#Metoo-Debatte - Wenn Sex gar nicht sexy ist

Die Kampagne um den Hashtag #Metoo gegen sexuelle Übergriffe beherrscht Holly­wood. Bei aller Berechtigung ist sie aber nicht frei von Doppelmoral und Überreaktionen

Kevin Spacey wird wohl in keinem Film mehr auftreten. Berechtigter Schritt oder Heuchelei? picture alliance
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Rüdiger Sturm ist Filmkritiker und lebt in München. Er recherchiert als Filmjournalist die Branche im In- und Ausland

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Chronisten, aufgemerkt: „Bei all seinen Aktivitäten glaubte er, er würde etwas Gutes für die Menschheit tun.“ Es ist ein Satz von filmhistorischer Relevanz, der an einem heißen Julimittag in einer ehemaligen Autowerkstatt außerhalb von Rom fällt. Das liegt nicht am Inhalt, sondern am Sprecher: Kevin Spacey bezog sich damit auf Ölmilliardär John Paul Getty, den er gerade in dem Thriller „Alles Geld der Welt“ spielte. Normalerweise wäre es ein belangloses Zitat an einem Filmset gewesen. Jetzt sind es die letzten Worte, die von dem Oscar-Gewinner bis auf Weiteres bei Dreharbeiten zu hören sein werden.

Wegen Anschuldigungen von sexueller Belästigung in mehr als 30 Fällen zog sich der 57-Jährige aus der Branche zurück und musste seinen Stuhl als US-Präsident in der Serie „House of Cards“ räumen. Sein Einsatz in Rom bleibt der Öffentlichkeit vorenthalten. In einem einmaligen Akt schnitt man ihn aus dem fertigen, in Deutschland für den 15. Februar 2017 terminierten Film und drehte seine Szenen mit dem altgedienten Kollegen Christopher Plummer neu. Für Regisseur Ridley Scott keine Ruhmestat. Diese Konsequenz war die surrealste in der Welle von Belästigungs- und Vergewaltigungsskandalen, die Hollywood erfasst hat, seit über 80, teils hochprominente Frauen die mutmaßlichen Vergehen von Filmmogul Harvey Weinstein offenlegten. Bis Ende November hatte allein die Polizei von Los Angeles 28 Verfahren wegen Sexualstraftaten gegen Vertreter der Show- und Medienbranche eröffnet.

Eine ganze Branche in nervöser Anspannung

Längst geht es nicht mehr um gravierende sexuelle Gewalt wie im Falle Weinsteins, sondern auch um chauvinistische Grapschereien – etwa bei John Lasseter, dem Chef des legendären Animationsstudios Pixar, der offenbar bei seinen weiblichen Angestellten ungefragt auf Tuchfühlung ging und nun vorsorglich ein sechsmonatiges Sabbatical einlegt. So gesehen ist es kein Wunder, wenn die ganze Branche von nervöser Anspannung erfasst ist. Als etwa Woody Allen Interviews zu seinem neuen Film „Wonder Wheel“ absolvierte, war jeder Journalist angehalten, dieses Thema nicht zu erwähnen. Verschiedene Regisseure und Produzenten, die für diesen Artikel kontaktiert wurden, wollten sich nicht zu diesem „Skandalsumpf“ äußern. Paul Verhoeven, bekannt für provokante erotische Thriller wie „Basic Instinct“, hatte „nicht das Gefühl, etwas Sinnvolles zu dieser Diskussion beitragen zu können“. Andere Insider waren nur bereit, ohne namentliche Nennung zu sprechen.

Doch warum bricht sich die Debatte gerade jetzt Bahn? Etliche der nun zitierten Fälle sind über zehn Jahre alt – so bei Moderatoren-Ikone Charlie Rose, der nach mehreren Vorwürfen sexueller Belästigung von seinem Sender CBS geschasst wurde. „Früher dachten sich alle Betroffenen: Man wird mich als Lügner bezeichnen, der Täter wird ungestraft davonkommen, und die Presse wird nichts berichten. Du musstest Idiotenpillen nehmen, um das zu tun“, sagt Produzent Mark Gill („Olympus Has Fallen“), ehemaliger Top-Manager bei Weinsteins früherer Firma Miramax. Dann gab es indes laut Gill eine Initialzündung: den Gerichtsprozess um den mehrfacher Vergewaltigung angeklagten Bill Cosby.

Entrüstung mit einer guten Portion Scheinheiligkeit

Hinzu kommt: „Dieses Problem betrifft nicht nur die Filmindustrie, sondern auch weniger publikumswirksame Branchen“, so Produzent Bill Mechanic („Hacksaw Ridge“), ehemaliger Chef des Studios Twentieth Century Fox. Aber nur wenige Industriezweige sind derart sexualisiert wie Hollywood. „Die Hälfte der jungen Mädels, die von einer großen Karriere träumen, landet im Valley bei den Pornofilmen. Das wissen alle. Und bei der anderen Hälfte gibt es eine ganze Menge, die nichts dagegen haben, mit jemand wie Herrn Weinstein für eine Rolle ins Bett zu gehen“, so ein Produzent, der mit verschiedenen Beschuldigten, darunter auch Kevin Spacey, arbeitete.

Wenn sich jetzt die Entscheider und Kreativen entrüsten, schwingt eine gehörige Portion Scheinheiligkeit mit. Nach Studiochefs wie Darryl Zanuck oder Harry Cohn sind Gebäude und Auszeichnungen benannt, obwohl längst bekannt ist, dass diese sich regelmäßig junge Starlets zuführen ließen. Der Chef von Metro-Goldwyn-Mayer, Louis B. Mayer, begrapschte jahrelang Judy Garland. Marilyn Monroe, die nach eigenem Bekunden schon mal Sex gegen Rollen tauschte, bezeichnete Hollywood nicht umsonst als „überfülltes Bordell“.

Fehlverhalten wurde auch später toleriert. Vor 14 Jahren erhielt Roman Polanski, für die Vergewaltigung einer Minderjährigen verurteilt, den Oscar als bester Regisseur – und der Saal spendierte stehende Ovationen. „Heutzutage wäre das wahrscheinlich nicht mehr möglich“, so Produzent Bill Mechanic. Die testosteronbefeuerten Befindlichkeiten spiegeln sich in der Sprache. TV-Autoren, die gemeinsam an einem Drehbuch arbeiten wollten, nennen das immer noch „Let’s gangbang that bitch“. Auswüchse ließen sich nur mit klaren Verhaltensregeln eindämmen: „Ich hätte nie im Traum daran gedacht, eine junge Schauspielerin mit einem Regisseur aufs Zimmer zu schicken“, so der oben zitierte Produzent von Kevin Spacey.

Die Vorfälle, die jetzt angeprangert werden, sind Reflex einer Sexualmoral, die sich nicht so schnell verändern lässt. Denn dies ist auch eine Frage grundlegender Strukturen: „Ein nachhaltiger Wandel lässt sich nur erreichen, wenn wir mehr weibliche Regisseure haben“, so Mark Gill. 2016 wurden von den 250 erfolgreichsten Filmen der USA 7 Prozent von Frauen inszeniert.

Zweifelhalfte Anschuldigungen

Allerdings gibt es Grund zur Annahme, dass diese Veränderungen bereits begonnen haben. Die Blockbuster der Branche werden zunehmend von weiblichen Heldinnen angetrieben – ob die „Star Wars“-Serie, die von Studiochefin Kathleen Kennedy gesteuert wird, oder „Wonder Woman“, inszeniert von Patty Jenkins. „Die Sensibilität für solche Themen ist gewachsen – und damit auch die Bereitschaft, Filmteams stärker mit Frauen zu besetzen“, so die oscarprämierte Regisseurin Kathryn Bigelow.

Andererseits mag die Me-too-Kampagne nicht nur positive Entwicklungen befördern. Nicht jede der dabei geäußerten Anschuldigungen muss den Tatsachen entsprechen. So nahm Volker Schlöndorff seinen Hauptdarsteller Dustin Hoffman in Schutz, der beim Dreh von „Tod eines Handlungsreisenden“ angeblich eine Praktikantin behelligte. Sylvester Stallone, der eine 16-Jährige zum Oralsex gezwungen haben sollte, bekam von seiner Ex-Frau Brigitte Niel­sen ein Alibi.

Auch aus der Vergangenheit sind zweifelhafte Fälle bekannt. 2014 wurde Regisseur Bryan Singer („X-Men“) bezichtigt, einen Nachwuchsschauspieler zum Sex genötigt zu haben, doch der Beschuldiger zog die Klage zurück und er wurde wegen anderer Vergehen verurteilt. Zweifel erscheinen bei den klassischen Sexskandalen der Branche angebracht: Komiker Fatty Arbuckle, dem man vorwarf, eine junge Frau beim Sex getötet zu haben, wurde freigesprochen, da sein Fall etliche Ungereimtheiten aufwies – etwa eine Hauptbelastungszeugin, die von ihm Geld hatte erpressen wollen. Von Alfred Hitchcock hat sich die Meinung festgesetzt, dass er seine blonden Stars wie Tippi Hedren bedrängte. Seine „Vertigo“-Hauptdarstellerin Kim Novak hingegen meint: „Er hat sich mir und allen anderen gegenüber wie ein absoluter Gentleman verhalten. Mein Partner James Stewart hätte mich definitiv gewarnt, wenn es Anlass zur Befürchtung gegeben hätte.“

Ökonomische Zwänge fördern rigide Schritte

Die aktuellen Vorwürfe mögen dennoch in vielen Fällen zutreffen, aber eines darf nicht vergessen werden: Bislang ist keiner der Beschuldigten strafrechtlich verurteilt worden. Unschuldsvermutungen indes gelten jetzt nicht mehr ohne Weiteres. Jeffrey Tambor, preisgekrönter Hauptdarsteller der Amazon-Serie „Transparent“, nahm seinen Hut, obwohl er beteuerte, „niemals übergriffig“ geworden zu sein.

Die Gründe für diese rigiden Schritte sind nicht zuletzt ökonomischer Natur. Und diese greifen ungleich schneller und umfassender als jeglicher Kulturwandel, der mittelfristig für eine größere Gleichberechtigung sorgen könnte. Anders als bei den meisten Unternehmen sind die Produkte der Medienbranche viel stärker an die beteiligten Personen gekoppelt. Einem Anleger etwa mag es gleichgültig sein, ob es in einem Finanzhaus Fälle sexueller Nötigung gibt. In Film und Fernsehen sind die vorgeblichen Straftäter zugleich Aushängeschilder eines Projekts. Wäre Kevin Spacey in „Alles Geld der Welt“ präsent geblieben, hätten dessen Finanziers mindestens das Budget von 40 Millionen US-Dollar abschreiben müssen. Nach der gleichen Logik haben auch Regisseure, Autoren, Moderatoren oder Produzenten zu weichen, wenn sie Marktchancen eines Formats gefährden. Ein Disney-Konzern kann es nicht zulassen, dass die Tochterfirma Pixar von einem Skandal erschüttert wird, während gerade der Start eines neuen Trickfilms bevorsteht. Da wird ein John Lasseter, den die Öffentlichkeit mit dieser Marke identifiziert, eben vorsorglich aus der Schusslinie genommen.

Aufgrund dieser übermächtigen wirtschaftlichen Interessen darf man optimistisch sein, dass die Obsessionen Hollywoods zurechtgestutzt und Strukturen eingeführt werden, die sexuelle Übergriffe verhindern. Aber wenngleich Film längst ein ökonomisches Spekulationsobjekt ist, fordert er als künstlerisches Werk auch Grenzüberschreitungen. Diese könnten künftig schwieriger werden, wie der Fall Oliver Stone zeigt – der eine Interviewanfrage ebenfalls nicht beantwortete. Beim Vorsprechtermin für seinen exzessiven Rock ’n’ Roll-Film „The Doors“ fühlte sich eine Schauspielerin erniedrigt – worüber sie sich mit 27 Jahren Verspätung beschwerte.

Selbst wenn ihre Klagen berechtigt sein sollten, zeigt sich doch eine problematische Tendenz. Künftig dürften sich Regisseure hüten, bevor sie ihren Mitstreitern Unangenehmes abverlangen, das zu Fehlinterpretationen einlädt. „Auf jeden Fall wird die Branche bei der Darstellung sexueller Themen vorsichtiger sein“, so Bill Mechanic. Aber wenn das der Preis ist, um Fälle wie Weinstein oder Spacey zu vermeiden, dann bleibt nichts anderes übrig, als ihn zu zahlen.
 

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