Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche - „Benedikt XVI. hat eindeutig gelogen“

Ein vom Erzbistum München und Freising selbst in Auftrag gegebenes Gutachten erschüttert die katholische Kirche: Demnach wurden Fälle sexueller Gewalt in der Diözese über Jahrzehnte nicht angemessen behandelt. Im Fokus stehen auch zwei ehemalige Erzbischöfe. Einer davon ist der emeritierte Papst Benedikt XVI.

Innenhof des Dienstgebäudes des Erzbischöflichen Ordinariats München und Freising / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Hier finden Sie Nachrichten und Berichte der Print- und Onlineredaktion zu außergewöhnlichen Ereignissen.

So erreichen Sie Cicero-Redaktion:

Anzeige

Ein vom Erzbistum München und Freising selbst in Auftrag gegebenes Gutachten erschüttert die katholische Kirche: Demnach wurden Fälle sexueller Gewalt in der Diözese über Jahrzehnte nicht angemessen behandelt. Besonders im Fokus stehen zwei ehemalige Erzbischöfe. Einer davon ist der emeritierte Papst Benedikt XVI.

In einem neuen Gutachten zu sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising erheben Betroffene schwere Vorwürfe, und die Justiz prüft, ob kirchliche Verantwortungsträger sich womöglich strafbar gemacht haben. Die Staatsanwaltschaft München I untersucht derzeit 42 Fälle von mutmaßlichem Fehlverhalten kirchlicher Verantwortungsträger, bestätigte die Sprecherin der Behörde, Anne Leiding.

Strafrechtlich relevantes Verhalten

Die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW), die das aufsehenerregende Urteil im Auftrag des Bistums verfasst hat, habe der Staatsanwaltschaft im August 2021 „41 Fälle zur Verfügung gestellt“, sagte Leiding, und einen weiteren Fall im November 2021. „Sie betreffen ausschließlich noch lebende kirchliche Verantwortungsträger und wurden stark anonymisiert übermittelt.“

Sollten sich auf dieser Basis „Verdachtsmomente hinsichtlich eines möglicherweise strafrechtlich relevanten Verhaltens der kirchlichen Verantwortungsträger ergeben“, würden die entsprechenden Unterlagen bei der Kanzlei angefordert und gegebenenfalls an die zuständigen Staatsanwaltschaften weitergegeben, sagte Leiding. „Welche strafrechtlichen Normen verletzt wurden, ist noch Gegenstand der Prüfung.“

Persönliches Fehlverhalten

Das vom Erzbistum München und Freising selbst in Auftrag gegebene WSW-Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass Fälle von sexuellem Missbrauch in der Diözese über Jahrzehnte nicht angemessen behandelt wurden und wirft den ehemaligen Erzbischöfen Friedrich Wetter und Joseph Ratzinger, dem heute emeritierten Papst Benedikt XVI., konkret und persönlich Fehlverhalten in mehreren Fällen vor.

Auch dem aktuellen Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, wird formales Fehlverhalten in zwei Fällen vorgeworfen. Von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern sprechen die Gutachter, gehen aber von einem deutlich größeren Dunkelfeld aus. Besonders brisant ist die Rolle Ratzingers. Denn die Gutachter gehen davon aus, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die Wahrheit gesagt hat.

Teilnahme Ratzingers belegt

Der renommierte Kirchenrechtler Thomas Schüller wird deutlicher: „Er hat eindeutig gelogen“, sagte Schüller am Donnerstagabend in einem ARD-„Brennpunkt“ zum Thema. Benedikt hatte immer wieder betont, an einer Sitzung im Jahr 1980 nicht teilgenommen zu haben, in der beschlossen wurde, dass ein Priester, der im Bistum Essen Jungen missbraucht hatte, nach Bayern versetzt werden soll. Ratzinger war von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising.

Die Kanzlei WSW legte ein Protokoll vor, wonach Ratzinger – anders als von ihm behauptet – durchaus an der Sitzung teilgenommen hatte. „Der Reputationsschaden für Benedikt ist groß, gerade weil er sich bisher stets als Kämpfer gegen sexuellen Missbrauch in der Kirche gezeigt hatte“, sagt der katholische Theologe Daniel Bogner.

Opfer ein zweites Mal brüskiert

Ratzingers Teilnahme an der Sitzung sei belegt, „weil das Protokoll Dinge referiert, die nur er wissen kann aus einem Gespräch mit Papst Johannes Paul II.“, betonte Schüller im ARD-„Brennpunkt“. Dass es bei diesem Gespräch ausgerechnet um die Entziehung der Lehrerlaubnis für Ratzingers langjährigen liberalen Widersacher, den Theologen Hans Küng, ging, nannte Schüller einen „Treppenwitz der Geschichte“.

„Er möchte heute nicht die Wahrheit sehen, sondern er leugnet sie und versucht, alle Verantwortung von sich zu schieben, und dadurch brüskiert er die Opfer ein zweites Mal“, kritisierte Schüller den emeritierten Papst. Der heutige Münchner Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, sei da schon weiter. „Er hat wirklich kapiert jetzt, dass er sich auf die Seite der Opfer zu stellen hat“, sagte Schüller. „Ob es zu spät kommt, werden wir sehen.“

Die Betroffene Agnes Wich sieht Marx’ Rolle dagegen anders und kritisierte scharf, dass er bei der Vorstellung des Gutachtens nicht anwesend war und später nur eine kurze Stellungnahme abgab. Eine ausführlichere soll in einer Woche folgen.

Rücktrittsforderung an Marx

Der Theologe Bogner hält nach den Enthüllungen des Gutachtens einen Rücktritt von Marx für angemessen. Es sei vorstellbar, dass der Erzbischof von München und Freising dem Papst als Reaktion auf das Gutachten erneut – wie schon im vergangenen Jahr – seinen Rücktritt anbiete, sagte der Professor für Moraltheologie und Ethik an der schweizerischen Universität Freiburg. „Und ich hoffe, er wird eine erneute Ablehnung durch Papst Franziskus diesmal nicht akzeptieren. Dies wäre ein zwar zunächst nur symbolisches, aber sehr starkes Zeichen dafür, dass die bisherigen Strukturen der Kirche so nicht weiter funktionieren.“

Das Münchner Gutachten werde die Kirchenaustrittszahlen wohl weiter in die Höhe treiben. Entscheidend sei nun, wie man damit innerkirchlich umgehe: „Bleibt es dabei, einzelne Personen zur Verantwortung zu ziehen, oder werden strukturelle Schlüsse daraus gezogen?“

Progressive Linie

Der deutsche Kardinal Gerhard Ludwig Müller hat den emeritierten Papst Benedikt XVI. derweil nach der Veröffentlichung des Münchner Missbrauchsgutachtens in Schutz genommen. „Sehen Sie, ich habe es nicht gelesen, aber für mich ist klar, dass er als Erzbischof Ratzinger nicht wissentlich etwas falsch gemacht hat“, sagte der frühere Bischof von Regensburg der italienischen Zeitung Corriere della Sera. Nach Ansicht des 74-Jährigen werde mehr über Ratzinger als über den Fall des Priesters H. oder andere Priester gesprochen, die Verbrechen begangen haben.

Überrascht ist Müller nach eigenen Worten davon nicht. „In Deutschland, und nicht nur dort, ist man daran interessiert, Joseph Ratzinger zu schaden“, erklärte Müller. Ratzinger vertrete sozusagen eine orthodoxe Position, aber in Deutschland gebe es viele, die auf eine abweichende Position drängten, wie die Abschaffung des Zölibats oder Frauenpriesterschaft. Diese progressive Linie sei störend, sagte Müller.

Angesichts der Vorwürfe im Umgang mit sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising zur Zeit Ratzingers ist es laut Müller offensichtlich, dass, wenn es Fehler gab, Ratzinger davon nichts wusste. Damals habe es nicht das Bewusstsein und die Protokolle von heute gegeben. „Niemand wusste, was zu tun war, wie man angemessen reagieren sollte, in der Kirche wie in der Zivilgesellschaft“, erklärte der Gründer des 2008 eingerichteten Instituts Papst Benedikt XVI. weiter.

Zeit der Gutachten vorbei

Die Autorin und Ratziger-Kritikerin Doris Reisinger hofft nach der Vorstellung des Münchner Missbrauchsgutachtens auf eine andere Betrachtung des emeritierten Papstes Benedikt XVI. „Der Hammer dieses Gutachtens ist: Wir wissen jetzt, dass Ratzinger bereit ist, öffentlich zu lügen, um sich seiner Verantwortung zu entledigen“, sagte Reisinger dem Kölner Stadt-Anzeiger. „Wie dreist oder wie verzweifelt muss man sein, um so etwas zu tun?“

Reisinger hat gemeinsam mit dem Filmemacher Christoph Röhl das Buch „Nur die Wahrheit rettet“ über die Rolle von Joseph Ratzinger im Missbrauchsskandal der katholischen Kirche verfasst. Sie hoffe nun nach Benedikts Einlassungen in dem Gutachten auf ein Ende des „Mythos“ vom Chefaufklärer. Dieser Ruf Ratzingers sei in weiten Kreisen bis heute ungebrochen.

Reisinger forderte in der Zeitung juristische und politische Konsequenzen: „Werden Politik und Justiz die Samthandschuhe fallen lassen, mit denen sie die Kirche allzu lange angefasst haben?“, sagte sie. „Die Zeit der Gutachten ist vorbei.“

(Quelle: dpa)

 

Anzeige