Malerin Cornelia Schleime - Schneewittchen im Glaskasten

Die Malerin Cornelia Schleime macht aus Einsamkeit Kunst. Nun würdigt ein Dokumentarfilm sie und zwei weitere frühere Undergroundkünstlerinnen der DDR: „Rebellinnen – Fotografie. Underground. DDR.“ läuft am morgigen Donnerstag in den deutschen Kinos an.

Cornelia Schleime ist eine der Protagonistinnen im Dokumentarfilm „Rebellinnen – Fotografie. Underground. DDR.“ / dpa
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Autoreninfo

Andrea Hanna Hünniger, geboren 1984 in Weimar, ist Journalistin und Buchautorin.

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Mit sechs Jahren lag Cornelia Schleime mit einem Leistenbruch im Krankenhaus Berlin-­Buch. Eines Nachts bekam sie plötzlich hohes Fieber: Scharlach. Man schob sie aus dem Zimmer, das sie mit zwölf anderen Kindern teilte. In eine Besenkammer, erzählt sie. Diese Nacht muss sehr dunkel gewesen sein. Am nächsten Tag lag sie auf der Isolierstation in einem Glaskasten. Wie Schneewittchen in ihrem durchsichtigen Sarg.

„Ich hatte nichts als eine Wand mit Rissen“, erinnert sie sich. „In die hinein habe ich dann Figuren und Bilder imaginiert.“ Diesen Glaskasten hat Cornelia Schleime nie ganz verlassen. Und die Risse, in die sich ihr Kopf Figuren, ja das Leben gemalt hatte, wurden in diesen einsamen Wochen bereits zu ihrem Lebensthema. Denn durch Risse kann frische Luft in den Mief dringen. Und Licht. 

Im Konflikt mit der DDR-Führung

Es wurde fast ein halbes Jahr, das sie in der Klinik verbringen musste. In diesem halben Jahr wurde der Glaskasten für sie zum Schreckens-, aber auch zum Sehnsuchtsort. „Als mich meine Eltern abholten“, sagt sie, „wollte ich eigentlich wieder zurück in diesen Glaskasten.“

Doch bald merkte sie, dass sie immer noch in einem Glaskasten wohnte: in der luftdicht abgeschlossenen DDR. Und wieder malte sie sich im Kopf die Risse aus. So kam sie zur Kunst.

Am 3. November läuft jetzt der Film „Rebellinnen – Fotografie. Underground. DDR.“ in den Kinos an. In der Doku kommen endlich drei der einflussreichsten Undergroundkünstlerinnen aus der DDR zu Wort: Tina Bara, Gabriele Stötzer, Cornelia Schleime. Schleime ist der Star des Trios: Museen in Berlin, Dresden, Los Angeles, Den Haag und Athen sammeln ihre Arbeiten. In diesem Jahr zeigt das Kunsthaus Apolda Avantgarde eine Ausstellung mit mehr als 100 Werken. Im März 2023 zeigt die Städtische Galerie Dresden eine Retrospektive.

Im Glaskasten DDR lernte Schleime Friseurin und Maskenbildnerin, arbeitete als Pferdepflegerin. 1975 begann sie ein Studium an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden. Sie nahm an systemkritischen Ausstellungen teil, gründete mit anderen Künstlern eine Punkband, inszenierte ihren Körper in expressiven Aktionen, die sie fotografisch dokumentierte. Bald stieß ihre Experimentierwut an die Scheiben des Kastens: Ab 1981 hatte sie faktisch Ausstellungsverbot.

Eine von wenigen

Sie stellte einen Ausreiseantrag, und 1984 konnte sie die DDR verlassen. Doch bis dahin musste sie lange warten – und beschloss, „meinen psychisch desolaten Zustand in Super-8-Filme zu transferieren“. Es machte für sie keinen Sinn, „die Bude“ mit Bildern vollzustellen, wo sie doch auf gepackten Koffern saß. Diese Filme sind nach langer Zeit erstmals wieder in der Dokumentation zu sehen. Sie sind die einzigen Werke, die sie aus der DDR retten konnte. 

In West-Berlin angekommen, lebt sie mit ihrem Sohn von drei Mark pro Tag. Und beginnt, die erlebte Enge zu kompensieren – in riesigen, fast uferlosen Bildern, 2,5 mal 2,5 Meter. Gemalt mit Schellack und Asphaltlack. „Es geht mir immer um Haptik und Sinnlichkeit. Und dass man nicht gleich ablesen kann, welches Material ich genutzt habe.“ 

Zu diesem Zeitpunkt, knapp sechs Jahre vor dem Fall der Mauer, sind DDR-Künstler im Westen hochwillkommen. Sie sind die Exoten, die Geretteten, die Anderen. Und: Sie sind nur wenige. Auch deshalb findet Cornelia Schleime schnell Galerien, stellt aus. Den zurückgebliebenen Kollegen vermittelt ihr Erfolg das trügerische Bild, der Westen sei ein Schla­raffenland auch für Undergroundkünstler. Der Schock wird wie ein Blitz in den 1990er-Jahren einschlagen: Der Ostbonus hat die Wende nicht überlebt. Bis heute werden Ostkünstler fast ausnahmslos von Galerien im Osten vertreten. 

Sie blüht, wenn alles ergraut

Cornelia Schleime ist inzwischen 69 Jahre alt. Sie hat eine extrem raue Stimme, die, wie sie versichert, nicht von den 50 Jahren Zigarettenrauchen kommt. Ihre Gesichtszüge sind fein und ihre Haare blond wie das frisch getrocknete Stroh auf den Feldern Brandenburgs. 

Dorthin zieht sie sich zurück, weg von den Menschen, in einer umgebauten Scheune, 20 Kilometer hinter Neuruppin. Raus aus dem Glaskasten, rein in einen neuen Glaskasten: Einsamkeit ist für Schleime ein Glück. In dieser Isolation verbringt sie manchmal drei, vier Monate völlig allein und malt. „Wenn es draußen grau und trist ist, blühe ich auf mit der Malerei. Der November ist meine Lieblingszeit. Wo andere Depressionen kriegen würden, ist bei mir Freudentanz.“ 

Aus ihrem brandenburgischen Glaskasten beobachtet Cornelia Schleime die Welt. Und zieht sich mit ihrem optimistischen Pragmatismus doch aus allen Klagegesängen raus: „Wenn alles schön ist, was soll ich dann malen?“, fragt sie. Und wie Schneewittchen im gläsernen Sarg weiß sie, dass auch ein vergifteter Apfel ihr am Ende nichts anhaben kann.

Hier können Sie sehen, in welchen Kinos „Rebellinnen – Fotografie. Underground. DDR.“ gezeigt wird.

 

Dieser Text stammt aus der November-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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