Identitätspolitik und Generationenkonflikt - Was Herzogin Meghan und Wolfgang Thierse trennt

Zwei Prominente äußern sich zu Themen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Auf den zweiten Blick haben beide denselben Kern. Und der zeigt die Ursache der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft.

Der britische Prinz Harry und seine Frau Meghan Markle scheiden aus der „Firma“ aus / dpa
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Autoreninfo

Julien Reitzenstein befasst sich als Historiker in Forschung und Lehre mit NS-Verbrechen und Ideologiegeschichte. Als Autor betrachtet er aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen.

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Der Umgang mit den Äußerungen von Wolfgang Thierse und der Herzogin von Sussex schlägt Wellen. Thierse hatte unter anderem festgehalten, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt durch Betonung von Verbindendem gestärkt wird – und Identitätspolitik das Gegenteil bewirke. Das Interview Oprah Winfreys mit der Herzogin von Sussex und ihrem Gatten hat viele Menschen berührt. Faktenchecks zeigen, dass es schwer zu bewerten ist, was sich tatsächlich ereignet hat, was von den Beteiligten jeweils unterschiedlich wahrgenommen wurde und was frei erfunden sein mag.

Protokollerfordernisse und Pflichten

Jedoch sind zwei Dinge klar: Jeder weiß, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was jemand mit einer Äußerung meint und dem, wie es von anderen empfunden werden kann. Insofern scheint das Interview in weiten Strecken banal. Ebenso ist klar, dass Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt freiwillig in bestimmte soziale Strukturen verlegen, nicht erwarten können, dass sich diese Strukturen ihretwegen radikal verändern werden. Vielmehr wird in diesen Strukturen die Anpassung der neu Hinzugekommenen erwartet.

Wer beispielsweise in eine bekannte Mafia-Familie heiratet, wird andere Regeln des Zusammenlebens erwarten müssen als in einer Sozialpädagogenfamilie. Ein Einheiraten in eine strenggläubige Mullah-Familie Irans zieht ein anderes Familienleben nach sich, als in eine liberale Nudistenfamilie. Kurzum: Es ist wenig glaubhaft, dass jemand vor der Einheirat in die bekannteste Familie der Welt nie von den dortigen Protokollerfordernissen und Pflichten gehört hat. Der Herzog wäre ein Schuft, hätte er seiner Braut erst nach der Hochzeit davon berichtet.

Ein Kind ihrer Generation

Ist das Erstaunen darüber, dass nach der Ehe das Einhalten von Regeln eingefordert wird, nur geschauspielert? Ist es ein Skandal, wenn ein Personalbüro mitteilt, dass es nur für die medizinische Versorgung von Personal zuständig ist, nicht aber für Leistungsgewährung an Nichtangestellte? Ist es glaubhaft, dass dann nicht der behandelnde Arzt für Geburtshilfe oder der eigene Gatte gefragt wird, wo man weitere Behandlungen anfragen kann? Ist die Empörung, dass das Personalbüro keine Behandlung ermöglicht hat, einfach nur albern?

Überhaupt nicht! Die Empörung der Herzogin wirkt ehrlich und auch richtig. Jedenfalls wenn man in Betracht zieht, dass sie ein Kind ihrer Generation in einer westlichen Gesellschaft ist. Denn zweifelsfrei ist sie kein Kind der Generation ihres Schwiegervaters, des Fürsten von Wales und der von Wolfgang Thierse. Deren Generation wurde erzogen von Menschen, die ein anderes Verständnis von Gemeinwohl hatten. Pflichtgefühl, Selbstaufopferung und Zurückstellen individueller Bedürfnisse waren in jener und den vorgehenden Generationen nicht nur common sense. Sie waren überlebenswichtig.

Die richtige Lebensphilosophie 

Dazu zählt nicht nur, dass von Männern erwartet wurde, für den Schutz von Schwachen und Verletzlichen gegen Krieg und Naturkatastrophen ihr Leben zu opfern. Dieser Tage verlangt der Schutz der Schwachen und Verletzlichen nur noch das Tragen einer Maske – wird aber von vielen, auch jungen Menschen als Zumutung empfunden.

Denn immer mehr Menschen lernen – und werden zunehmend fleißig belehrt – dass ihre individuellen Wohlfühlbedürfnisse der einzige relevante Bewertungsmaßstab sind. Zusammenhänge, Antizipation, Toleranz und Verständnis sind bei dieser Lebensphilosophie nur hinderlich. Förderlich für das Wohlbefinden ist hingegen die Empörung über die zu ertragenden Zumutungen für sich selbst oder jene Gruppen, die man patronisiert. 

Der Begriff Identitätspolitik 

Die Online-Enzyklopädie Wikipedia definiert: „Der Begriff Identitätspolitik ist eine Zuschreibung für politisches Handeln, bei dem Bedürfnisse einer spezifischen Gruppe von Menschen im Mittelpunkt stehen.“ Wolfgang Thierse hat legitimerweise darauf hingewiesen, dass es der Demokratie schadet, wenn immer neue Gruppen sich durch Forderungen von anderen absetzen, statt das Verbindende zu betonen. Es wäre auch nicht falsch zu fragen, ab wann identitätspolitische Bedürfnisse und das auf der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz basierende Konzept der Demokratie zu Gegensätzen werden.

Denn die Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn es Menschen gibt, die ihre individuellen Bedürfnisse zurückstellen, weil kurz vor Dienstschluss ein Rettungshubschrauber Schwerverletzte Unfallopfer in die Klinik einlieferte. Und wer sich entschließt, in einem Sondereinsatzkommando der Polizei oder in der Bundeswehr zu dienen, ist sich im Klaren, dass seine individuellen Bedürfnisse im Einsatz eher ignoriert werden. 

„Awareness und Sensibilität“

Das Vertrauen in und der Respekt vor den Institutionen ist ein Pfeiler der Demokratie. Diese Werte der Demokratie wären nicht aufrechtzuerhalten, wenn die Menschen im Kern der Institutionen ihre Individualität durch Motorradausflüge mit den Hells Angels, Veranstalten von Sex-Parties oder Nebentätigkeiten als Hütchenspieler an Touristen-Hotspots ausleben würden. 

Viele identitätspolitische Aktivisten fordern awareness und Sensibilität für sich und für die von ihnen patronisierten Gruppen ein. Das ist berechtigt. Doch es gehört zum Anstand, dies auch für andere aufzubringen – sogar, wenn sie die eigene Meinung nicht teilen. Zudem gehört es zum demokratischen Prozess – und nichts anderes ist das Neuverhandeln von Macht- und Aufmerksamkeitspositionen - durch Austausch von Argumenten Situationen zu verändern. Dazu gehören aber die Fähigkeit zuzuhören, zu antizipieren und auch nachgeben zu können. Und das Zurückstellen von Individualbedürfnissen, wenn es um den Erhalt des Verbindenden geht. 

Die „Firma“ verlassen

Dem Herzog und der Herzogin von Sussex war möglich, was seit rund 1.000 Jahren noch keinem royalen Paar in der britischen Königsfamilie ermöglicht wurde: Die „Firma“ zu verlassen und ein eigenes Leben ohne royale Pflichten und Privilegien zu führen. Diese Freiheit ist ein Fortschritt. Das hat auch die Queen verstanden. Die Mitglieder und Wähler der SPD erwarten heute andere Dinge von ihrer Partei, als noch vor 30 Jahren: als Wolfgang Thierse eintrat, Homosexualität strafbar war und der Bund Gleichstellungsbeauftragte noch nicht gesetzlich vorsah. Diese Entwicklungen sind Fortschritt. Das hat auch Thierse verstanden. 

Die Generation der Herzogin von Sussex ist die zukünftige Mitte der Gesellschaft. Ihr kommt es zu, überkommene Privilegien zu kritisieren, Neuerungen zu fordern und sich über Ungerechtigkeiten zu empören. Aber dazu bedarf es der Empathie mit der Generation Pflichterfüllung und ihren Erfahrungswerten, die eben nicht allein Verteidiger von Privilegien sind. Das gelingt nur, wenn die Generation Meghan bereit ist, eigenes Handeln zu hinterfragen – im Dialog mit der Generation Thierse. Die Einigkeit über die bereichernde Vielfalt eines jeden und die Gleichheit vor dem Gesetz verbinden. 

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