Man sieht nur, was man sucht - Ach, Friedrichstraße! Ein Abgesang auf die Flaniermeile

Nicht nur Geschäfte und populäre Gasthäuser gab es an der Friedrichstraße; hier wurde auch gewohnt. Doch wo damals Grimms Zigarrenladen war, gibt's heute den Coffee to go im Little Green Rabbit. Und wo dereinst das Warenhaus Quartier 205 von Ungers lockte, finden sich heute Firmenbüros und Luxusapartments. In der Friedrichstraße ist das umtriebige Berliner Leben längst erloschen.

Der Fotochromdruck der Kreuzung Friedrichstraße und Unter den Linden, um 1890/1905, stammt möglicherweise von Julius Staudt / United States Library of Congress
Anzeige

Autoreninfo

Beat Wyss hat an zahlreichen internationalen Universitäten gelehrt. Er hat kontinuierlich Schriften zur Kulturkritik, Mediengeschichte und Kunst veröffentlicht. Beat Wyss ist Professor an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe.

So erreichen Sie Beat Wyss:

Anzeige

Die Fußgänger quellen auf die Fahrstraße, noch können sie Schritt halten mit dem Verkehr auf Rädern. An der Kreuzung Unter den Linden macht eben eine Pferdebahn Station, das öffentliche Verkehrsmittel quer durch die Reichsmetropole zu den gründerzeitlichen Neubauquartieren in Kreuzberg. Fürs dickere Portemonnaie fahren Droschken, wohin der Fahrgast wünscht, zum Taxitarif. Der neueste Schrei ist die dreirädrige Fahrradrikscha, Kolonialimport aus Südostasien. Doch den Vogel futuristischer Fortbewegung schießt seit 1882 der Schienenverkehr ab: Dort, wo fern sich die Menge zum grauen Gewölk knäuelt, donnern Lokomotiven auf der Stahlbrücke beim Centralbahnhof Friedrichstraße quer über Köpfe und Kutschen. 

Nein, bei dem Gewimmel auf beiden Bürgersteigen wäre definitiv kein Platz für Touristen, die lässig auf Liegestühlen abhängen möchten. Schleunigst wären damals Faulpelze in kurzen Hosen, bloßen Armen, tätowiert wie Zuchthäusler, draußen herumsaufend am helllichten Tag, vom Schutzmann in schwarz glänzender Pickelhaube abgeführt worden. Der Herr von Welt trug Anzug und Hut, getrunken, und das nicht zu knapp, wurde in Lokalen, von denen Berlins Amüsiermeile überquoll.

Ein Anziehungspunkt war das stadtbekannte Hotel und Café Victoria an der Kreuzung Unter den Linden, das seit später Vormärzzeit bis 1918 bestand. Das Etablissement zollte dem beliebten Wiener Kaffeehausstil Tribut mit reichhaltigem Sortiment an Zeitungen, nebst deutschsprachigen auch Journale wie Le Figaro und The Times. Zum Kaffee mit Schuss, dem Pharisäer, gehörte die Zigarre, für die Paul Grimms Tabakgeschäft, dem Victoria gleich gegenüber, erste Adresse war. 

Wohnen und Gewerbe

Im Stockwerk darüber hatte Julius Staudt sein florierendes Fotoatelier; gut möglich, dass unser Fotochromdruck einer Aufnahme von Staudt entstammt, sein Reklameschild an der Fassade wäre so gleichsam Signatur dieses Lichtbilds. Im Rücken unserer Blickrichtung darf das legendäre Café Bauer nicht unerwähnt bleiben, an der Straßenkreuzung dem Victoria direkt gegenüber, wo seit 1936 das neoklassische Haus der Schweiz steht. Das Bauer konnte mit einem Damenzimmer punkten, reserviert für Frauen zum Kaffeetrinken und Zeitungslesen, unbehelligt von Männern, die meinten, bei jeder unbegleiteten Dame handle es sich um die frivole Tippmamsell auf Freiersfüßen.

 

Zum Cicero-Podcast mit Architekt Hans Kollhof:

 

Nicht nur Geschäfte und populäre Gasthäuser gab es an der Friedrichstraße; hier wurde auch gewohnt. In der Häuserschlucht standen zwischen den fünfgeschossigen Mietpalästen noch schlichte zweistöckige Bauten aus der Biedermeierzeit, der ersten Phase der Stadterweiterung. Kinderreiche Familien und kleine Gewerbetreibende hielten hier dem Großstadttrubel stand. 

Die heutige Friedrichstraße

Erloschen ist inzwischen das umtriebige Leben in diesem Quartier. Die Teilung Berlins nach dem Zweiten Weltkrieg machte die Friedrichstraße zur Sackgasse. Der Checkpoint Charlie auf Höhe Zimmerstraße trennte den amerikanischen vom sowjetischen Sektor, die Lebens­ader zu Kreuzberg war unterbrochen. In den 1980ern plante die Hauptstadt der DDR, den Straßenzug neu zu beleben; Architekt Manfred Prasser, der auch am Palast der Republik beteiligt war, leitete den Neubau der Friedrichstadt-Passagen.

Als 1990 die Mauer fiel, wurde das Projekt Ost umgehend gestoppt. Ein Investorenwettbewerb war jetzt auszuschreiben, den – wen wundert’s? – die Star­architekten Ieoh Ming Pei, Jean Nouvel und Oswald Mathias Ungers gewannen. Peis Quartier 206 im hybriden Art-déco-Stil musste 1997 zwangsversteigert werden, da die Edelmarken Gucci, Yves Saint Laurent und Louis Vuitton sich als Mieter zurückzogen.

Konkurs ging auch das Warenhaus Quartier 205 von Ungers: Es beherbergt heute Firmenbüros und Luxusapartments. Noch kränkelt Nouvels Glasbau der Galeries Lafayette als Warenhaus vor sich hin, ist aber kürzlich vom selben amerikanischen Investor gekauft worden, der schon die zwei anderen Berliner Prestigeruinen erwarb. Die Friedrichstraße ist keine 5th Avenue geworden. Doch dem neuen Besitzer gehört auch das Rockefeller Center in New York. Und das steht an der 6th Avenue. Touris in Bermudashorts beleben heute die Friedrichstraße. Den Coffee to go gibt’s im Little Green Rabbit, wo mal 
Grimms Zigarrenladen war. Hier stehen auch die Liegestühle zum Loungen.

 

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

Sie sind Cicero-Plus Leser? Jetzt Ausgabe portofrei kaufen

Sie sind Gast? Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige