Deutsche Wiedervereinigung - „Wir können Transformationen nicht ausweichen“

Die Autorin und Journalistin Cerstin Gammelin hat ein Buch über den Osten geschrieben und darüber, welche politische Macht in ihm schlummert. Der Ostbeauftragte der Bundesregierung Marco Wanderwitz hat es rezensiert und macht „gelungene und schwierige Passagen“ darin aus.

Ein Schild erinnert kurz vor der Werrabrücke hinüber nach Großburschla in Thüringen an die Deutsche Teilung / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Marco Wanderwitz ist CDU-Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Chemnitzer Umland – Erzgebirgskreis II, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium und Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Bundesländer.

So erreichen Sie Marco Wanderwitz:

Anzeige

Dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands legt Cerstin Gammelin, gebürtige Sächsin, eine regelrechte Streitschrift über ein neues Selbstbewusstsein zwischen Ostsee und Vogtland vor. Gut, dass wir mit dem Doppeljubiläum 30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit so viel über diesen Themenkreis sprechen! „Die Unterschätzten“ ist ein interessanter Beitrag dazu. 

Im Wahljahr 2021 werden jene Parteien erfolgreich sein, so Cerstin Gammelin, die die Menschen im Osten und ihre Transformationserfahrungen ernst nehmen. Die Bundestagswahl werde demnach nicht im Osten gewonnen, könne aber hier verloren werden. Das stimmt, denn wenige Stimmen könnten entscheidend sein, wenn rechnerisch mehrere Koalitionen möglich sind oder die Mehrheiten knapp ausfallen. In NRW allein leben freilich deutlich mehr Menschen als in Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zusammen. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff hat zur Landtagswahl im Juni jedenfalls gerade erst vorgemacht, wie es für die CDU in den neuen Ländern geht.

Reflexion gesellschaftlicher Umbrüche

Sehr gelungen finde ich die Passagen, die persönliche Erfahrungen mit den gesellschaftlichen Umbrüchen schildern und reflektieren – weil wir gegenwärtigen und künftigen neuen Transformationen nicht ausweichen können; wie auch den Hinweis, dass eine solche Umbruchskompetenz bei allem Erfolg nicht neue Lust am Wandel auslöst, sondern „nur“ eine bessere Voraussetzung ist, mit Herausforderungen umzugehen. Wohl wahr!

Eine Diskussion über die Weichenstellungen der Wiedervereinigung gehört mit hierher, wenngleich ich manche Forderung Gammelins nicht teile. Hätten die neuen Länder und Berlin im Bundesrat statt 26 eine Stimme mehr von insgesamt 69, wäre dies die gewünschte Sperrminorität. Doch ein gutes Drittel liegt schon so deutlich über dem Bevölkerungsanteil von knapp 17 Prozent, dass das keine Option ist.

Akzeptanz in der Bevölkerung

Schwierig finde ich die Passagen, bei denen geradezu generell der Eindruck entsteht, die Treuhand hätte die DDR-Betriebe unter Wert veräußert, den Erlös der Bevölkerung vorenthalten und es seien wettbewerbsfähige Unternehmen von der Konkurrenz aus dem Westen ausgeschaltet worden. Die DDR-Wirtschaft und -infrastruktur in Gänze war bei allen einzelnen Gegenbeispielen und Positivausnahmen so marode, dass sie von Grund auf neu aufgebaut werden mussten – gerade das war ja das Problem. Und der Aufbau ist in Summe mit Erfolg geschehen. Und ja, es gab auch Glücksrittertum und unternehmerisch beziehungsweise volkswirtschaftlich nicht gelungene Entscheidungen.

Im Kapitel „Eigentum“ plädiert die Autorin sehr zutreffend für eine Stärkung im Bereich Wohnen als eine Möglichkeit, die ökonomische Mündigkeit von Bürgerinnen und Bürgern zu steigern. Mehr Unternehmertum ist ebenfalls wünschenswert, auch mit gemeinschaftlichen Zwecken von Wohnungsbau, Energie, Handel oder Gastronomie. Die Verbindung mit der zeitlosen genossenschaftlichen Idee gefällt mir sehr gut.


Noch heute vorteilhaft können die demokratischen Erfahrungen von 1989/1990 sein, zum Beispiel die mit Bürgerräten, Runden Tischen oder Bündnissen. So lässt sich politische Beteiligung erhöhen und die repräsentative Demokratie stärken. Das ist ein sehr spannender Bereich, sind die politischen Akzeptanzdefizite im Osten doch noch immer höher als in der alten Bundesrepublik.
 

Cerstin Gammelin: Die Unterschätzten. Wie der Osten die deutsche Politik bestimmt. Ullstein, Berlin 2021. 304 Seiten, 22,99 €

 

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

Sie sind Cicero-Plus Leser? Jetzt Ausgabe portofrei kaufen

Sie sind Gast? Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige