Ein Appell wider die Fernstenliebe - Viel Gefühl, wenig Kenntnis

Nicht nur in den Medien herrscht eine obsessive Anteilnahme an allem und jedem. Zwanghafte Einfühlung, Sensationslust und Sentimentalität verkleistern aber die Wirklichkeit

Erschienen in Ausgabe
Mitgefühl und Anteilnahme, normalerweise für die engere Umgebung reserviert, werden auf eine abstrakte Weltgemeinschaft übertragen / Illustration: Kati Szilágyi
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Autoreninfo

Edmund Schalkowski leitet die Akademie für Journa­listenausbildung in Hamm und war Tageszeitungsredakteur

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Gelegentlich in den Zirkeln der Klugen und Kultivierten zu verkehren, ist ein zwiespältiges Vergnügen. Herzerfrischend die Ironie, die Weltläufigkeit, der Sinn für die feinen Unterschiede in Geschmack und Lebensstil, irritierend aber die totale Kritik, die nichts lässt, wie es ist, sondern alles auflöst in Schein: die Geschlechterdifferenz? Natürlich eine soziale Konstruktion vonseiten der männlich dominierten Welt. Recht und Rechtsstaatlichkeit? Selbstverständlich eine Maskierung von Unrecht und Rechtlosigkeit der Armen. Die Finanzkrise in den südlichen EU-Staaten? Ein perfides Instrument der Ausbeutung durch das Finanzkapital des Nordens.

Noch verwirrender aber die gerade­­zu obsessive Anteilnahme, der nichts entkommt, was auf der weiten Erde sich zuträgt. Die keine sozialen oder nationalen Distanzen, keine historischen und gesellschaftlichen Differenzen kennt, sondern sich in alles und jeden einfühlt, mit allem und jedem leidet: kein Hartz-IV-Empfänger, dessen Entwürdigung durch das staatliche Almosen nicht bitter beklagt wird; kein afrikanischer Kindersoldat, für dessen gescheitertes Leben man sich nicht verantwortlich fühlt; kein Altnazi, für dessen falsche Lebensentscheidung man sich nicht in Grund und Boden schämt.

Sind derart hochtourige Kritik und überbordende Empathie Zufallsfunde, modische Attitüden des Zeitgeists, oder haben diese Phänomene Verankerungen unterhalb der gesellschaftlichen Oberfläche? Die Sentimentalisierung dürfte zusammenhängen mit einer revolutionären Umwälzung der Presse um 1900, speziell mit der Erfindung einer neuen Erzählform. Dieses auf die Massen zugeschnittene Format prägt seitdem nicht unerheblich die Art und Weise, wie die Leser die Welt sehen und erleben. Was macht sentimentales Erzählen aus? 

Klischees von Leid und Elend

Der Anfang einer Reportage aus dem Südsudan, erschienen in der Zeit am 6. Juli 2017: „Nur ein einziger Fisch. Er liegt auf dem Boden des Bootes und windet sich im Todeskampf. Er öffnet sein Maul, schnappt, reißt es auf, als wolle er das Leben erzwingen, erlahmt dann, wird ruhiger, bis er reglos ist.

Das Kind, das das Boot durch eine endlose Wasserlandschaft steuert, ganz allein, hält sich mit Mühe aufrecht. Ein Junge mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht. Neun Jahre alt, James Mawieh Bol, nackte dürre Beine. Über der schmalen Brust ein zerrissenes Hemd. Er drückt mit beiden Händen eine lange Holzstange hinter sich. Meter um Meter schiebt er das Boot voran … Als er gegen Mittag zu seiner Familie zurückkehrt, auf die kleine Insel mit der Hütte seines Vaters, stolpert er vom Boot, erschöpft, in seiner rechten Hand der Fisch … Mehr hast du nicht gefangen?, fragt der Vater, der zu krank ist, um selbst zu fischen. Der Junge bleibt stumm, presst die Lippen aufeinander. Er weiß, was er seiner Familie an diesem Tag nach Hause bringt: den Hunger.“

Der Autor platziert den Leser mitten in eine drama­tische Situation, in der er ihn gleichsam mit eigenen Augen und Ohren erleben lässt, was er selber erlebt hat. Und was dieser nun sieht und hört, bedarf zur Wahrnehmung keiner geistigen Anstrengung; es sind Klischees, die haargenau ins Bild passen und abrufbereit in jedermanns Bildgedächtnis liegen: eine von Krieg und Elend bedrohte Familie, ein minderjähriges Kind, das mit letzter Kraft seine Angehörigen vor dem Hunger retten will, ein kranker, verzweifelter Vater. Diese Technik überspringt die rationale Kognition, sie zielt auf eine Seelenregion, wo man fühlt und empfindet. Sie will rühren, Mitleid erwecken, aus der Herzenskälte reißen. Aber ist das die Aufgabe des Journalismus? Sollen die Medien nicht lieber einer trockenen Arbeit nachgehen: Informationen beschaffen, prüfen und weitergeben sowie diese Informationen einordnen und bewerten?

Die Ursprünge dieser Erzählform

Als amerikanische Journalisten aus New York und Chicago Ende des 19. Jahrhunderts anfingen, in den Slums der Schwarzen, den Immigrantengettos, den korrupten Polizeirevieren zu recherchieren, hatten sie etwas völlig Neuartiges im Sinn. Mit ihren Geschichten wollten sie nicht mehr auf traditionelle Weise, sachlich und objektiv, berichten oder kritisieren. Sie wollten ins Herz der Dinge vorstoßen, wo die Menschen leiden und lieben, kämpfen und untergehen, und mit ihren hautnahen Schilderungen die Leser packen und schockieren. Dazu mussten sie am Leben der Menschen, die sie beschreiben, teilnehmen und sich deren Dasein mit allen Sinnen aussetzen. 

Josiah Flynt Willard, eine legendäre Gründerfigur, zog mit Obdachlosen umher und schrieb dann stilbildende Texte, veröffentlicht 1899, „Tramping with Tramps“. Für dieses Verfahren galt es, eine neue Erzählform, Reportage und Porträt genannt, zu finden, mit der die Leser die Erlebnisse des Reporters miterleben sollten, als ob sie dabei gewesen wären. Eine Erzählform, deren Leitbild die Wahrhaftigkeit subjektiver Erfahrung, nicht die Richtigkeit der Fakten und die Schlüssigkeit der Argumentation ist.

Der Boulevard-Journalismus ist geboren

Damit hat die um dieselbe Zeit entstehende Massenpresse das Format gefunden, mit dem sie den Sensationshunger ihres Publikums stillen kann. Das heutige Boulevard hat den emotionalen Zugriff nach und nach perfektioniert, seine Themen sind Verbrechen und Sex, Tiere (süß oder gefährlich), Sport und Prominenz (bewundert oder peinlich), Unglücke und Absonderlichkeiten (hässlich oder kurios), präsentiert mit einer reißerischen, aufstachelnden Erzähltechnik. Grundiert wird die Mischung mit unterschwellig wirkenden Stereotypen: „Die Reichen und Mächtigen bedienen sich zuerst, der kleine Mann zahlt die Zeche.“ „Die da oben sind die Bösen, wir hier unten die Guten.“ „Es gibt keine Gerechtigkeit, aber das Schicksal: Die Reichen und Schönen haben am Ende zu bezahlen.“

Die seriöse Presse ist auf den Sentimentalitätszug aufgesprungen, gibt ihm aber eine weltschmerzhaft-elegische oder engagiert-politische Wendung. Da hat man dann Mitgefühl mit dem Orgelbauer aus Nordbayern, dessen Handwerk unaufhaltsam dem Ende zugeht, oder dem Bewohner der Wagenburg in Kreuzberg, der für sein selbstbestimmtes Leben unter den repressiven Verhältnissen kaum noch Chancen sieht. Oft verbindet sich diese Einstellung mit dem Klischee von einem heimtückischen Feind, den man verschwommen hinter allem am Werke sieht: Kapitalismus, Globalisierung, wahlweise auch internationale Großbanken, Nationalstaat, besser, weil mit keinerlei Inhalt zu füllen: Entfremdung, Ungerechtigkeit, Verfall der Werte. 

„Alles tut weh“

Hier, in der Verbindung von Sentiment und Klischee, hat die Bezeichnung Sozialkitsch ihren festen Boden, auch in den seriösen Medien und auf breiter Front. Noch einmal Anfang und Ende einer Selbsterfahrungsreportage. Die Autorin geht bei den Krawallen anlässlich des G-20-Gipfels in Hamburg mit den Demonstranten auf die Straße. In der FAS las man am 9. Juli 2017: „Das ist kein Körper mehr, kein Mensch, ich fühle nichts. Wie einen Ball schmeißen sie mich nach links, nach rechts. Es sind vermummte Polizisten, Riesen in breiten Uniformen, mit dicken Helmen. An diesem Abend sind sie auch keine Menschen mehr. Sie sind Maschinen. … Am Morgen spielt die Stadt dasselbe Spiel, es läuft dasselbe Ritual, aber mit mehr Gewalt als gestern. Vor dem Hotel schlafen die Wasserwerfer, erwachen manchmal, werfen Wasser. Jeder ist immer noch in seiner Rolle. So geht der Tag. Am Abend meldet sich der Körper, den gestern die Maschinen pressten, schubsten. Alles tut weh. Ich will raus aus dem Ritual, das diese Stadt durchzieht – zurück in die Realität.“

Außerdem sei erwähnt, alle Texte sind innerhalb von zwei Wochen erschienen: eine Reportage über die 18-jährige Amina aus Syrien, die mit 15 Jahren in einem Flüchtlingslager im Libanon verheiratet wird. Nach drei Monaten zieht sie zu ihren Eltern zurück und warnt jetzt ihre Landsleute vor derartigen Versuchen, dem Elend zu entkommen (SZ vom 8./9. Juli); ein Porträt über einen türkischen Vater, der in einen islamischen Sufi-Orden eintritt und seine beiden Söhne zum Eintritt bewegt. Als er die terroristische Indoktrination erkennt, tritt er aus. Seine Söhne haben sich ihm entfremdet (Die Zeit vom 29. Juni); eine Reportage über den Angestellten Marcel Jansen, der in der Buchhandlung Ludwig am Kölner Hauptbahnhof arbeitet. Er wehrt sich gegen die Schließung des traditionsreichen Ladens zugunsten der Bundespolizei (SZ vom 7. Juli).

Alarmsignale

Diese wohlmeinende Mobilisierung der Gefühle durchzieht die Berichterstattung führender Medienhäuser als eine sanft einschmeichelnde Hintergrundmelodie. Sie ist Teil einer allgegenwärtigen Betroffenheitskultur. Die Kirchen sind führend; sie inszenie­ren, vor allem auf den Kirchentagen, Hochzeiten globalen Engagements, wobei sie den Nöten der Welt ausschließlich mit religiöser und gesinnungsethischer Moral zu Leibe rücken, ohne sich viel um politische und ökonomische Hindernisse zu scheren. Es gehören die Wohlfahrtsverbände dazu; insbesondere beim jährlichen Ritual der Vorlage des (fragwürdigen) Armutsberichts artikulieren sie theatralisch ihre Sorgen vor der Spaltung der Gesellschaft, haben aber oft nur ökonomisch dürftige Rezepte zur Lösung bereit. Nicht zuletzt die Nichtregierungsorganisationen, deren Geschäftsmodell darin besteht, überall und jedem ein schlechtes Gewissen zu machen.

Was als Folge davon im Seelenhaushalt der wachen, aber für das Sentimentale anfälligen Zeitgenossen zu beobachten ist, ist eine seltsame Verschiebung: Mitgefühl und Anteilnahme, normalerweise für die engere Umgebung reserviert und anthropologisch vielleicht nur in begrenzten Mengen verfügbar, werden auf eine abstrakte Weltgemeinschaft übertragen, wobei sie an Kontur und Substanz verlieren. Sie werden zu einem fahrigen Engagement für alles und nichts, das umso besser funktioniert, je weiter weg sich die Objekte der Empathie befinden und je weniger man sich konkret bemühen muss – Fernstenliebe (Nietzsche), die nichts kostet. Eine Zuspitzung dessen, was Hegel mit mildem Spott „das Herzklopfen für das Wohl der Menschheit“ nennt und im Kern der neuzeitlichen Gesellschaft ansiedelt, zugleich aber in Verbindung bringt mit dem „Toben des verrückten Eigendünkels“. Was den Weltenrettern zu denken geben sollte.

Wie nun sich verhalten zu einem Phänomen, das tief ins System der modernen Massenmedien reicht? Wie anders als mit einer bewussten widerständigen Skepsis, die die Impulse des Herzens einer kritischen Prüfung unterwirft! Vorsicht also, wenn öffentlich von Anteilnahme und Mitgefühl mit dem Elend der Welt die Rede ist, höchste Vorsicht aber, wenn man, mit welcher Absicht auch immer, auf der Klaviatur der Gefühle spielt, um Anteilnahme und Mitgefühl zu erzeugen, sei es in Redaktionen, in politischen Talkshows oder von Kanzeln herab.

Dieser Text erschien in der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erhalten.

 

 

 

 

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