendwie gedanklich bei sich und zugleich auch bei den Opfern, insbesondere dem kleinen Jungen, der so sinn- und grundlos getötet wurde.

Es sind solche Momente, in denen mir der fast täglich zu hörende Vorwurf, die Menschen würden alle immer nur an sich denken und kein Mitgefühl zeigen, so unendlich absurd vorkommt. Woher kommt dieser Egoismus-Vorwurf? „Egoistisch“ ist jemand, der sich ungerechtfertigt und ungerechterweise Vorteile zu verschaffen versucht, unabhängig von den Belastungen und Kosten, die er, ob gewollt oder ungewollt, anderen oder seiner Umwelt damit aufbürdet. Aber stimmt es wirklich, dass die Mehrheit der Menschen in erster Linie auf das eigene Wohl bedacht ist und dafür über Leichen geht? Leben wir tatsächlich in einer Welt, in der permanent die Ellenbogen zum Einsatz kommen und man dem Nachbarn nichts gönnt? Vielleicht hängt es davon ab, was man in der Welt sehen will. Wenn ich mich umschaue, kann ich überall Menschen sehen, die anderen helfen, die sich ehrenamtlich engagieren und Mitgefühl empfinden.

Der Glaube an das Positive

Zwar fehlt es der modernen Gesellschaft oft an Zusammenhalt, weil sich alte, inhaltlich begründete Bindungen und Solidaritäten zurückentwickeln. Die Ursache dafür liegt aber nicht an einer plötzlichen Zunahme des menschlichen Egoismus. Die Menschen zeigen sehr wohl Mitgefühl, wie es auch nun gerade wieder in Frankfurt spürbar ist. Es richtet sich auf die Opfer von plötzlich hereinbrechenden Katastrophen, von Verbrechen oder von Anschlägen. Hier mischt sich das Mitgefühl mit Fassungslosigkeit und hilfloser (und durchaus verständlicher) Passivität. Weniger häufig erlebt man es, dass Mitgefühl in kontinuierliches Engagement mündet. Dies liegt aber nicht an Desinteresse. Vielmehr ist der Glaube daran, dass Missstände durch eigenes Zutun zum Besseren verändert werden können, auf einen Tiefstwert zusammengeschmolzen. Insofern drohen Mitgefühl und Hilfsbereitschaft zu spontanen und kurzfristigen, aber auch zu stark ritualisierten Symbolhandlungen zu werden, durch die zwar keine echt Hoffnung entsteht, aber zumindest ein reines Gewissen, der humanen Pflicht Genüge getan zu haben. Echte und selbstbewusste Egoisten würden sich aber derartige Lippenbekenntnisse und Rituale sparen.

Mit dem Glauben daran, Dinge zum Positiven verändern zu können, und dem sich daraus speisenden Selbstbewusstsein ist es bei vielen Menschen in unserer Gesellschaft nicht weit her. Führt man sich vor Augen, in welch schwierigen Verhältnissen viele bei uns leben und wie häufig die Beschneidung von Freiheitsrechten achselzuckend und geradezu widerstandslos hingenommen wird, dann erscheint die These von der egoistischen Epidemie als reichlich unwirklich. Denn ein richtiger Egoist lässt sich nicht einfach die Butter vom Brot oder seine Vorstellungen von Freiheit wegnehmen. Sind vielleicht am Ende viele Menschen nicht egoistisch genug?

Gier ist zutiefst unpopulär

Uns wird heute beigebracht, dass wir uns unglaublich viel gefallen lassen müssen, um überhaupt weiterleben zu können. Seit vielen Jahren nehmen wir als Gesellschaft die Politik der schrittweisen Entmündigung wie auch das Proklamieren des Verzichts als moralisch wertvolle und unverzichtbare Haltung stillschweigend hin oder befürworten sie sogar. Mittlerweile gilt es als radikal-progressiv, wenn, wie kürzlich im Spiegel zu lesen, der Staat aufgefordert wird, endlich rigoroser Verbote zu verhängen und offensiver Freiheiten zu beschneiden. Die seit Jahren in diese Richtung tendierende Politik hat Spuren im allgemeinen Bewusstsein hinterlassen. Nur wenige sind bereit, ihre eigenen Interessen deutlich zu formulieren und sich dafür auch gegen Widerstände einzusetzen. Und wenn sie sich engagieren, dann erstaunlich häufig für die Interessen anderer, die sich nur schwer oder gar nicht äußern können (wie die Umwelt, der Planet Erde oder zukünftige Generationen) – alles andere gilt nämlich als „egoistisch“.

Natürlich ist unsoziales Verhalten keine Einbildung, und vielfach kann man menschliches Verhalten durchaus mit dem Begriff der „Ellenbogenmentalität“ beschreiben. Dennoch stellt sich die Frage: Macht man es sich in diesen Fällen mit der pauschalen Diagnose Egoismus nicht allzu leicht? Tatsächlich sind die meisten Menschen hinsichtlich der Ansprüche und Erwartungen an ihr eigenes Leben ziemlich zurückhaltend – und verteidigen diese auch gerade deswegen häufig mit Zähnen, Klauen und Ellenbogen, ohne dabei gierig zu sein. Gier ist nämlich zutiefst unpopulär. Das merkt man immer dann, wenn einzelne prominente Personen einen ausschweifenden Lebensstil pflegen. Wer hohe Ansprüche anmeldet und geltend macht, läuft Gefahr, von der großen Mehrheit geächtet und moralisch verurteilt zu werden. Ist die vermeintliche „Ellenbogengesellschaft“ nicht vielleicht eher die Folge fortschreitender Isolierung von Individuen und des Fehlens von ermutigenden, gemeinschaftlichen Zukunftsaussichten?

Die Moralkeule „Egoismus“ verstärkt Passivität

Das Paradoxe am sehr engstirnigen Ellenbogen-Egoismus ist: Er zerstört die Fähigkeit, tatsächlich Interessen zu vertreten, die über das eigene Leben hinausgehen und somit auch gesellschaftliche Bedeutung haben. Er reduziert somit den individuellen Spielraum und die eigene Freiheit – und damit das Selbstwertgefühl und auch das Weltbild vieler Menschen. Deswegen ist es auch nicht sehr realistisch anzunehmen, dass diejenigen, die am stärksten unter der Isolation sowie unter der permanenten Erfahrung leiden, Interessen nicht durchsetzen zu können, von sich aus konstruktive Muster erfolgreichen oder gar gemeinschaftlichen Handelns entwickeln. Sie spüren die Fliehkräfte am Rande der Gesellschaft am deutlichsten und haben ihnen oft am wenigsten positive Erfahrungen und Gründe für Optimismus entgegenzusetzen. Leider gelingt es zumeist nur starken Charakteren, sich aus eigener Kraft aus ihrer prekären Situation zu befreien.

Die eigentlich durchaus sinnvolle Aussage, dass jeder „seines Glückes Schmied“ sei, verliert an Relevanz in einer Gesellschaft, die fast schon allergisch auf Egoismen und das Streben nach Erfolg reagiert. Dies gekoppelt mit der gängigen Sichtweise, dass gesellschaftliche Missstände zumeist als Konsequenzen egoistischen Handelns interpretiert werden, führt direkt in einen Teufelskreis: Die Moralkeule „Egoismus“ verstärkt die Passivität, senkt die Hoffnungen auf die Zukunft und befördert den Rückzug ins Private, was dann wiederum als „egoistisch“ gebrandmarkt wird. Wenn also davon die Rede ist, dass die heutige Gesellschaft unter Egoismus leidet, so ist dies richtig und falsch zugleich. Es ist insofern richtig, als dass Interessen, wenn überhaupt, dann häufig aus der Perspektive einzelner (und sich schwach fühlender) Individuen heraus definiert und vertreten werden. Die Aussage ist aber falsch, wenn damit gemeint ist, dass Menschen immer mehr für sich fordern würden.

Die Erwartungen vieler Menschen an die Zukunft sind sehr niedrig – nicht zuletzt, weil die zunehmende Isolation dazu führt, dass sie ihre Gemeinschaftlichkeit immer seltener spüren. Engstirniges und egozentrisches Verhalten reflektieren eher das Herunterschrauben der eigenen Erwartungen. Wer sich dieser Nivellierung widersetzen will, muss hohe Erwartungen an sich und an andere haben, und er muss für seine Interessen einstehen und das auch von anderen erwarten. Genau an einem so verstandenen Gemeinsinn fehlt es heute leider oft. Wer wirklich seine Interessen durchsetzen möchte, wird sich mit anderen Menschen zusammenschließen. Dass dies heute nicht häufig geschieht, ist keine Folge überzogener Egoismen. Im Gegenteil: In Wirklichkeit sind viele Menschen nicht interessegeleitet und auch nicht egoistisch genug.

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